Predigt über Jesaja 12, 1-6 von Christian Stasch
12,1
 
Liebe Gemeinde,
  
  am Steinhuder Meer, an dem ich wohne,
  komme ich ins Staunen.
  Denn dort singen sie,
  nicht nur am Sonntag Kantate,
  und sie flöten
  und rufen,
  und zwitschern,
  und piepen,
  und schnarren.
  
  Die Chormitglieder sind, um nur mal 15 zu nennen:
  die Lach-, Sturm-, Silber- und Mantelmöwen,
  die Uferschnepfen und Weißstörche,
  die Blassgänse und Feldlerchen,
  die Kiebitze und Austernfischer,
  die Graureiher und Tafelenten,
  die Tüpfelsumpfhühner und die Großen Brachvögel,
  oder auch – hier hört man die Musik schon im Namen:
  die Teichrohrsänger.
  
  Nicht nur über diese Vogelwelt und den Vogelgesang staune ich.
  Ich staune auch über die Naturfreunde.
  Sie stehen am Wegesrand, Blick auf die Feuchtwiesen,
  zwischen Winzlar und Mardorf, Naturschutzgebiet.
  Stehen da mit großen Ferngläsern, mit teuren Spiegelreflexkameras.
  Mit dem Handy knipsen wäre sicher ehrenrührig.
  Sie stehen da stundenlang, in großer Ruhe.
  Sie gucken etwas befremdet,
  wenn jemand nur schnell mit dem Fahrrad da lang brettert oder gar stampfend um das Steinhuder Meer herum joggt.
  Nein. Sie stehen und schauen, und warten, auf eine Bewegung, auf ein gutes Motiv.
  Freuen sich an den Vögeln, ihrem Flug, ihrem Singen.
  Konzentriert, selbstvergessen, meditativ.
  Sie schöpfen daraus Kraft, so als würden sie Wasser aus einer Quelle schöpfen.
  
  Kantate – Singet.
  Am diesem Sonntag Kantate ist uns ein Text aus dem Prophetenbuch Jesaja an die Hand gegeben.
  Eine Art Psalm. Genauer: Ein vor Freude quellendes Dank- und Loblied.
  
  Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR, dass du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.
  
  Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.
  
  Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsquellen.
  
  Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
  
  Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen!
  
  Jauchze und rühme, du Tochter Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
  
  Drei kurze Bemerkungen zu diesem Jesaja-Lied.
  1. Jesaja spricht hier eigentlich gar nicht selbst zu Gott, Z.B. „Gott ich danke dir“, sondern er ermuntert andere zum Danken:
  „Danket dem Herrn. Lobsinget dem Herrn. Jauchze und rühme, du Tochter Zion.“
  Wir kennen diese ermunternde Redeweise aus einem Adventslied: „Tochter Zion, freue dich“.  
  
  2. Jesaja sagt nicht: Danket und lobsinget dem Herrn jetzt, auf der Stelle.
  Fast so, als ob seine Zuhörer jetzt im Moment gar nicht danken könnten, vielleicht zu erschöpft sind, zu eingeschüchtert, zu traurig.
  Jesaja richtet den Blick deshalb auf die nahe Zukunft:
  „Dann wirst du sagen“ – „Ihr werdet sagen zu der Zeit.“
  So ist dieses Danklied des Jesaja auch ein Stück Zukunftsmusik.
  
  3. Vielleicht haben Sie, liebe Gemeinde, etwas gestutzt über den Ausdruck: Zorn.
  Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR, dass du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.
  Als dieser Jesaja-Psalm entsteht, der sich nicht an eine Einzelperson richtet, sondern an ganz Israel, da hat Israel gerade seinen Mittelpunkt, seinen Tempel, seine Eigenstaatlichkeit verloren, ist zerrieben worden von den übermächtigen Babyloniern. Israel muss diese schlimme Niederlage verarbeiten, auch theologisch verarbeiten: Und so entsteht der Gedanke: Nicht Gott hat versagt, sondern wir, das Volk Israel, weil wir immer wieder von Gott abgefallen sind. So hat uns Gottes gerechter Zorn getroffen - und in Zukunft, so hoffen wir, wird Gott uns auch wieder trösten und helfen.
   
  In Zukunft.
  
  Einer dieser schönen Zukunftsverse lautet:
  „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsquellen.“
  Darauf möchte ich etwas ausführlicher schauen:
  „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsquellen.“
  Ich höre dieses Wort als verwöhnter Benutzer von Leitungswasser, dem bestkontrollierten Lebensmittel überhaupt. Wasserhahn auf, fertig.
  In Israel, in Palästina war Wasser knapp, Quellen waren besonders kostbar und konnten auch versiegen.
  Und Jesaja hat hier sogar noch mehr im Sinn: Er spricht von Heilsquellen.
  Da geht es um mehr als nur um Wasser.
  Es geht um alles, was das Leben ausmacht.
  
