Predigt über Jesaja 12, 1-6 von Thomas Bautz
12,1
An jenem Tage aber wirst du beten: Ich danke dir, HERR! Denn bist du auch erzürnt gegen mich gewesen, so hat dein Zorn sich doch wieder gelegt, und du hast mich wieder getröstet. (Hermann Menge)
Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR, dass du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest. (Rev. Luther, 1984)
Du sagst an jenem Tag: Ich will Dich loben, Herr, denn Du hast mir gezürnt. Es möge sich wenden Dein Zorn, und Du wirst mich trösten. (Roland Gradwohl)
Fürwahr, Gott (ist) meine Hilfe: Ich vertraue und fürchte mich nicht. Denn Gott, der Herr, ist meine Stärke und mein Lobgesang, und Er war mir zur Hilfe.
Ihr werdet Wasser schöpfen mit Jubel aus den Quellen der Hilfe. Ihr sagt an jenem Tag: Danket dem Herr, ruft Seinen Namen an, macht unter den Völkern Seine Großtaten bekannt, erinnert daran, daß Sein Name erhaben ist!
Spielt dem Herrn, denn Herrliches hat Er vollbracht – bekannt ist dies auf der ganzen Erde. Jauchze und juble, Bewohnerin Zions, denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels!
 
Liebe Gemeinde!
„Loben zieht nach oben, danken schützt vor Wanken.“ „Loben zieht nach oben, klagen lässt verzagen.“
Solche Allgemeinsprüche oder Allerweltweisheiten sind mit dem sehr komplexen Leben, das viel Widersprüchliches mit sich bringt, oftmals nicht kompatibel. Die Dichter des Psalters haben diese innere Haltung umgekehrt: Sie klagen, bringen ihr Leid zur Sprache, bringen es im Gebet vor „Gott“. Und langsam wandelt sich ihre Klage in Lob und Dank.
Dennoch stimmt es, dass für „die jüdische Glaubenslehre“ „das Lob Gottes mit der Tatsache des göttlichen Zorns zusammenhängt“. Auch in bösen Zeiten ist der Mensch „verpflichtet, Gott für das Böse ebenso zu loben, wie er Ihn für das Gute lobt“.
Der heute zu Gehör gebrachte Psalm bei Jesaja, bestehend aus zwei Dank- oder Lobliedern, spricht dies am Anfang (in der Übersetzung des Rabbiners Roland Gradwohl) deutlich aus:
Ich will Dich loben, Herr, denn Du hast mir gezürnt. Es möge sich wenden Dein Zorn, und Du wirst mich trösten.
Wäre es leichter, „Gott“ zu loben und zu danken (das hebräische Wort bedeutet „loben“, „danken“, „bekennen“) für das Gute, das uns geschieht; für Gesundheit, Wohlstand, Erfolg, unsere Kinder, Familie und Freunde? Man sollte es meinen. Aber ich habe da Bedenken und erinnere gern daran: „danken“ kommt von „denken“. Der Zusammenhang wir noch deutlich in dem Satz: „Ich werde daran denken“, als Wort des Dankes (Kluge).
Wie oft denke ich wirklich daran, wofür ich alles dankbar sein kann? Tatsächlich muss ich es mir oft erst ins Bewusstsein rufen. Und dann finde ich jede Menge Gründe, um dankbar zu sein, auch dem Schöpfer gegenüber. Gelobt sei Sein Name (ein sehr häufig wiederkehrender Ruf aus einem jüdischen Gebetsbuch)!
Wenn man so will, kann das Wohlergehen geradezu daran hindern, eine Lebenshaltung der Dankbarkeit und des Lobes anzunehmen. Wie leicht nehme ich etwas allzu selbstverständlich. Ich weiß zwar unterschwellig, dass ich vieles im Leben nicht nur als eigene Leistung verbuchen kann, oder als Normalität betrachten sollte, und dennoch entschwindet es oft meinem Blick, dass mir alles Wichtige und Wesentliche geschenkt wird: das Leben selbst, das Individuelle, Originelle an mir; bestimmte Gaben, Gesundheit, echte Freunde, Familie.
Schlägt der Psalm bei Jesaja deswegen einen ganz anderen Weg ein? „Ich will Dich loben, Herr, denn Du hast mir gezürnt. Es möge sich wenden Dein Zorn, und Du wirst mich trösten.“
Lobpreis, weil „Gott“ gezürnt hat; weil Er (offenbar) einen Menschen mit schwerer Krankheit oder einem großen Unglück geschlagen hat; weil er den Verlust eines geliebten Menschen zugelassen hat. Lobpreis angesichts von verheerenden Katastrophen, die eine Vielzahl von Menschen auf einen Schlag dahinraffen. Solche Ereignisse oder Widerfahrnisse sind doch wahrlich eher beklagenswert als lobenswert.
Manch ein Gelehrter (wie auch Rabbi R. Gradwohl) wagt es, auf die biblische Figur „Hiob“ zu verweisen, der bereits Haus und Hof auf gewaltsame, grausame Weise verloren hatte und nun noch vom Tode seiner Kinder erfährt und der Erzähler ihn sagen lässt:
„Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“ (Hiob 1,21)
Hiob als Vorbild? Der „große Dulder“ (Gradwohl)? Der unerschütterliche Gottesmann?
