Predigt über Jeremia 23, 16-29 von Wolfgang Ratzmann
23,16

Predigt über Jeremia 23, 16-29 von Wolfgang Ratzmann

Liebe Gemeinde,
diese Sätze des Propheten Jeremia gehören wohl zu den mächtigsten Worten, die sich in der Bibel finden. Da ist wohl keiner unter uns, der von ihnen nicht schon beim bloßen Hören  beeindruckt würde: Propheten, die „Lüge weissagen“; ein Gott, der „nicht nur nahe, sondern fern ist“; ein „Wort wie Feuer“ und „wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“. Es sind gewaltige Worte, die Jeremias hier spricht, Formulierungen, die einem unter die Haut gehen. Und manche unter uns kennen vielleicht außerdem die Vertonung dieser Worte durch Felix Mendelssohn-Bartholdy. In seinem großen Oratorium Elias singt sie der Prophet Elias in einer leidenschaftlich-dramatischen Arie: „Ist mein Wort nicht wie Feuer, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“? Solche Worte, solche Töne, gesprochen oder gesungen, dringen unmittelbar an uns heran und in uns hinein. Denen kann man sich einfach nicht entziehen.
Doch so furios der Prophet mit seiner mächtigen Rede wohl auch uns anrührt und vielleicht sogar begeistert: Ist es nicht nötig, einmal genauer auf das zu hören, was er wirklich sagt? Da ist von einem Gott die Rede, der ein schreckliches Ungewitter auf die Köpfe der Gottlosen niedergehen lassen will und der von seinem Zorn nicht ablassen wird. Da wird für das Wort Gottes das destruktive Bild eines Hammers gebraucht, der Felsen zertrümmert… Was ist das für ein Gott, von dem hier der Prophet redet? Wie verhält sich diese Vorstellung von Gott zu dem Gottesbild, das Jesus in seinen Erzählungen beschrieben hat? Wo ist hier von dem unendlichen Erbarmen die Rede, das der Vater im Gleichnis vom Verlorenen Sohn unter Beweis stellt? Sind zwischen dem Wort Gottes, wie es der Prophet versteht, und dem Evangelium von der Liebe Gottes, wie es uns im Neuen Testament begegnet, nicht Welten? „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“, so heißt es in der Epistellesung dieses Sonntags (1Joh 4,16b). Spricht Jeremias hier als typischer Vertreter des alttestamentlichen Gottesglaubens, der sich fundamental von unserem christlichen Glauben unterscheidet? Zeigt es sich in diesen Worten nicht, dass das Alte Testament das Wort Gottes primär als orientierendes und richtendes Gesetz versteht, während das Neue Testament Gottes Wort vor allem als Trost und Zuspruch der Gottesliebe ansieht? Und wenn das so ist: Was hat dann ein solches Wort uns heute, uns neutestamentlich geprägten Christen, zu sagen?
Auch wenn manche und mancher unter uns solche Gedanken teilt, sollten wir uns ihnen nicht zu schnell  überlassen. Schon das Evangelium dieses Sonntags sperrt sich gegen eine solche Aufspaltung des Wortes Gottes als alttestamentliches Gesetz einerseits und neutestamentliches Evangelium andererseits. Da erzählt Jesus von dem reichen Mann, der üppig gelebt und den armen Lazarus vor seiner Tür permanent übersehen hat. Und er erzählt von der Hölle, in der der Reiche nach seinem Tod Qualen leidet und von der Kluft zwischen der der Gotteswelt, zu der nun Lazarus gehört, und dem Ort der Qual, an dem sich der Reiche befindet. Auch im Neuen Testament stehen offenbar Geschichten, die uns eher „alttestamentlich“ vorkommen müssten, wenn man schon so unterscheidet, Geschichten, die Jesus ebenso erzählt hat wie die vom Verlorenen Sohn. Was aber dann?
Nein, bei dem mächtigen Prophetenwort des Jeremia geht es nicht um ein museales Gottesbild des alten Israel und um einen Glauben, der uns nicht mehr direkt betrifft. Es spricht uns vielmehr direkt auf unser Gottesbild und unser Verständnis vom Wort Gottes an. Es redet hinein in unser vielleicht schon viel zu fest geprägtes Gottesbild, das dringend Korrekturen braucht, oder in unsere Vorstellungen von Gotteswort und Evangelium, die wieder neu am biblischen Verständnis überprüft und an ihm ausgerichtet werden sollten.
