Predigt über Jeremia 29, 1.4-7.10-14 von Reinhold Mokrosch
29,1
Predigt zu Jer 29, 1.4-7.10-14
am 21. Sonntag nach Trinitatis, 28. Oktober 2012
 
Liebe Gemeinde!
I.
Unser Predigt-Text heute am 21. Sonntag nach dem Pfingstfest enthält einen Aufruf Gottes an die in Babel exilierten Israeliten, sich dort in der fremden und unreinen Stadt Babel auf  Dauer einzurichten. Als ich zur Predigt-Vorbereitung diesen Text aufmerksam las und auf mich wirken ließ, erinnerte ich mich spontan an zwei Demonstrationen, die ich im Frühjahr dieses Jahres in Israel und in Palästina erlebt hatte. Denn auch dort bekannten die Demonstranten, dass sie sich von Gott aufgefordert fühlten, sich in ihrer Region (im West-Jordan-Land) auf Dauer einzurichten.  Ich werde das gleich erläutern. Aber natürlich muss ich erst unseren Predigt-Text  zu Gehör bringen. Er steht im Alten Testament beim Propheten Jeremia (29, 1.4-7.10-14):
(Text-Lesung)
(mit dem Hinweis, dass Luther den Satz „Suchet den Frieden der Stadt“ mit „Suchet der Stadt Bestes“ übersetzt hat!)
 
II.
Wieso erinnert mich dieser Text an zwei Demonstrationen in Israel/Samaria und in Palästina, die ich selbst miterlebt habe? Im West-Jordan-Land, der sog. West-Bank, welche Israelis auch Samaria nennen, demonstrierten damals Siedler mit der israelischen Fahne und Plakaten mit der hebräischen Aufschrift „Samaria gehört zu Israel. Schluss mit der 2000-jährigen Fremdherrschaft! Wir bringen Frieden/Schalom in diese Stadt“(Was so viel hieß wie „Wir suchen der Stadt Bestes“). Der Grund der Demonstration war ein Beschluss des israelischen Kabinetts, die illegal gebaute Siedlung dieser Siedler gewaltsam wieder aufzulösen. So standen sich diese israelischen Demonstranten und die israelische Polizei gegenüber. Die Siedler argumentierten, dass das West-Jordan-Land uns Israelis gehöre und nur 2000 Jahre von Arabern fremdbesetzt worden sei. Die ganze Geschichte Israels seit David habe sich hier abgespielt. Da sei es ihr Recht, auch hier eine israelische Stadt zu bauen, - auch ohne Baugenehmigung.
Einen Tag später erlebte ich eine Demonstration von Palästinensern im gleichen West-Jordan-Land. Ihnen war von israelischen Behörden mitgeteilt worden, dass sie ihre Häuser räumen müssten, weil sie abgerissen und an ihrer Stelle neue Siedlungen gebaut werden sollten.  In einer großen Demonstration zogen die palästinensischen Bewohner mit ihrer Palästina-Fahne und Plakaten zum Checkpoint. Auf den Plakaten stand „Das West-Jordan-Land gehört uns Palästinensern! Schluss mit den israelischen Ansprüchen! Wir bringen Frieden / Salam in die Stadt!“ (Was so viel hieß wie: „Wir suchen der Stadt Bestes!“) Sie argumentierten, dass kein Israeli hier etwas zu suchen hätte. Allein sie seien hier die rechtmäßigen Bewohner.    
Die israelischen Siedler bezogen sich mit ihrem Plakat, wie sie mir mitteilten, eindeutig auf unseren Propheten-Text Jeremia Kap. 29: „Suchet der Stadt Bestes!“ Und sie fanden es gut, dass Gott die Deportierten damals aufforderte: Nehmt euch Frauen und zeugt Kinder. Denn, so sagten sie mir, ‚viele Kinder haben‘ sei die beste Methode, sich in der West-Bank auszubreiten. -  Ob auch die Palästinenser einen  Bezug zu Jeremia  herstellen wollten, weiß ich nicht. Das wäre unwahrscheinlich gewesen. Aber auch sie argumentierten mir gegenüber: Bevölkerungspolitik ist unsere stärkste Waffe! ‚Mehr Kinder als die Siedler‘, -das wär’s. Damit wollten auch sie  „das Beste“ für ihre Heimat leisten.
III.
Habe ich mich zu Recht an diese beiden Demos erinnert, als ich mich mit dem Jeremia-Text auf diese Predigt heute vorbereitete? Ich möchte uns die Situation von Jeremia vor 2.600 Jahren so deutlich wie möglich vor Augen führen, damit wir entscheiden können, ob es eine Parallele zwischen Jeremias damaliger Aufforderung an die im Exil befindlichen Hebräer, sich in Babel auf Dauer einzurichten und dort zu siedeln, und den Siedlungsansprüchen der israelischen Siedler und den Bleibeansprüchen  palästinensischer Bewohner heute gibt.