  Also: Die Quellen und Ressourcen wieder entdecken, einen Zugang zu ihnen finden, zu dem, was unser Leben ausmacht und gut macht.
  Welche wären das genau?
  
  Es gibt Quellen und Ressourcen, die sind materieller Art:
  Ich wohne momentan in einem Neubau, Baujahr 2000, flache Decken. Davor wohnte ich in einem Fachwerkhaus in Einbeck, riesige, aber schwer heizbare Räume. Baujahr 1792. Wie auch immer: Jedenfalls Dach überm Kopf.
  Mein Kleiderschrank ist nicht vollgestopft, aber auch nicht leer. Ich muss nicht nackt herum laufen. Ich hab mein Lieblingshemd, das fast bügelfrei ist, und eine Jeans, die momentan richtig gut sitzt.
  Ich habe Bücher, die ich gelesen habe, die ich gerade lese, oder die ich lesen will – und die ich sogar einfach auch gern angucke.
  Ich hab ein Auto, gebraucht gekauft, vier Jahre alt, unspektakulär, Skoda, aber es tut seinen Dienst und ist nicht zu durstig.
  Das sind einige der materiellen Quellen, für die ich dankbar bin.
  
  „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsquellen.“
  
  Andere Quellen und Ressourcen sind sozial:
  Alle Kontakte, Begegnungen: Meine Eltern, meine Frau, meine Kinder, zwei im Studium, zwei zu Hause, meine Verwandten, meine Freunde, auch wenn wir oft sagen: „Man müsste sich häufiger mal sehen“, meine Nachbarn und Kollegen. Natürlich enthalten alle Kontakte immer auch Konfliktpotential, dennoch machen sie einen letztlich reich und froh.
  Das sind soziale Quellen, für die ich dankbar bin.
  
  „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsquellen.“
  
  Nochmal andere Quellen und Ressourcen sind personal, liegen also auch in meiner Person.
  Ich habe Bildung abbekommen und lerne noch heute dazu. Ich kann meine Muttersprache sprechen, mich verständigen, in anderen Sprachen immerhin mittelmäßig, kann, so gerade so eben, einen Campingplatz auf französisch reservieren. Ich kann den Wasserhahn in Ordnung bringen, Rasen mähen, Wäsche bügeln und eine Pizza selbst backen. Ich kann gespannt auf Menschen zugehen, die ich noch nicht kenne. Ich kann Dinge mit Humor nehmen.
  Für all das bin ich dankbar - wohl wissend, dass ich auch eine ganze Menge eben nicht kann, über so manche personale Quelle nicht verfüge.
   
  „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsquellen.“
  
  Zu den Quellen und Ressourcen gehören schließlich auch die Sinnfragen:
  Dass ich mir bewusst mache: Ich habe mir das Leben nicht ausgesucht und ich habe mir das Leben nicht selbst gegeben. Ich verdanke es anderen.
  Ich bin also nicht ganz der Meister meiner selbst, der Schmied meines Glücks.
  Vieles gibt es einfach so, geschenkt.
  Ich habe die christlichen Glaubensüberlieferungen und Glaubensgeschichten gehört, mitbekommen, habe vieles übernommen, manches bei Seite gelegt, und an manchem knabbere ich immer wieder herum.
  Und ich fühle mich getragen, an glücklichen Tagen und auch wenn es mir schlecht geht, von einer gütigen Macht, die unergründlicher ist als mein eigenes Verstehen.
  
  Das macht mein Leben sinnvoll und ich bin dankbar dafür.
  
  „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsquellen.“
  
  Eine von den vielen Quellen, liebe Gemeinde, muss nun am Sonntag Kantate unbedingt noch unterstrichen werden: das Singen.
  Jesaja sagt:
  Lobsinget dem Herrn.
  Singet.
  Kantate.
  
  Die Vögel vom Steinhuder Meer bräuchten diese Ermunterung nicht, denn die singen sowieso.
  Aber wir können es uns gut gesagt sein lassen,
  in unsere Stimmungsschwankungen und Ängste hinein, die uns manchmal packen.
  Singet. Kantate.
  Singet. Allein, oder mit anderen.
  Singet. Beim Fahrradfahren, beim Duschen, unterm Tannenbaum, im Chor, oder, wie wir hier und heute: im Gottesdienst.
  Ich nehme beim Singen den Mund gern ein wenig voller, denn es sind ja nicht meine eigenen Texte, die ich da singe. Ich muss nicht voll authentisch sein, muss bei den alten Chorälen nicht voll und ganz dahinter stehen, hinter jeder einzelnen Verszeile. Nein, das ist nicht notwendig.
  Aber mein eigener Glaube, der manchmal so klein ist, verdunkelt ist, oder gar nicht da ist, der kann sich bergen in den gesungenen Liedern, und kann dann vielleicht auch wachsen.
  
  Nun lob, mein Seel, den Herren.
  
  Amen.
   
Perikope
28.04.2013
12,1