Die Hörer, die Jeremia vor Augen hat, sind uns – trotz des gewaltigen zeitlichen Abstandes von etwa 2500 Jahren – religiös nämlich ziemlich verwandt. Sie suchen im Glauben vor allem Vergewisserung, dass Gott sie und sein Volk vor Unheil bewahrt. Sie können sich Gott nicht anders vorstellen als eine Kraft, die böse Mächte abwehrt – individuell und kollektiv, schlimme Krankheiten und persönliche Krisen ebenso wie politische Feinde des Volkes. Und so hören sie gern auf fromme Männer, auf „Propheten“, die ihnen Wohlergehen und Glück zusagen. Jeremia ist für sie ein unverständlicher Störenfried mit einer höchst fragwürdigen religiösen und politischen Meinung, einer, der der Kollaboration mit den Babyloniern, mit den mächtigen Feinden im Osten, das Wort redet und sich dafür auch noch auf Gott beruft.
Auch viele evangelische Christen heute suchen im Glauben vor allem eine Vergewisserung, dass Gott sie in ihrer unübersichtlichen Welt mit ihren Bedrohungen und Gefahren nicht verlässt. Sie, wir, suchen deshalb vor allem Aussagen in der Bibel, in denen uns die Nähe Gottes, seine Begleitung und seine unerschütterliche Liebe  zugesagt wird. Andere Aussagen aus der Bibel überhören wir lieber. Auch unsere „religiösen Ohren“ haben wir mit einem Filter versehen, in das im Wesentlichen nur das hineingelassen wird, das uns in unserem Glauben an den Gott der Liebe, des Schutzes und des Trostes gewiss macht. Menschliches Hören funktioniert ja weithin so, dass man das aufnimmt, was man gern hören will, und dass man das abweist, das dem eigenen Standpunkt widerspricht oder die eigenen Hoffnungen in Frage stellt. Die Fachleute sprechen vom Bedürfnis des Menschen nach „Konsonanz“ – nach Übereinstimmung mit dem, was man schon bisher dachte, nach Bestätigung der eigenen Wünsche und Hoffnungen. Jeder, der sich ein neues Auto gekauft hat, sucht deshalb nach Aussagen, die ihn in seiner Kaufentscheidung bestätigen. Um andere macht er lieber einen Bogen. Wenn man jeden Tag aufs Neue zu hören und zu sehen bekommt, welche furchtbaren Katastrophen sich weltweit ereignen und wie tief Menschen abstürzen können, da ist es verständlich, wenn der Glaube vor allem als Mittel zur seelischen Stabilisierung gebraucht wird und wenn sich dieser Glaube an einem Gott, der die Liebe ist, festklammert. Und wenn so viele Menschen überhaupt keinen Zugang mehr zum religiösen Glauben finden, wie es in unserem Land der Fall ist, dann ist es gut nachzuvollziehen, wenn man sie gerade auf diese eine wichtige Funktion des Glaubens hinzuweisen versucht: dass man in allen Bedrohungen des Lebens auf Gottes Schutz und Liebe verlassen kann, wenn man ihnen sagt: „Es wird euch wohlgehen“, und: „Es wird kein Unheil über euch kommen.“
Doch genau diese Sätze geißelt Jeremias als fromme Lügen der selbsternannten falschen Propheten, als Produkte ihres eigenen Herzens und ihrer eigenen Träume. Gehören wir selbst also zu diesen falschen Propheten mit unserer Art der Verkündigung, wir Pfarrerinnen und Pfarrer? Oder Sie als Gemeindeglieder, wenn Sie mit Ihrer Nachbarin, mit ihren Kindern oder mit ihren Kollegen einmal über den Glauben reden? Was macht die falschen Propheten zu frommen Lügnern? Und wieso ist Jeremia denen gegenüber so gewiss, ein wahrer Prophet Gottes zu sein und nicht seine persönlichen Wünsche und Träume, sondern nichts anderes als Gottes Wort weiterzugeben? Vielleicht sind die Unterschiede zwischen den Propheten und Predigern damals und heute eher psychologisch zu verstehen: die einen sind eben optimistisch veranlagt, die anderen pessimistisch – Schwarzseher wie Jeremia?
