Predigt über Jesaja 40, 1-8 v. Wilhelm von der Recke
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Predigt über Jesaja 40, 1-8 v. Wilhelm von der Recke

I.          Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Diese Worte gehören zu den kraftvollsten Worten der Weltgeschichte. Ihr Echo hallt durch die Jahrhunderte, ja Jahrtausende. Immer wieder ist die Kraft dieser Worte lebendig geworden und sie haben bewirkt, wovon sie sprechen, nämlich die Untröstlichen zu trösten. Der Nachhall dieser Worte erreicht heute uns – hier in dieser Kirche. Wie ein frommer Schauer rühren sie unser Herz an. Doch diese Worte können mehr. Sie können uns anstecken; sie können unsere Sinne aufwecken; sie können unsere Phantasie reizen und beflügeln: Tröstet mein Volk, spricht unser Gott.
II.         Was steht hinter den Worten? Was ist damals geschehen, als der unbekannte Prophet auftrat, der im 40. Kapitel des Jesajabuches zu Worte kommt? – Offiziell gab es damals das Volk, von dem er redet, schon seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Der Staat Juda war von der Landkarte verschwunden, die Oberschicht war nach Babylon verschleppt und dort neu angesiedelt worden. Nur die arme Landbevölkerung hatte bleiben können und stand nun unter fremder Verwaltung. Politisch gesehen gab es das Volk Israel nicht mehr.
Tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Dieser Ruf klingt wie eine Totenauferweckung. Wie die Worte, die Jesus zu dem im Sarg liegenden Jüngling von Nain spricht: Ich sage dir, steh auf. Oder zu dem bereits beerdigten Bruder von Maria und Marta: Lazarus, komm heraus. Und beide folgen seinem Ruf. Unglaublich!
Israel im Norden und der Staat Juda im Süden Palästinas sind nacheinander vernichtet worden, die Nachbarstaaten Assyrien oder später Babylonien waren einfach zu mächtig. Ihnen gegenüber hatten die Zwergstaaten keine Chance, das muss man ganz nüchtern feststellen. Die Propheten des Alten Testaments sahen das anders. Sie sagten: Das liegt nicht an der ungünstigen politischen Lage, dass ihr von den anderen verschluckt worden seid, nein, es war eure eigene Schuld. Ihr seid nicht Opfer, sondern Täter. – Doch was haben sie falsch gemacht? Bei dieser vernichtenden Strafe muss doch auch die Schuld besonders groß gewesen sein?
Wenn man die Berichte darüber liest, lässt sich das nur schwer nachvollziehen. Die Menschen in Israel und in Juda haben so gelebt, wie alle anderen Völker auch. Sie haben sich ganz normal verhalten: Die Politiker haben Realpolitik getrieben – wie zu allen Zeiten. Die Mächtigen haben ihre Beziehungen spielen lassen; die Großgrundbesitzer nahmen wenig Rücksicht auf die kleinen Bauern; die Händler wussten, wie man guten Gewinn macht; die Priester sorgten dafür, dass der Opferbetrieb glatt läuft und Gott und die Menschen zufrieden sind. Sie waren Menschen wie wir, keine ausgemachten Bösewichte – selbst wenn man mal fünfe gerade sein ließ. Die einzigen, die störten, waren diese Miesepeter, die Propheten, die alles auf die Goldwaage legten und in jeder Suppe ein Haar fanden. Auch die gibt es überall, lasst sie doch reden.
Doch gerade sie behielten Recht. Wovor die Propheten gewarnt haben, das ist eingetroffen. So wie kritische Journalisten und politische Beobachter nachher sagen: Wir haben es ja immer gesagt. – Aber das ist nicht der Punkt. Die Propheten berufen sich nicht auf ihre eigene kluge Analyse, sie berufen sich auf Gott, den Herrn der Geschichte. Er hat eine besondere Beziehung zu diesem Volk, und er stellt deshalb auch besondere Ansprüche. Doch für ihn geht die Geschichte mit seinem auserwählten Volk nicht so schnell zu Ende, auch nicht nach dieser totalen Niederlage. Deshalb ist das, was der Prophet in dem Buch Jesaja ankündigt, nicht mehr und nicht weniger als die Auferstehung von den Toten.
