Predigt über Jesaja 11, 1-9 von Jan Grešo
11,1
„Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais  und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN.
Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen  und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.  Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.
Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.“
Diese Worte sind eine Botschaft von der wunderbaren Zukunft. Die Botschaft ist in der Situation gesagt worden, als es schien, dass das gezeichnete Bild kaum je Wirklichkeit werden kann. In dem Wort „Stamm“, Baumstumpf, Wurzel ist der schwierige Hintergrund der Botschaft angedeutet.
Das davidische Königtum ist einmal dem lebenden, immer wachsenden Baum ähnlich gewesen. Dann aber, infolge der schwierigen Schläge, ist nur ein Stumpf daraus geblieben, nur die Wurzel. Darin sind die schrecklichen Katastrophen ausgedrückt, die das Volk Israel getroffen haben: die assyrische, die babylonische Deportation, Vernichtung der Städte, Vernichtung Jerusalems, Vernichtung des Tempels, Untergang des Staatswesens, unaussprechliches Leiden der Menschen. Durch das Lesen der historischen und prophetischen Bücher des Alten Testaments können wir uns darüber eine gewisse Vorstellung machen. Nur ein Stumpf ist von dem ehemals schönen Baum geblieben, nur die Wurzel tief in der Erde.
Und gerade aus diesem Rest, aus dem Stumpf, der ein Symbol der Niederlage ist, soll eine herrliche Zukunft entstehen, „aus dem Stamm Isais soll ein Reis hervorgehen, und ein Zweig aus seiner Wurzel soll Frucht bringen“. Die Frucht ist dann in dieser Botschaft als eine wunderschöne Zukunft mit unübertrefflichen Farben ausgemalt.
Die Leute, denen der Prophet dieses schöne Bild gezeichnet hatte, könnten ihn fragen: Meinst du das im Ernst? Und eine solche ungläubige Frage wäre ganz berechtigt, denn so etwas lässt sich nach der menschlichen Erfahrung nicht erwarten und mit menschlichen Kräften nicht erreichen. Also eine schöne Phantasie ohne irgendeinen praktischen Wert? Aber der Prophet meint diese begeistert, poetisch geschriebene Vorhersage ganz ernst.
Da dies aber mit menschlichen Kräften nicht zu erreichen ist, bleibt uns nichts anderes übrig als hier mit dem Eingreifen Gottes zu rechnen. Ohne Gott wäre es nicht möglich, zu diesem Ziel zu kommen. Zwei Kapitel vorher ist eine ähnliche Hoffnung mit den Worten begründet: „Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.“
Seit diese Vorhersage vorgetragen worden ist, sind Jahrtausende verflossen. Hat sich vielleicht inzwischen das paradiesische Bild des gesellschaftlichen Lebens verwirklicht? Kann man sagen, dass sich die Wahrheit dieser prophetischen Worte bestätigt hat? Wohl nicht im politischen Sinn, nicht im politischen Gebiet.
Nach einer langen historischen Erfahrung, die auch unsere eigene ist, muss man sagen, dass die Menschen durch die Veränderung der politischen, gesellschaftlichen Strukturen grundsätzlich nicht geändert werden. Durch die politischen Umwälzungen kann vielleicht etwas verbessert oder auch schrecklich verschlechtert werden, aber keine politische Revolution hat bisher einen paradiesischen Zustand hergebracht. Wenn der Mensch in seinem Charakter trotz der äußerlichen Veränderungen derselbe bleibt, kann die vom Propheten vorhergesagte wunderschöne Zukunft nicht kommen.
Und ist überhaupt schon ein Reis aus dem Stamm Isais hervorgegangen und hat ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht gebracht? Es gibt zwei Antworten auf diese Frage. Ein Standpunkt sagt: Nein, bisher ist kein wahrer Messias erschienen, wir müssen noch immer auf ihn warten. Die christliche Antwort lautet: Diese prophetischen Worte haben sich in dem Sinn bewahrheitet, dass der Messias schon gekommen ist, nämlich Jesus von Nazareth, aber an der neuen, von dem Propheten gezeichneten Welt wird noch immer gearbeitet. Der Messias Jesus hat die Arbeit an dem Reich Gottes grundsätzlich begonnen, und zwar durch sein Leben, Tod, Auferstehung, durch seine Tätigkeit, Lehre, Botschaft, durch seinen Aufruf zur Nachfolge.
In der Versuchung ist ihm ein Weg der politischen Beherrschung der Welt vorgeschlagen worden, den er aber grundsätzlich verworfen hat. Er wusste sehr gut, dass zum Ziel nur die Veränderung des menschlichen Herzens führen kann, nur die persönliche Erneuerung, neue Geburt. Das kann ein schrecklich langsamer Weg sein, aber gerade diesen Weg hat er gewählt.
Ist er dazu geeignet, die Menschen auf den Weg zu bringen, der zu dem schönen endlichen Ziel führt? Gerade auf diese Frage gibt unser biblischer Abschnitt eine ausführliche Antwort. Wenn wir die betreffenden Sätze in unserem Text lesen, können wir zugleich beobachten, wie sich die Worte der Vorhersage in Jesus Christus verwirklicht haben.
Das Kommen und Wirken des Messias Jesus ist kein isoliertes oder zufälliges Ereignis. Aus der Entscheidung des HERRN sollte er kommen und unter der Führung seines Geistes sollte er wirken: „Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.“
Die Evangelien zeigen, dass Jesus unter der Führung des Heiligen Geistes lebte und wirkte. In der Taufe bekommt Jesus den Geist Gottes. Vom Geist wird er in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Er treibt die bösen Geister durch den Geist Gottes aus. Seine Predigt in der Synagoge in Nazareth beginnt er mit den Worten: „Der Geist des Herrn ist auf mir...“ Auch von allen anderen Taten und Worten von Jesus gilt dasselbe: Er redet und tut alles in der Kraft des Geistes Gottes.
