Predigt über Jesaja 35, 1-10 von Matthias Rein
35,1
I.
  „Das lohnt doch nicht mehr!“
  Ich habe diesen Satz noch im Ohr. Er hat mich damals getroffen. Der Satz war möglicherweise wahr.
  Deshalb wog er schwer.
  Drei Jahre ist es her. Ich saß in der Küche einer älteren Frau, sie war gerade 75 Jahre alt geworden.
  Sie war immer aktiv, hatte ihr Leben lang gearbeitet, vier Kinder groß gezogen, einen großen Garten bestellt, ein großes Haus geführt. Sie war immer unterwegs und sie war  immer motiviert. Und so hat sie viel geschafft und andere mitgenommen.
  Und nun aus ihrem Mund: „Das lohnt doch nicht mehr!“
  Seit zwei Jahren schmerzten die Knie. Physiotherapie, Spritzen, Kuren – alles wurde versucht.
  Die Schmerzen aber nahmen zu. Inzwischen ging sie an zwei Krücken. Jeder Schritt – ein stechender Schmerz. Operation – ja oder nein?  Der eine Arzt sagte so, der andere so. Sie musste sich entscheiden. Die Schmerzen aushalten und nicht mehr gehen können. Oder: Operieren – beide Knie – auch das ein langer beschwerlicher Weg, auch da Schmerzen, Unwägbarkeiten, vielleicht Komplikationen, vielleicht ein Ergebnis, das nicht zufrieden stellt.
  Sie schob die Entscheidung Woche für Woche vor sich her.
  „Das lohnt doch nicht mehr für mich!“ – so ihre Haltung vor drei Jahren.
  Dann aber, nach vielen Gesprächen in der Familie und mit Bekannten, doch der Schritt.
  Die erste Operation – Reha – wieder laufen lernen und auch die zweite Operation, wieder Reha. Dann nach zwei Jahren ein Knochenbruch an anderer Stelle, langes Warten auf Heilung, wieder laufen lernen.
  Und nun nach drei Jahren:
   “Ich freue mich an jedem Tag, dass ich mit meinen eigenen Beinen ohne Schmerzen laufen kann. Jeden Morgen gehe ich eine Runde durch den Garten und wenn ich etwas brauche, kann ich selbst ins Dorf gehen und es holen.“
  „Das lohnt doch nicht mehr!“ – an diesen Satz erinnert sich die Frau, inzwischen 78 kaum noch. Mir hat er sich eingegraben. Ich spreche sie darauf an. „Ja, stimmt,“ so die Frau, „so habe ich damals gedacht. Ein Glück, dass ich mich habe überreden lassen. Ein Glück, dass die Mühen nicht umsonst waren.“
  
  II.
  Das lohnt doch nicht mehr für uns in Israel.
  Wir sind zurück gekommen aus der Vertreibung. Wir waren voller Hoffnung. Zurück in der Heimat – das ist doch einfach schön. Da lebt es sich doch ganz anders. Da geht das Leben doch ganz leicht.
  Aber die Hoffnung hat sich verbraucht.  Alles ist mühsam. Es geht nicht vorwärts, im Gegenteil – es geht immer weiter bergab.
  Es lohnt nicht mehr zu hoffen.
  Und auch von Gott hören wir nichts. Wo sehen wir etwas von seinem Wirken?
  Wo sehen wir etwas von seiner Macht?
  Lohnt es sich zu hoffen?
  
  Die Worte des Propheten Jesaja halten dagegen:
  Die Wüste blüht.
  Die Blinden sehen.
  Die Stummen lachen.
  Die Löwen und Schakale sind verschwunden.
  Die Erlösten ziehen auf breiter Bahn.
  Schmerzen und Seufzen sind vergessen.
  Sie lachen, sie singen.
  Das Leben ist leicht. 
  
  Das hat keiner gemacht. Das hat kaum einer zu träumen gewagt. Das übersteigt die kühnsten Erwartungen.
  Gott handelt. Und er macht die Welt neu.
  In der Natur ist das zu sehen.
  Jeden einzelnen betrifft es.
  Die Gemeinschaft der Menschen erlebt es.
  Alles ist neu, alles blüht, alles freut sich.
  
  Lohnt es sich, auf solches Wunder zu warten, mit solchem Wunder zu rechnen?
  Wird Gott so handeln für mich, für uns alle, für die Welt?
  
  Gibt es Zeichen, die hoffen lassen? Hier, heute, jetzt?
  Mir ist ein solches Zeichen begegnet.
  
  III.
  Ein guter Tag in New York.
  Montag, der 26.11.2012 – ein besonderer Tag für die Millionenstadt New York. Der erste Tag, an dem in New York kein Gewaltverbrechen verübt wird. Niemand wird ermordet, so gibt die Polizei bekannt. So etwas hat es in New York seit Beginn der polizeilichen Berichte nicht gegeben.
  Ein Tag ohne Mord!
  Ein Wunder?  Eine statistische Ausnahme? Ergebnis der Null-Toleranz-Politik gegen Kriminalität?  Laut Statistik geschieht in New York ein Gewaltverbrechen pro Tag. Das werten Stadtverwaltung und Polizei als großen Erfolg. Vor 10 Jahren waren es 6 Verbrechen am Tag.  Die Bürger der Stadt können wieder ohne Angst auf die Straße gehen. Kindergartenkinder müssen nicht mehr üben, sich auf den Boden zu werfen, wenn sie Schüsse hören.
  Die Bürger der Stadt kennen aber auch um den Preis, den sie dafür zahlen. Die Polizei geht rücksichtslos vor, sie wird zunehmend als gewalttätig empfunden. Mit Gewalt antwortet der  Staat auf die gewalttätige Kriminalität. Der Preis für Sicherheit ist hoch.
  Noch sind die Löwen, die Schakale und reißenden Tiere nicht verschwunden. Noch liegen die Lämmer nicht bei den Wolfen. Noch müssen wir darauf achten, dass die Lämmer nicht zerrissen werden.
  Aber manchmal erleben wir, wie es seni kann, wie es sein wird.
  Manchmal, nach dem Arbeit, gehen wir auf schönen Wegen durch Gärten und spüren – ja, so wird es sein. Gott will es so. Und Gott macht es so.
  So hoffen wir, ganz tief drin, trotz der müden Hände und der schmerzenden Knie. Trotz des ängstlichen Herzens.
  So lassen wir nicht los unsere Hoffnung.
  So entdecken wir die Zeichen, die es gibt – für manchen nach drei Jahren Krankheit, für die Millionenstadt New York an einem Tag.
  
  Amen
Perikope
09.12.2012
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