Predigt über Jesaja 12 von Rainer Stahl
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Predigt über Jesaja 12 von Rainer Stahl

 
Liebe Leserinnen und Leser,
  liebe Schwestern und Brüder,
  
  ist es überraschend, dass dieses Kapitel Predigttext am Sonntag „Kantate“ – „Singt“ ist? Nein, denn es ist selber ein Lied, das zum Singen auffordert.
  
  Vielleicht zieht es eine schriftgelehrte Summe aus den Aussagen der Sammlung von Worten in Jesaja 1 – 11, auf alle Fälle ist es eine vorformulierte Antwortinszenierung für die gottesdienstliche Gemeinde, die damit auf die gehörten Prophetenworte reagiert.
  
  Auf den ersten Blick erkennen wir die Einleitungen von zwei Abschnitten, beide mit dem Hinweis auf eine kommende Zukunft:
  
              „Und du wirst sagen / und ihr werdet sagen an jenem Tag.“
  
  Wer singt, nimmt die Lösung der Probleme, die Rettung aus Not, nimmt Geborgenheit und Zufriedenheit schon vorweg. Ist ausgerichtet auf die Situation gelingenden Lebens ohne Leid und Mängel. Erlebt Begeisterung und Glück schon jetzt, auch wenn sie oder ihn nach der Chorprobe, nach dem gemeinsamen Singen im Freundeskreis, nach dem einsamen Singen im Wald wieder Probleme und Unsicherheiten überfallen. Eine Stunde des Singens strahlt aus auf die Schwierigkeiten und lässt das Glück von „jenem Tag“ schon ahnen.
  
  Aber hier wird nicht phantasiert. Diese Choraltexte sind bezogen auf den vorliegenden Text des Jesajabuches, mindestens konkret auf die Hoffnung „an jenem Tag“, die ab Kapitel 11, Vers 11 entfaltet wird: Die Verlorenen Judas und Israels werden nach Hause finden. Und dann in der neuen Lebenssituation im eigenen Land, in dem nur noch der eigene Gott Gegenüber aller sein wird, wird dieses musikalische Lob angestimmt werden. Ein richtiges kleines Musikstück mit verschiedenen Akteuren ist gestaltet:
  
  Nach längerem Überlegen muss ich sagen, dass dieses Musikstück aus zwei Liedern besteht. Das erste Lied ist das einer Solistin, eines Solisten:
  
              „Und da wirst du sagen an jenem Tag.“
  
  Das zweite Lied stellt die Antwort der ganzen Gemeinde, das Lied des Chores des Volkes, der Refrain aller in der Synagoge dar:
  
              „Und ihr werdet sagen an jenem Tag.“
  
  Das Lied der Solisten oder des Solisten nimmt ganz bewusst die Schwergewichte der vorherigen Texte ab Jesaja 1 auf, dies sogar vor allem in der Weise, dass in ihm dreimal auf den Namen des Propheten angespielt wird:
  
              „Ich danke dir, Herr,
              dass du mir gezürnt hast,
              dein Zorn sich [aber] wandte
              und du mich tröstest.
              Siehe, Gott ist meine Rettung,
              ich fühle mich sicher und fürchte mich nicht.
              Denn meine Kraft und der Gesang sind dem Herrn, dem Herrn!
              Und er ist mir zur Rettung geworden.
              Dann werdet ihr mit Freuden Wasser schöpfen aus den Quellen der Rettung.“
  
  Zwei Brennpunkte einer Ellipse nehme ich wahr:
  