Der Geist, der ihn führt, ist der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates. Von oben kommt seine Weisheit, darum sind alle Entscheidungen, die er trifft, richtig und zuverlässig. Mit vollem Vertrauen können und sollen wir alles annehmen, was er uns sagt und verkündet.
Der ihm gegebene Geist ist zugleich der Geist der Stärke. Seine richtigen Entscheidungen bleiben nicht bloß Gedanken und Worten, sondern er hat die Stärke, sie zu verwirklichen. Seine Wunder und Zeichen sind Äußerungen dieser seiner Stärke. Der Geist Gottes gibt ihm die Stärke, um die schwierige Aufgabe des Kreuzestodes auf sich zu nehmen.
Der ihm gegebene und ihn führende Geist ist der Geist der Erkenntnis und des Furcht des HERRN, sodass er Wohlgefallen haben wird an der Furcht des HERRN.  Das innige Verhältnis von Jesus zu seinem himmlischen Vater, das in allen Evangelien, hauptsächlich im vierten Evangelium bezeugt ist, zeigt, dass diese Worte im Leben von Jesus eine volle Verwirklichung gefunden haben.
Die weiteren Worte des Propheten betonen, dass der Messias die Menschen bis in die Tiefe ihrer Herzen kennen wird und seine Urteile gerecht sein werden. Auch das bestätigt sich in der Tätigkeit von Jesus. Seine Beurteilung von Menschen, Ereignissen, Sachen, Werten ist manchmal ganz abweichend von der der Menschen. Zum Beispiel die kleine Spende einer armen Witwe bewertet er viel höher als die großen Gaben der Reichen. Genauso überraschend ist seine scharfe Kritik an den scheinbar frommen Pharisäern.  Nicht nur in den Tagen seines irdischen Lebens, sondern auch im jüngsten Gericht wird er mit Wahrheit und Gerechtigkeit richten.
Die Erfüllung der Verheißungen Gottes ist fast immer größer, reicher als die wörtlich verstandene Verheißung ahnen lässt. Der Messias Jesus hat vor allem das gebracht, was zur Erneuerung des paradiesischen Zustandes unentbehrlich ist: die Vergebung, Erlösung.
Der aktuelle Zustand des Lebens in der Gesellschaft ist deshalb so sehr abweichend von dem schönen Bild in unserem Text, weil die Menschheit sich von Gott abgewandt, entfremdet hat. Bis dieser Zustand der Sünde andauert, kann sich die schöne Zukunft nicht verwirklichen. Darum ist die Hauptangelegenheit des Messias Jesus die Versöhnung des Menschen mit Gott gewesen. Durch diese erlösende Tat ist die prophetische Vorhersage in unserem Text bereichert und überhöht worden. Diese Gute Nachricht, das ist das Wesentliche, was uns der Messias Jesus gebracht hat.
Dies alles, was in unserem Text von ihm geschrieben ist, sind die Voraussetzungen, die ihn fähig machen, uns, Menschen, dazu zu führen, dass wir etwas von dem schönen Bild in unserem Text verwirklichen können.
Aber wo ist die Verwirklichung der schönen Zukunft, die in unserem Text unübertrefflich ausgemalt ist? Jetzt leben wir Menschen in vielen Fällen wie wilde Tiere gegeneinander. Wann und wie wird die Zeit kommen, dass „die Wölfe bei den Lämmern wohnen … Kühe und Bären zusammen weiden werden … und ein Säugling spielen wird am Loch der Otter …?“ Wir können mit den letzten Worten des Textes antworten: Wenn das Land voll Erkenntnis des HERRN sein wird, wenn sich das verwirklicht, was der Prophet Jeremia vorhergesagt hat: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben ... sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß...“
Dem schönen Bild der Zukunft hat Jesus einen Namen gegeben: das Reich Gottes. Und er hat gesagt: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch“. Er, in seiner Person, mit allem, was er ist und tut, er ist das Reich Gottes. So hat er selbst seine Taten erklärt. Bei einer Gelegenheit hat er Folgendes gesagt: „Wenn ich die bösen Geister durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“  Wir können vermuten, dass er auf dieselbe Weise auch seine anderen helfenden und rettenden Taten charakterisieren könnte. Alle diese Taten waren ein Stück des realisierten Reiches Gottes.
Zu einer ähnlichen Realisierung des Reiches Gottes hat er seine Nachfolger aufgefordert:  „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit…“ Mit seinem Leben, Lehre und Taten, mit seinem Tod und Auferstehung hat er uns befähigt, an dem Reich Gottes in dem Sinn mitzuarbeiten, dass wir in unserer Umgebung, Familie, Beruf, Schule, Funktion, ein Stück des Reiches Gottes verwirklichen.
Der Messias Jesus hat uns zu beten gelehrt: „Dein Reich komme“. Nur Gott kann das Reich Gottes im vollen und endgültigen Sinn zu Stande bringen – deswegen beten wir. Aber der Messias hat uns dazu berufen und uns die Fähigkeit gegeben, etwas von der schönen Zukunft hier und jetzt zu realisieren, und morgen wieder, und so weiter, jeden Tag.
Das Kommen des Messias ist so wichtig, dass es ganz und gar berechtigt ist, diesem Ereignis Festtage zu widmen. Die Weihnachtstage sind eine gute Gelegenheit sich darin zu üben, auf eine neue, der endgültigen Zukunft entsprechende Art und Weise zu leben. Amen.
 
Perikope
26.12.2012
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