Was damals ausgerufen wurde, muss sich so ähnlich angehört haben, wie der Geschützdonner, der im Frühjahr 1945 den Häftlingen in Auschwitz und Buchenwald die Nähe der Alliierten ankündigte: Die Befreier stehen unmittelbar vor der Tür! Daran haben die meisten von ihnen nicht mehr geglaubt. – Es muss für die Menschen so ähnlich geklungen haben wie die überraschende Ankündigung des Zentral-Komitees der SED am 9. November 1989, dass die berüchtigte Mauer ab sofort geöffnet sei. – Damals um das Jahr 540 vor Christus waren die allmächtigen Assyrer längst untergegangen und das Reich der Babylonier wurde gerade von den Persern übernommen. Doch dem kleinen Volk der Juden wird gesagt, dass sie zurückkehren und ihr eigenes Land wieder aufbauen können. Die Großreiche von damals kennen wir nur noch aus den Geschichtsbüchern, Israel gibt es bis heute. Es ist seit dem mehr als einmal auferstanden.
III.        Tröstet, tröstet mein Volk, spricht unser Gott. So wird es heute zu  u n s  gesagt, ja tatsächlich zu uns. Tröstet mein Volk. Unsere Situation ist nicht im Entferntesten vergleichbar mit den am Boden liegenden Resten des Volkes Israels damals. Uns geht es gut, unverschämt gut. Unsere westliche Gesellschaft hat ein solches Maß an Wohlstand und an individueller Freiheit erreicht, wie es sich andere nicht einmal im Traum vorstellen können.
Wenn man allerdings unsere Zeitungen aufschlägt oder Menschen am Telefon klagen hört, weiß man, dass wir noch längst nicht im Paradies angelangt sind. – Was noch schwerer wiegt ist das Gefühl, dass wir den Gipfel des Möglichen bereits erreicht haben. Der Fortschrittsoptimismus ist uns abhanden gekommen. Die ökologischen und ökonomischen Herausforderungen sind zu gewaltig. Auch der Glauben an den moralischen Fortschritt der Menschheit ist ins Wanken gekommen, der Glaube, dass wir immer aufgeklärter werden, immer toleranter und solidarischer.
Ein kluger Mann hat beobachtet, dass bei uns Menschen Verstand und Vernunft weit auseinanderklaffen. Wir schaffen es einfach nicht, das vernünftig umzusetzen, was wir eigentlich ganz gut verstanden haben. Vielleicht würden unsere Wissenschaft und Technik ja ausreichen, um die großen Menschheitsfragen zu lösen. Doch wir bringen es nicht fertig, uns auf vernünftige Vorschläge zu einigen und sie umzusetzen. In diesen Tagen haben wir die UN-Klimakonferenz in Doha am Bildschirm mitverfolgen können. Alle wussten, wie die nächsten Schritte hätten aussehen müssen. Nach langem hin und her einigte man sich auf einen mageren Kompromiss, man verlängerte das Kyoto-Protokoll. Was für ein Selbstbetrug!
IV.       Die Weltlage heute kann man als tragisch bezeichnen, ja als dramatisch. Trotzdem ist unsere Situation – jedenfalls die in unseren Breitengraden –nicht mit der der Juden damals in Babylonien zu vergleichen. Wir sind nicht trostbedürftig, wie es der Prophet damals voraussetzt: Tröstet, tröstet mein Volk, spricht der Herr. Soweit sind wir noch nicht. – Trotzdem sollten wir bei der Anrede aufhorchen: Euer Gott, unser Gott, der sich an sein Volk wendet. Das ist für unsere Ohren ein ungewohnter Ton, selbst für viele von uns Christen.