Die Oberschicht Israels war von dem brutalen Babylonier-König Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel – was wahrscheinlich mit Babylon / Bagdad identisch ist – deportiert worden, im 6. Jahrhundert vor Christus. Das war grauenhaft. Die Hebräer und Juden wurden in ein „unreines“ Land verschleppt, in dem es keinen Tempel, keine Tora, keine jüdischen Rituale und keinen Talmud, keine Mishna und keinen Midrasch gab. Es war die Hölle. Zwar durften die deportierten Juden dort ihren Glauben leben und ihren Ritus ausüben. Aber das „unreine“ Land war und blieb die Hölle. Der Teufel Nebukadnezar hatte sie dorthin verschleppt.
Aber was berichtet Jeremia von Gott? „Gott spricht: Ich habe Euch nach Babel verschleppt!“ Mein Gott! Gott selbst hat diese grauenhafte Strafe gewirkt. Eine fürchterliche Vorstellung für Juden, - damals und heute. Und noch grauenhafter war ihr Glaube, dass diese Deportierten stellvertretend für andere schuldige Israeliten gelitten hätten. Nicht sie selbst waren schuldig geworden und erlitten Strafe, sondern stellvertretend für andere litten sie Strafe. Sie wurden „Gola“ genannt (Jes 40,2), diejenigen, die stellvertretend für andere leiden (wie der „Leidende Gottesknecht“, Jes 53,4f, und wie Jesus Christus).
Und wozu fordert Gott sie durch den Mund von Jeremia nun auf? Sie sollen ihr Leben im „unreinen“ Babel aktiv gestalten. Sie sollen Familien gründen, Häuser bauen und Gärten anlegen. Ja, sie sollen schon jetzt für die Enkel-Generation sorgen. Unmissverständlich ist damit gemeint: Sie sollen sich mit der einheimischen babylonischen Bevölkerung vermischen und wechselseitig verschwägern. Misch-Ehen und Misch-Familien sind das Gebot der Stunde gewesen. Sie sollten jegliche feindschaftliche Haltung gegenüber den Babyloniern aufgeben und mit ihnen Frieden schließen. Und noch mehr:  Sie sollten für sie und die Stadt, in der sie mit ihnen zusammen leben, beten. Für diejenigen, die sie von Jerusalem nach Babel brutal deportiert hatten, sollten sie beten!  Das klingt nach Feindesliebe!
Aber im Verlauf der Prophetenrede Jeremias kommt nun – Sie werden es bemerkt haben, liebe Gemeinde-Christen – eine Wende: Gott spricht  eine neue Verheißung aus: „Ich will eure Gefangenschaft eines Tages  wenden …und euch wieder an diesen Ort (Jerusalem!) bringen, von welchem ich euch habe wegführen lassen.“ Das ist ein ungeheures Versprechen!  Das babylonische  Exil soll einmal ein Ende haben.  Ja, das Exil ist eine Chance zur Wende. Gott will sein Volk künftig im Frieden leben lassen und ihm kein Leid mehr zufügen.
Widerspricht sich diese Zusage Gottes nicht mit seiner Aufforderung an die Exilierten, dass sie sich in der Fremde aktiv einrichten und zu Hause fühlen sollten?  Ja, das ist ein Widerspruch! Aber er besteht absichtlich: Obwohl die Deportierten die Verheißung haben, dass Gott sie eines Tages aus Babylon befreien und nach Jerusalem zurückführen wird, sollen sie sich dort einrichten und im Frieden mit den Babyloniern zusammen leben.    
Erlauben Sie mir, liebe Gemeinde, dass ich diese Aufforderung Gottes metaphorisch interpretiere: Auch wenn wir erahnen oder gar wissen, dass wir bald sterben und zu Gott zurückkehren werden, sollten wir uns im Alltag immer wieder neu einrichten. Wir sollten leben, solange wir leben! Wir sollten nicht in Passivität und Resignation verfallen, wenn wir erfahren, dass unser Leben bald beendet sein wird.  Freilich: Dieser metaphorische Vergleich hinkt etwas, weil sich die Rückkehr der Israeliten nach Jerusalem nicht mit unserer „Rückkehr zu Gott“ vergleichen lässt. Aber Gottes Aufforderung, dass wir uns immer wieder neu im Leben einrichten sollen, hat Bestand.
