Predigt über Jesaja 49, 1-6 von Frank Hiddemann
49,1
1. DAS LAND, DAS NICHT SEIN DARF
„Alle Inseln und Berge auf der Welt befinden sich dort, wo sie von Natur aus hingehören. Bei diesem Land aber war das nicht der Fall. Hier sollte nichts anderes sein als das glatte Meer, über das der Wind ungehindert hinstreichen konnte. Deshalb empörten sich die Elemente, die in ihrer Ordnung gestört waren, gegen das Bestehen dieses Landes und tobten mit aller Macht dagegen. Aber weil die Stürme in einem sinnlosen Wüten von allen Seiten zugleich kamen, hatte sich ein gewaltiger Wirbel gebildet, in dessen Innerem nun der Felsenberg ruhig und geschützt da lag.“
Liebe Gemeinde,
was ist das für ein Land, das den tobenden Stürmen trotzt, ja in ihrer Mitte ruhig da liegt? Es ist das Land, das nicht sein darf. Eine der genialen Erfindungen des jungen Michael Ende aus seinem Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“. Diese beiden, Jim und Lukas, gelangen auf ihren Abenteuerreisen in dieses Land. Ein Land, das in der Ordnung der Welt nicht vorgesehen ist, gegen das sich die Elemente empören.
Ein Land, das nicht sein soll? Wenn wir auf die heutige Landkarte gucken, könnte man meinen, hier sei von Israel die Rede. Ein Land, das in der Ordnung der Welt nicht vorgesehen ist, gegen das sich die Elemente empören, die immer im Sturm stehen.
Auch von unserem Predigttext haben das viele gemeint. Sie haben behauptet Hier ist von Israel die Rede. Andere meinten, es gehe um einen einzelnen Mann. Unser Text aus dem Jesaja-Buch spricht von dieser geheimnisvollen Gestalt, einem ausgezeichneten und viel bekämpften „Knecht Gottes“. Von diesem „Held des Glaubens“ gibt es insgesamt vier Lieder, die auch zusammen gesehen und verstanden werden wollen. Heute geht es um das zweite, in dem der Knecht Gottes, sich über seine Mission klar wird. N.N. list uns die Verse:
[ Lesung Jes 49, 1-6]
Höret auf mich, ihr Gestade, und merket auf, ihr Völker, von fern her.
  Von Geburt an hat mich der Herr berufen,
  meinen Namen genannt vom Mutterschoß an.
  Er machte meinen Mund wie ein scharfes Schwert,
  barg mich im Schatten seiner Hand;
  er machte mich zu glatten Pfeil,
  versteckte mich in seinem Köcher und sprach zu mir:
  Du bist mein Knecht, durch den ich mich verherrliche.
  Ich aber sprach: Umsonst habe ich mich gemüht,
  um nichts und nutzlos meine Kraft verzehrt;
  und doch - mein Recht ist bei dem Herrn
  und mein Lohn bei meinem Gott.
  Nun aber spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht gebildet,
  um Jakob zu ihm zurück zu bringen und Israel zu ihm zu sammeln -
  ja, ich bin geehrt in den Augen des Herrn, und mein Gott ward meine Stärke -,
  er spricht: Zuwenig ist es, dass du mein Knecht sein solltest,
  nur um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Geretteten Israels zurück zu bringen;
  so will ich dich denn zum Lichte der Völker machen,
  dass mein Heil reiche, bis an das Ende der Erde.
2. BILDER EINES LANDES
Mich interessieren zunächst die Bilder. Sie sind stark: Hört auf mich ihr Gestade! - Auch hier geht es ums Meer, um das tosende, damals kein Ferienziel, sondern die Sphäre des Todes, und es geht um die Länder, die jenseits dieses Tosens, dieser Todeszone sind, also ganz ferne Länder. Die Völker von fernher. Der Gottesknecht spricht sie an mit lauter Stimme.
Ein seltsamer Gegensatz zu der Verborgenheit, in der er bisher gelebt hat. Von Mutterschoß an, steht da, ist er ein scharfes Schwert, das allerdings in der Hand verborgen wird, so schleicht sich jemand, mit verstecktem Dolch eben, zum Tyrannenmord. Vielleicht erinnern sie sich an Schillers Ballade „Die Bürgschaft“:
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
  Damon, den Dolch im Gewande:
  Ihn schlugen die Häscher in Bande,
  "Was wolltest du mit dem Dolche? sprich!"
  Entgegnet ihm finster der Wüterich.
  "Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
  "Das sollst du am Kreuze bereuen.
Das Schwert im Schatten der Hand verborgen. So eine versteckte Waffe ist der Gottesknecht. So verbergen heutige Attentäter ihren Sprengstoffgürtel.
Und dann das nächste Bild: Ein Pfeil, der im Köcher bleibt, als der Pfeil für den wichtigsten Job, der letzte tödliche Pfeil. Der letzte Trumpf, den Gott aus dem Schatten seiner Hand zieht, um den letzten, entscheidenden Stich zu machen.
Der Knecht Gottes hat an seiner Verborgenheit gelitten. Das Leben im Köcher hat ihm nicht geschmeckt. Mühe und Plage ist sein Leben gewesen. Und schlimmer noch: nutzlose Mühe und Plage: Ich aber sprach: Umsonst habe ich mich gemüht, um nichts und nutzlos meine Kraft verzehrt.Das ist die schwerste Arbeit, die nutzlose. Schwere Arbeit ist kein Problem, solange der Sinn sichtbar bleibt, solange wir wissen, mit welchem Ziel wir arbeiten, solange wir das Ziel für erreichbar halten.
Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat? (1. Joh 5, 4c) - Wie sieht dieser Kampf aus? Wohl meistens so, dass er gegen Alltagsprobleme gekämpft wird, gegen blöde Zufälle, die normale Mutlosigkeit, die Langeweile der Tage, die so dahingehen. Gegen Scherengeklapper und Seifenschaum wie der Friseur Fusi aus Michael Endes Momo sagen würde.
Aber so geht es den Knechten Gottes, bevor Gott spricht: "Das ist mein Knecht,
an dem ich mich verherrliche." In der Verborgenheit arbeiten, heißt mit der Sinnlosigkeit kämpfen. Gott verbirgt, ist dabei wichtig zu wissen. Ein Land, das man nicht sieht. Ein Land, das seine Zeit bekommen wird, das dann irgendwann auftaucht, an einer Stelle, wo kein Land sein darf - und Stürme entfacht. Und bis dahin Müdigkeit und Zweifel, ein Leben im Köcher, vielleicht für große Aufgaben vorgesehen, vielleicht auch nicht.
3. DIE LOGIK GOTTES
Alle Gottesknecht-Lieder sprechen von der Spannung zwischen der Welt und Gottes Absichten. Sie sprechen davon, wie der Knecht Gottes verkannt wird. Er hatte weder Gestalt noch Schöne heißt es. Er war krank - und wir wähnten, dass Gott ihn gestraft hatte. Aber was wir für eine Krankheit hielten, an der er selbst schuld war, war unsere Krankheit, die er mit seinem Körper – für uns - durchlitten hat, mit Schmerz und Fieberkrampf (Jes 53).
Die Logik Gottes ist nicht die Logik der Welt. Deshalb toben die Stürme um dieses Land, das nicht sein darf. Deshalb empören sich die Elemente, die in ihrer Ordnung gestört sind. Und auch der Knecht selbst, der gerade gehört hat, dass er der Knecht Gottes ist,
kennt die Logik Gottes nicht. "Aha", sagt er, "Ich bin es also, Gottes Knecht; dann werde ich gewiss Israel wieder aufrichten. Verstreut ist es in fremde Länder. Aber bald wird meine Stimme in Israel ertönen. Und sich an eben jene fernen Länder richten, in denen wir bisher zerstreut lebten. Gott ist unsere Stärke. Gott mit uns."
Eine nationalistische Fanfare, die der Knecht da bläst. Es unterläuft ihm im Überschwang. Zu lange im Verborgenen gelebt. Da geht es mit einem durch. Alles was da an geheimen Macht- und Stärkephantasien gepflegt wurde, spült jetzt an die Oberfläche:Ja, ich bin geehrt in den Augen des Herrn, und mein Gott ward meine Stärke! Nun wird auch mein Land wieder stark.
Aber nichts davon oder besser gesagt: anders als gedacht. Nicht das Land wird wieder stark, sondern das Land wird Licht der Welt. Und wer das noch so versteht, dass Israel dann triumphal die Völkergemeinschaft anführt, der wird von  Gottes letztem Satz belehrt: Mein Heil soll reichen bis an das Ende der Erde. Das heißt doch: Friede und Gerechtigkeit sollen sich küssen auf der ganzen Welt.
4. WER IST DER GOTTESKNECHT?
Ist hier von Israel die Rede? Oder vom gekreuzigten Christus? Wer ist dieser Gottesknecht?
Ist hier von Israel die Rede? Nein, denn der Knecht soll ja etwas an Israel tun, es zum Licht der Völker machen, Gottes Gerechtigkeit ausstrahlen lassen bis an die Enden der Erde. Davon ist Israel noch genauso weit entfernt wie wir.
Ist hier vom gekreuzigten Christus die Rede? Nein, ich will ihn mir nicht so uneins mit Gott vorstellen. Höchstens der Mensch Jesus von Nazareth, der wie wir erst nach und nach versteht, was Gott mit ihm vor hat, was der Knecht tun muss und dass er das Leiden nicht vermeiden kann.
Dieser Knecht, der erst verstehen muss, was seine Mission ist, ist in der Situation von allen, die die Welt mit Gottes Augen sehen wollen. Die ungeduldig sind, wann sein Land erscheint und wann das Elend ein Ende nimmt.
5. LEBEN IM KÖCHER
Denn alles, was von Gott stammt, besiegt die Welt.
  Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube. (1. Joh. 5, 4)
Das ist der Vers aus dem Johannesbrief, den wir zu Anfang des Gottesdienstes gehört haben, etwas anders übersetzt. Er leitet uns an, wie ein Leben im Köcher zu ertragen ist, ein Leben im Schatten seiner Hand. Der Glaube ist das feste Wissen darüber,           dass wir jetzt im Verborgenen leben, im Schatten von Gottes Hand. Was er vorhat mit uns und seiner Welt, das wissen wir im Glauben. Mit dem Glauben gehen wir immer wieder gegen die Sinnlosigkeit vor. Der Sieg des Glaubens heißt nicht, dass das Christentum Triumphe feiert, ebenso wenig wie Israel eine Großmacht werden soll, wie der Knecht zunächst wünschte. Der Sieg des Glaubens heißt dass das Christentum anfängt zu leuchten, weil es eine überzeugende Gestalt gewinnt. Licht im Dunkel zu sein - das ist nur ein anderes Bild, sich von der Welt abzuheben. Der Sieg des Glaubens müsste uns selbst verändern. Das hieße dann, das Land erreichen, gegen den die Stürme der Welt sinnlos ankämpfen und das im Inneren der rastlosen Wirbel ruhig und geschützt da liegt.
Amen.
Perikope
30.09.2012
49,1