  Es wird dem Herrn, dem Gott der jüdischen Gemeinschaft, der der einzige Gott überhaupt ist und neben dem es nicht einen anderen Gott gibt (!), nicht etwa gesungen, weil er zornig war, weil er sich abgewendet hatte, weil er sich verborgen hatte, sondern weil er aus seiner Verborgenheit herausgetreten ist, d.h. sich seinen Zorn umwenden, von mir wegwenden ließ, Gott mich getröstet hat. Und das heißt, dass mir Gott effektiv und wirklich geholfen hat. So ist das „Ich“ dieses Liedes zu verstehen, jedes „Ich“ heute – auch mein „Ich“ als Schreiber dieser Predigt –, und nur immer ein „Ich“, das erlebten Trost benennen kann. Dieses „Ich“ bezeugt nicht etwa Vertröstung, sondern wirkliche, die Not gewendete und beseitigte Hilfe Gottes. Darum geht es. Wenn Du, liebe Leserin, lieber Leser, in dieses erste Lied einstimmen willst, suche vorher nach wirklicher Hilfe Gottes in Deinem Leben!
  
  In unserem Lied wird diese Hilfe – der zweite Brennpunkt – mit einem Wort zum Ausdruck gebracht, mit dem bewusst der Name des Propheten Jesaja zitiert wird, bewusst an ihn angespielt wird:
  
  Jeschucah – das singt die Solistin, der Solist.
  Jeschacjahu – so heißt der Prophet.
  
  Worum geht es?
  
  Martin Buber und Franz Rosenzweig verdeutschen interessanterweise mit „Freiheit“.
  Eine Übersetzungstradition sagt hier „Heil“.
  Eine andere schreibt „Hilfe“.
  Eine vierte „Rettung“.
  
  „Rettung“ – das ist für mich der angemessene Ausdruck. „Es rettet der Herr“ – so heißt der Prophet. Und das Lied fasst den Inhalt des Buches dieses Propheten mit eben jenem Begriff zusammen: „Rettung“ – „Gott ist meine Rettung, ich … fürchte mich nicht.“
  
  Mit einem schönen Bild schließen die Solistin, der Solist: Nicht nur sie selbst, nicht nur er selbst haben diese Rettung erfahren und singen von ihr. Nicht nur ich habe Rettung erfahren und singe von ihr. Alle, die ganze Gemeinde, werden dies erleben, so als würden sie – Männer und Frauen (!) – mit Krügen auf den Schultern zu einer Quelle gehen und frisches, gesundes, gutes Wasser schöpfen und nach Hause tragen, ins eigene Leben mit integrieren. Darüber werden sie dann ganz neu werden, neu werden „aus den Quellen der Rettung“.
  
  Mir ist diese Hoffnung auf Rettung ganz wichtig. Sie ist ein Grundton aller Texte und Schriften, die im Dialog mit dem einzigen Gott, dem Herrn, entstanden sind und die für uns Christen „Altes Testament“ sind: Gott reißt aus Bedrängnis, aus Enge, aus Not heraus und führt in Freiheit, in Sicherheit, in Gewissheit, in Freude. Ganz konkret. Nicht allgemein phraseologisch.
  
  Also: Er rettet aus der Krankheit. Er rettet aus der Schuldenfalle. Er rettet aus Konflikt- und Streitsituationen mit Familienangehörigen und Freunden. Er rettet aus selbstverschuldeter Dummheit.
  
  Nie einfach automatisch. Immer durch die Hände helfender Menschen. Manchmal durch deren überraschende Hilfsbereitschaft, mit der sie selbst aber Opfer bringen, wenn sie z.B. mit Geld helfen. Immer über den Weg mühsamer Mediation, der langdauernde und uralte Konflikte und Meinungsverschiedenheiten aufarbeitet. Immer mit meiner eigenen Bereitschaft, Fehler zuzugeben und nicht mehr zu wiederholen.
  
  Durch solche Wege gelingt es Gott, uns zu helfen.
  