Nein, der Unterschied lässt sich nicht psychologisch festmachen, auch wenn selbstverständlich der Glaube eines jeden Menschen und auch eines jeden Predigers ein Stück von seiner Persönlichkeitsprägung  mitbestimmt wird. Einige Kapitel weiter hinten im Jeremiabuch wird beispielsweise geschildert, wie Jeremia in eine dramatische Auseinandersetzung mit einem solchen falschen Propheten namens Hananja gerät. Dieser zerbricht das Holzjoch, das Jeremia seit dem ersten Sieg der Babylonier über Israel zeichenhaft auf seinen Schultern trug, und verkündet der staunenden Menge im Tempel: „So wird Gott das Joch des Königs von Babel zerbrechen. Bald werden alle zurückkommen, die inzwischen in Gefangenschaft geführt worden sind. Und alle heiligen Geräte werden wieder im Tempel ihren Platz haben…“ Jeremia korrigiert in dieser Situation Hananja nicht, sondern sagt: „Amen, so sei es. Der Herr tue so und bestätige dein Wort, das du geweissagt hast“ (Jer 28,6). Jeremia ist kein prinzipieller Schwarzseher. Auch ihm wäre es sehr lieb gewesen wäre, wenn der falsche Prophet recht gehabt hätte und dem Volk viel Leid erspart worden wäre. Aber im Unterschied zu Hananja steht er wie unter einem Zwang, die ganze Wahrheit sagen zu müssen. Er sieht die ganze Wirklichkeit: die politischen Kräfteverhältnisse, das soziale Unrecht im eigenen Land, die Gottesvergessenheit vieler Menschen. Und – was noch entscheidender ist: Er hat Gott noch anders erfahren als Hananja. Auch er weiß, dass Gott sein Volk liebt und dass er ihm nahe ist, weil er mit ihm einen Bund geschlossen hat. Aber diese Nähe Gottes zu seinem Volk ist für ihn kein Prinzip, das Gott ganz auf eine Art Kumpanei mit den Mächtigen festlegen würde, auf passives Stillehalten zu allem und jedem, auf Garantie für Schutz und Segen, gleich was kommt. Jeremia hat erfahren, dass Gott  auch in Distanz gehen kann zu seinem Volk, dass er ihm auch gegenübertreten kann, dass er sich auch zurückziehen und fern sein kann.  
Wer ist Gott? Hat Gott also doch viele Gesichter: einerseits das des liebenden Vaters, andererseits aber auch das des strafenden Herrschers? Einerseits das des Barmherzigen, andererseits das des Gerechten? Nein, es geht allein um den Gott, der – wie es im 1. Johannesbrief heißt – „die Liebe ist“. Aber auch die menschliche Liebe ist kein Prinzip, nach dem zwei Menschen zu ständiger Harmonie, zu ständiger Nähe, zu ständiger gegenseitiger Schonung verpflichtet wären. Eine Liebe, die lebendig ist, entwickelt in sich auch die Kraft zur Distanz, zur helfenden Kritik, zur Korrektur. Ähnlich ist es mit Gottes Liebe. Der Gott, der die Liebe ist, kann dennoch Zorn empfinden. Der Gott, der uns nahe sein will, kann dennoch fern sein. Gott läuft in seiner Liebe dem Verlorenen Sohn entgegen, aber er stellt den Wohlhabenden und Satten auch das Bild vom Reichen Mann und dem armen Lazarus in den Weg. Muss Gott nicht fern sein von den Menschen, wenn sie sich selbst ganz von seiner Bewegung der Liebe und des Erbarmens abwenden? Wenn sie nur an ihr eigenes Wohlergehen denken, aber die Notleidenden vor ihrer Türschwelle ignorieren? Gottes Wort will die Menschen nicht nur bestätigen und trösten, es will sie auch verändern und in die Bewegung der Gottesliebe hineinziehen.
Der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer hat in seinem Buch „Nachfolge“ den Unterschied zwischen der Lehre der falschen Propheten und dem Wort Gottes auf die Formel gebracht, dass die falschen Propheten die „billige Gnade“ verkündigten – Gnade als Schleuderware, die mit leichtfertigen Händen bedenkenlos ausgeschüttet würde, dass aber das Wort Gottes „teure Gnade“ sei, die von Gott durch Christus teuer erkauft worden sei. Billige Gnade sei die Predigt der Vergebung ohne Buße und so die Rechtfertigung der Sünde; teure Gnade dagegen sei die, die den Sünder zur Umkehr und in die Nachfolge Jesu Christi ruft.
Es ist gut, dass wir heute dem Propheten Jeremia mit seinen machtvollen Worten begegnen. Wir brauchen sie als heilsame Korrektur, weil unser Gottesbild oft zu eng und unser Verständnis des Gotteswortes häufig zu harmlos geworden ist. Wir brauchen solche provokanten und fremdartigen Worte, weil wir das Evangelium oft nur noch verkürzt als frommen Trost hören und nicht mehr als Ruf zur Veränderung, als Einladung in die Nachfolge Jesu Christi. Gott selbst schenke es, dass uns diese eindrucksvollen Worte helfen, die Mächtigkeit des Gotteswortes neu sehen zu lernen, eines Wortes, das auch heute wie ein Feuer sein kann und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt.
Amen