Ich sehe ihn einmal anders: Was bleibt einem Menschen übrig, der mit der „Gottesfurcht“ aufgewachsen ist? Soll er aufbegehren gegen eine Macht, die stärker ist als Leben und Tod; unberechenbar: voller Erbarmen oder erbarmungslos? Wenn sein bisheriges Leben schon sinnlos geworden und von einschneidenden Verlusten gezeichnet ist; wenn schon Leib und Seele bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind. Muss er sich nicht seinem Schicksal ergeben?
Dann scheint der einzige Sinn nur noch darin zu bestehen, dem übermächtigen Urheber seines Elends zu bekennen, dass er, Hiob, sich dessen bewusst ist, dass er nur eine schwache, elende Kreatur ist, die nur aus lauter Gnade des Schöpfers noch nicht gänzlich dem Verderben, dem Verderber (Satan) ausgeliefert worden ist. Hiob und mit ihm jeder, jede Elende, Schwache muss sich den Dank, das Lob abringen, um wenigstens dadurch seiner gescheiterten Existenz  noch einen Sinn zu verleihen.
Wer diesem Leben am Abgrund nicht trotzen kann. Wen aller Lebensmut verlässt. Wem auf Dauer weder zum Danken noch zum Loben zumute ist. Wer der Verzweiflung Raum gibt. Wer den Vergleich mit den Gesunden und Starken, Strebsamen und Erfolgreichen nicht mehr aushält. Wer sich kaum noch aus dem Haus oder allenfalls nur in die nächste Kneipe traut. Wer sich als besten Freund eine Flasche Alkohol erwählt hat, vorausgesetzt der Mensch hatte eine freie Wahl. Wer schon lange mit einem wie auch immer gearteten „Gott“ gebrochen hat. Wer weder Selbst- noch „Gottvertrauen“ aufbringen kann. Wer all das nicht schafft, dem droht der Suizid. Viele Menschen bringen sich langsam um mit Alkoholmissbrauch, Drogen oder Medikamentenmissbrauch. Und wir sollten uns davor hüten, auf sie herabzusehen oder über ihnen den Stab zu brechen.
Vielleicht hatten und haben wir einfach nur bessere Lebensbedingungen: Selbst wenn eine Kindheit und Jugend nicht so berauschend und glücklich verlaufen sein mag; viele Menschen hatten aber wenigstens eine Bezugsperson, der sie uneingeschränkt vertrauen konnten und von der sie bedingungslos um ihrer selbst Willen geliebt wurden. Viele erfahren auch noch in späteren Lebenskrisen (Arbeitslosigkeit, Scheidung, Tod des Partners oder eines eigenen Kindes, plötzlicher Tod eines Elternteils) Unterstützung durch gute Freunde oder Verwandte.
Es wird zum Glück oder „Gott sei Dank“ nicht jeder Mensch vom Leben, religiös gesagt: „von Gott“, bestraft. Normalerweise fällt es Menschen nicht allzu schwer, dankbar zu sein, allerdings eher für das Gute als das Schlechte, das ihnen widerfährt. Man nimmt an, dass „Dankeslied“ und „Lobgesang“ „die Sprachformen religiöser Grunderfahrung“ darstellen.
Vielleicht kann ich das bestätigen. Während einer schweren Lebenskrise hatte ich öfter bei längeren Dienstfahrten im Auto verschiedene Lieder gesungen: religiöse und profane Lieder. Während ich sang, liefen mir nicht selten Tränen über die Wangen. Hinterher war ich ganz entspannt, ausgeglichen und alles Bedrückende war zumindest vorübergehend gewichen.
Im Grunde ist mein Leben durchdrungen von Bitt- und Dankgebet. Beten, das alles umfasst, und ich finde mich ganz gut wieder in Worten des jüdischen Schriftstellers Elie Wiesel:
„Flehen um Gesundheit und Nahrung, Dank für empfangene und miteinander geteilte Segensfülle, Freude und Traurigkeit des Herzens, Erinnerungen und Klagen, Jubelschreie und unterdrückte Tränen, alle Sehnsüchte, alles Sinnen und Trachten, alle Veränderungen der jüdischen Existenz für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft spiegeln sich wider im Gebet.“
Diese Gebetshaltung aus Dankbarkeit, die Gutes und Böses im Leben integrativ, Positives wie Negatives, beides zusammen aushalten kann, findet sich bekanntermaßen bei vielen Lieddichtern, z.B. bei Paul Gerhardt: „Befiehl du deine Wege …“ (1653), gedichtet während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) oder Dietrich Bonhoeffer: „Von guten Mächten wunderbar geborgen …“ (Silvesternacht 1944/45).
Aber auch ein Kunstmaler wie Vincent van Gogh findet in einer schwierigen Phase der Berufs- und Selbstfindung (1876) zu einer Haltung des Dankes und Lobes:
„Ich weiß, wem ich mich anvertraue,
  Auch wenn dem Tage folgt die Nacht,
  Ich kenn den Fels, auf den ich baue,
  Der irrt nicht, der Dein Heil erharrt.
  