  Das kann nun mit dem folgenden Chorlied angeeignet, gesungen und proklamiert werden. Ich stelle mir vor, dass dieser Chor durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer früher Synagogalgottesdienste gebildet wurde. Sie singen und sagen nun alle gemeinsam ihr Lob und nehmen sogleich den Beginn des Liedes der Solistin und des Solisten auf:
  
              „Dankt dem Herrn,
              ruft seinen Namen aus.
              Macht seine Taten unter den Nationen bekannt.
              Erinnert daran, dass sein Name hoch ist.
              Singt dem Herrn,
              denn er hat Großes getan.
              Bekannt werde dies auf der ganzen Erde.
              Jauchze und juble, Bewohnerschaft Zions.
              Denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels.“
  
  Bilden wir diesen Chor! Katapultieren wir uns als Christen bewusst – das dürfen wir (!) – aus dem Kreis der Nationen in den Kreis der Bewohnerschaft Zions, in deren Mitte der Heilige Israels ist! Machen wir vor unseren Mitmenschen und Nachbarn die Taten Gottes bekannt! Erinnern wir, dass es nur Gottes Name ist, der heilig ist – sonst nichts wirklich! Singen wir Gott, weil er „Großes“ getan hat!
  
  Was mag dieses „Große“ sein?
  
  Für unsere jüdischen Schwestern und Brüder, die diese Strophe bis heute und in Zukunft als ihre eigene Strophe singen werden und singen können, ist es das neue Zu-Hause in der alten Heimat.
  
  Was ist es für uns?
  
  Für uns ist es die überraschende Einsicht, dass uns der Glaube zu einem Leben in Identität, in Ausrichtung auf das wirkliche Ziel, in Gelassenheit und Gewissheit hilft! Christin oder Christ zu sein, zu glauben, sich zur Kirche zu halten, das ist ja höchst umstritten. In manchen Regionen unseres Landes mag es noch von gesellschaftlicher Konvention mitgetragen werden, aber eigentlich stellt es ein Wagnis dar, führt es zu Widerspruch in vielem gegenüber unserer Umwelt, kann es zur Vereinzelung führen.
  
  Deshalb ist unsere Gemeinde, zu der wir uns halten – sei es, weil wir in ihr wohnen, sei es, weil wir uns bewusst zu ihr entschieden haben –, so wichtig. Mit ihr zusammen gewinnen wir Bestärkung unseres Glaubens, unseres Christseins!
  
  Lange habe ich nach einem Predigtlied gesucht. Es muss meiner Meinung nach den Chorgesang aufgreifen, also das zweite biblische Lied. Und es muss das Problem aufgreifen, wieso wir aus den Nationen, die aus der Perspektive unseres biblischen Liedes von Gott nichts wissen, doch zu ihm singen.
  
  Das klärt das Lied, das ich gefunden habe. Es nennt den einzigen Grund, den es für uns gibt, in das biblische Lied einzustimmen – nämlich Christus. Und es nimmt überraschenderweise den ganzen Duktus des biblischen Chorstückes auf, denn selber ist es eine Umdichtung von Psalm 117. Es stammt von Joachim Sartorius, der Kantor in Schweidnitz, heute: Świdnica, war. Er hat es 1591 gedichtet, und mit seinen Worten stimmen wir nun in jenen Choral in Jesaja 12 mit ein:
  
              „Lobt Gott, den Herrn, ihr Heiden all,
              lobt Gott von Herzensgrunde,
              preist ihn, ihr Völker allzumal,
              dankt ihm zu aller Stunde,
              dass er euch auch erwählet hat
              und mitgeteilet seine Gnad
              in Christus, seinem Sohne.
  
              Denn seine groß Barmherzigkeit
              tut über uns stets walten,
              sein Wahrheit, Gnad und Gütigkeit
              erscheinet Jung und Alten
              und währet bis in Ewigkeit,
              schenkt uns aus Gnad die Seligkeit;
              drum singet Halleluja.“
  (EG 293).
  
  Amen.
  
  „Und der Friede Gottes,
  der höher ist als alle unsere Vernunft,
  bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.“
Perikope
Datum 28.04.2013
Bibelbuch: Jesaja
Kapitel / Verse: 12
Wochenlied: 243 341
Wochenspruch: Ps 98,1