Dabei sollten wir unseren Gott doch aus einer langen Geschichte kennen. Ein Gott, der brennend daran interessiert ist, was auf dieser Erde passiert; wie sich seine Menschen verhalten; insbesondere wie sie miteinander umgehen – im Kleinen und im Großen. Unser Gott ist kein willfähriger Schutzpatron. Er ist einer, der seine Leute zur Rede stellt, der nicht davor zurückschreckt, gegen sie Partei zu ergreifen, wenn sie sein Wort nicht beachten. Aber eben nur notfalls – lieber greift er zu ihren Gunsten ein.
Ist das wirklich derselbe Gott, an den wir uns heute wenden? Den wir mit unserem Abendgebet für unsere kleinen Wehwehs in Anspruch nehmen; vor dem wir am Sonntag im Gottesdienst häufig nur noch die eigenen seelischen Befindlichkeiten ausbreiten – statt für die Anderen einzutreten, die von schwerer Not und Ungerechtigkeit bedrückt werden?
Ist das wirklich der Gott, den wir uns heute vielfach wünschen. Den wir in unserer Seele suchen, den wir in der Natur aufspüren, den wir in der Tiefe des Seins erahnen? Der Gott, der inzwischen häufig zum Neutrum, zum Göttlichen, herabgestuft worden ist. Das Sakrale und Mystische soll uns wohltun und uns auf geheimnisvolle Weise mit allen Menschen guten Willens vereinen.
Nein, der Gott Israels, der Vater Jesu Christi ist kein Schönwettergott, ist kein stimmungsvoller Kerzenschimmergott. Er ist das große Du. Genauer gesagt: er ist der Jenseitige, Unbegreifliche, der ganz Andere. Und gerade er hat sich für uns erreichbar gemacht und uns das Du angeboten. Als Vater, aber eben auch als Herr – ob uns das schmeckt oder nicht. Das ist euer Gott, sagt der Prophet. Das ist  u n s e r  Gott. Er vereinnahmt uns, aber er lässt sich nicht von uns vereinnahmen – auch wenn wir es gerne umgekehrt hätten.
Der Gott Israels ist ein Gott der Geschichte. Und das ist er auch als der Vater Jesu Christi geblieben. Er ist kein Gott, der jenseits von Zeit und Raum bewegungslos in sich ruht. Er ist ein höchst lebendiger Gott; der mit seinem Volk unterwegs ist; der uns dazwischen redet; der eingreift, wenn es ihm geboten erscheint. Mit ihm ist zu rechnen, wenn auch nicht auf so primitive Weise, wie es manche Atheisten unterstellen, die auf dem Niveau des Kindergottesdienstes stehen geblieben sind.
Unser Gott spricht zu seinem Volk – wer immer dazu gehören mag. Es ist sicher ein sehr großes Volk, und dazu gehören nicht nur die, mit denen wir uns gut verstehen; dazu gehören auch solche, denen wir lieber den Rücken zuwenden.
V.        Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Ja, am Ende wird er sicher so zu uns sprechen, insbesondere, wenn es ein schlechtes Ende nehmen sollte. – Aber der Trost ist kein pauschales Angebot. Zunächst heißt es: Kommt zur Vernunft! Setzt den Verstand ein, der euch mitgegeben worden ist. Nehmt eure Verantwortung wahr. Schaut beherzt über den Tellerrand und seht, wie es den anderen wirklich geht. Fühlt mit ihnen, den Nahen und den Fernen. Und wenn ihr gebraucht werdet, dann seid zur Stelle. Aber streut ihnen nicht Goldstaub und Puderzucker über ihr Elend. Wenn die Bibel von trösten spricht, meint sie, dass wir den anderen spürbar zur Seite springen. – Also, tut etwas, was dieser Welt neue Hoffnung gibt. Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.
 
Hinweis:  Der Predigttext Jes. 40, 1 – 8 sollte vor der Predigt vorlesen werden. Die Predigt greift auf den ganzen Text zurück, beschäftigt sich aber insbesondere mit dem ersten Vers. Dort ist die Rede von einem kollektiven Trost. Das versucht die Predigt aufzunehmen.