  Einst, wenn zu Ende geht mein Leben,
  Sing ich, von Kampf und Sorgen müd,
  Für jeden Tag, mir hier gegeben,
  Dir höh'res, rein'res Lob im Lied.
  
  Was betrübt Dich, meine Seele,
  Was bewegt Dir bang die Brust?
  Hab wie einst zum Herrn Vertrauen,
  Gottes Lob sei Deine Lust!
  Oft hat er an Dir gehandelt,
  Daß Dein Leid in Glück sich wandelt.
  Wende Deinen Blick nach oben!
  Ich will meinen Schöpfer loben.“
   
Später hat sich van Goghs Religiosität mehr und mehr vertieft, indem er über Leiden, Schmerz, Krankheit und Entbehrung nachgedacht hat und versuchte, ihnen einen Sinn, auch einen religiösen, abzuringen. Wenn er keine Antwort bekam oder keine Lösung sah, widmete er sich lieber seiner Kunst und der Natur, anstatt in Grübeleien zu verfallen.
Überall wo man sich sonntags am Kirchenjahr orientiert, feiern Menschen heute Kantate: Singet; dieser Sonntag dem vorigen: Jubilate, und konsequent folgt nächsten Sonntag Rogate: Betet. In der Tat gehen Jubeln, Singen, Beten in einander über, auch in der umgekehrten Reihenfolge. Das Singen, Vorsingen und Mitsingen, gemeinsam Singen kann uns geradezu anstecken und uns mitunter sogar aus trüber Verstimmung herausholen.
Das Singen kann uns entkrampfen, befreien; singen ist sicher keine Lösung, kein Rezept; aber es vermag uns zu lösen, wo wir uns festgekrallt haben und nicht mehr so ohne weiteres loslassen können. Singen bringt unseren Leib zum Schwingen. Singen lockert Arme und Beine, lässt Brustkorb und Bauch gewissermaßen zu Resonanzkörpern werden. Keine Angst vor falschen Tönen! Je mehr wir uns trauen, den Mund zu öffnen und „vom Herzen“ zu singen, werden wir besser. Natürlich kann uns ein Chorleiter und Organist dabei helfen. Wir müssen keine großartigen Sänger werden, aber wir sollten das Singen nicht aufgeben.
Also: Lasset uns singen, Kantate! Amen.
 
Literatur
Roland Gradwohl: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen 3 (1988), 153-165.
Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe V (2006), 195-200.
Predigtstudien 2012/2013. Zur Perikopenreihe V. Erster Halbband (2012), 248-255: 251ff.
Birte Hansmann: Vincent van Gogh und die Religion (1997).
Vincent van Gogh. Sämtliche Briefe. Band 1. An den Bruder Theo: Ramsgate und Isleworth, April 1876 bis Dezember 1876. Van Gogh: Briefe, Gemälde, Zeichnungen, S. 273-274;
(vgl. Gogh-Briefe Bd. 1, S. 90-91), digitale-bibliothek.de/band142
Perikope
28.04.2013
12,1