Zurück zu den beiden Siedlungs- Demonstrationen in Israel/Samaria und Palästina: Lassen sie sich mit der „Siedlungspolitik“ der Deportierten in Babylon vergleichen?  Ich stelle fest, dass sich alle drei Gruppen, die israelischen Siedler, die Palästinenser und die Deportierten in Babylon, von Gott geführt und beauftragt fühlten. Aber dieses Sich-von-Gott-geführt-Fühlen sah bei den Deportierten doch ganz anders aus als bei den Siedlern und den Palästinensern. Die Siedler und Palästinenser  argumentieren beide, wie ich feststellen konnte: „Gott ist mit uns! Er schenkte uns das Land. Das Land gehört uns!“ Davon konnte bei den Deportierten überhaupt keine Rede sein. Sie nahmen ihr Schicksal von Gott an. Sie gehorchten ihm. Und sie stellten überhaupt keinen Anspruch! Sie sagten auch nicht: „Gott ist mit uns – und nicht mit euch!“ Sondern sie vertrauten auf Gott, dass er sie recht führen werde. Sie kämpften nicht wie Gotteskrieger. Sie übten keine Gewalt aus. Sondern sie überließen Gott den Gang ihres Schicksals.
Ich entdecke noch einen weiteren gravierenden Unterschied: Die Deportierten grenzten sich nicht von den Babyloniern als den Unreinen und Fremden ab, sondern sie vermischten sich mit ihnen, - zum Wohl der Stadt, in der sie lebten! Ihre Bereitschaft zur – ich wage die Worte – Multikulturalität  und Multireligiosität  stiftete Frieden. Davon kann bei manchen Siedlern und Palästinensern heute überhaupt keine Rede sein. Ich betone: bei manchen!  Bei vielen besteht die Bereitschaft zu solchem Frieden in gemischter Gemeinschaft. – Und ich entdecke einen letzten Unterschied: Die Deportierten damals beteten für die Babylonier und für die Stadt, in der sie in Gemeinschaft mit ihnen lebten. Das ist etwas, was wir bei denen, die Apartheit und Abgrenzung bevorzugen, kaum erleben. (Freilich kann ich das nicht mit Gewissheit sagen. Aber ich habe bei den Fanatikern unter den Siedlern und unter den Palästinensern keine öffentlichen Gebete für die andere Seite erlebt.)
IV.
Mein Vergleich der Deportierten in Babylon mit den beiden Demonstrationen,  in Israel/Samaria und Palästina, sollte hervorheben, welche tiefe Glaubenseinsicht wir aus unserem Jeremia-Text  gewinnen können. Ich fühle, dass Gott uns in sechsfacher Hinsicht heute aufruft:
(1)‚Richte dich dort im Leben ein, wo Gott dich hingestellt hat! Gestalte dort dein Leben aktiv, wohin Gott dich geführt hat! Baue Häuser, Gärten und gründe Familien! Das sind Symbole für die Aufforderung: Fühle dich dort zu Hause, auch wenn du dich zunächst nicht zu Hause fühlst! Aber fühle dich nicht zu Hause in Abgrenzung gegen die anderen, sondern im Zusammenleben mit allen anderen!‘
(2)Das gilt auch für den Fall, dass du glaubst, es sei nur noch eine kurze Zeit, die du hier oder dort zu leben hast. Gott möchte, dass du dich einrichtest, wo du lebst.
(3)‚Grenze dich, wie gesagt, nicht von deinen Mitmenschen ab, auch wenn sie dir fremd erscheinen. Lebe freundlich mit ihnen zusammen. Rechne nicht auf, was sie dir Böses getan haben oder noch tun. Rechne nicht deine möglichen Rechte auf. Lebe, wenn es möglich ist, in Frieden mit ihnen zusammen. Übe keine private Gewalt gegen sie aus – weder mit Worten noch mit Taten!‘
(4)‚Bete für diejenigen, die dir Böses tun oder getan haben. Bitte Gott, dass er ihr Herz wenden möge! Und bete für den Frieden in deiner Stadt!‘
(5)‚Suche der Stadt Bestes, - und suche nicht nur dein Bestes. Du hast immer eine Verantwortung in der Gemeinschaft deiner Stadt.‘
(6)Dabei kannst du fest darauf vertrauen: Gott wird dir beistehen und dir den Frieden schenken, den du weitergeben wirst.
Gottes Friede ist höher als unsere Vernunft. Auf ihn sollten wir vertrauen.
Amen
Prof. Dr. Reinhold Mokrosch, Universität Osnabrück, Reinhold.Mokrosch@uni-osnabrueck.de
Perikope
28.10.2012
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