Predigt über Jesaja 62, 6-12 von Katharina Roos
62,6
Es ist Ferienzeit. Reisezeit.
  Ob irgendjemand hier erwogen hat, nach Jerusalem zu reisen?
  Ich habe so manche  erzählen und schwärmen gehört von diesem faszinierenden Ort.
  Heilige Stadt dreier Weltreligionen. Kaum eine Stadt der Welt vereint auf so kleinem Raum so viele religiöse Stätten, aufgeladen und befrachtet mit all den tiefen Sehnsüchten und Hochgefühlen der Menschen. Juden verehren den Zion und pilgern zur Klagemauer; Christen auf den Spuren Jesu die via dolorosa entlang. Und Muslime wallfahren zum Felsendom, der heute goldglänzend den Tempelberg überwölbt.
  Jerusalem wird gepriesen für seine Schönheit. Und für dieses unvergleichliche Licht unter dem blauem Himmel, das die Häuser aus hellem Jerusalem-Stein leuchten lässt. 10 Maß Schönheit verteilte Gott an die Welt, und 9 Maß davon erhielt Jerusalem. So steht es im Babylonischen Talmud.
  
  Aber Jerusalem ist kein Idyll. Ist bis heute nicht wirklich eine Stadt des Friedens, eher ein Sinnbild für die Unfähigkeit der Menschen samt ihren Religionen, in Frieden miteinander zu leben. Wahrscheinlich ist kaum ein Zentimeter Boden in Jerusalem, der nicht irgendwann im wechselvollen Lauf der Jahrhunderte getränkt worden wäre mit dem Blut all der Kämpfer und Kreuzritter und Soldaten und Attentäter und religiösen Fanatiker. Und auch der sogenannten unschuldigen Opfer, Menschen wie du und ich. Ob sie nun das Pech hatten, von den siegreichen babylonischen Truppen des Großkönigs Nebukadnezar um ihr Leben gebracht zu werden. Oder von der Bombe am Gürtel eines Hamas-Terroristen im Bus heute. 
  O Jerusalem, unzählige Klagelieder sind auch schon angestimmt worden für dich und all die Gräuel und Trauerspiele, die sich innerhalb deiner Mauern ereignet haben.
  
  Aber (– die Frage muss ja erlaubt sein) - was soll uns hier Jerusalem?
  Ist es doch auch sehr weit weg von uns an einem Sommermorgen in Stuttgart.
  Die schlichte Antwort ist: Im Predigttext geht es um Jerusalem.
  Und zwischen den Zeilen geht es für mich darin auch um die Frage, wie wir denn geistlich umgehen können mit all diesen Orten irgendwo ziemlich weit weg, die in ihrer Friedlosigkeit Jerusalem gleichen, und deren Elend uns tagtäglich über die Medien ganz nah vor Augen gestellt wird. Ob es noch etwas anderes gibt als abschalten?
  
  Deshalb Jerusalem. Hier und heute.
  Wir befinden uns ganz grob um das Jahr 500 vor Christus. Die Perser haben gerade das Babylonische Großreich abgelöst. Und den Juden im Exil in Babel die Heimkehr nach Jerusalem ermöglicht.
  Aber die Lage dort in der alt-neuen Heimat ist kläglich. Alles liegt in Trümmern.  Jerusalem ist keine schöne Stadt mehr, sondern eine durch den Krieg und die Besatzung zerstörte.
  Wir haben vielleicht Bilder unserer Tage vor Augen. Afghanistan. Irak. Oder Libyen. Wenn der erklärte Krieg vorbei ist, ist das Leben für die Bevölkerung deshalb noch nicht gut.  So schnell verheilen die Wunden nicht, die Krieg und Gewalt einem Land, einer Stadt und den Menschen dort zufügen.
  Aber hören Sie nun den Predigttext aus früheren Zeiten in Jerusalem.
  
  O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt,
  die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen.
  Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen,
  lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und setze es zum Lobpreis auf Erden!
  Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starkem Arm:
  Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben
  noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen,
  sondern die es einsammeln, sollen’s auch essen und den HERRN rühmen,
  und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
  Gehet ein, gehet ein durch die Tore!
  Bereitet dem Volk den Weg!
  Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!
  Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
  Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde:
  Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt!
  Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!
  Man wird sie nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des HERRN“,
  und dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“.
  
  Emotionale Töne sind das. Voller Wärme für dieses Jerusalem in seiner Not. Jerusalem wird direkt angeredet. Als sei die Stadt eine Person. Die man liebt. Mit der man leidet. O Jerusalem!
  Die teilnehmende Haltung überträgt sich auf alle die, die dort in Jerusalem unter Schwierigkeiten leben. Das ganze Mitgefühl des Propheten gilt ihnen. Und seine Aufmerksamkeit all dem, was das alltägliche Leben so mühsam macht.
  Dieses frustrierende Gefühl, sich abzurackern und zu schuften und doch die Früchte des eigenen Mühens nicht ernten zu können.  Die landen halt wieder einmal in den Händen und Bäuchen der Waffenbesitzer und Kriegsgewinnler! Wie das halt oft so war und ist in den Krisen- und Kriegsregionen dieser Erde.
  Ich sehe die Bilder der vielen Flüchtlinge aus Syrien vor mir. All das, was sie aufgebaut haben; die Häuser und Wohnungen, das Leben, das sie sich eingerichtet haben und mit dem sie so viel Arbeit hatten, das bleibt nun zurück in dem Kampfgebiet, zu dem Syrien verkommen ist. Und manch einer von den Soldaten und den Kämpfern wird seinen Nutzen daraus ziehen, und plündernd sich schadlos halten.
  Letzte Woche hat mir eine Mutter auf Station von ähnlichen Unrechtserfahrungen erzählt. Andere Zeit, anderer Ort. Eine deutsche Minderheit irgendwo in den Weiten der Ukraine. Aber der Argwohn, um sein Leben betrogen zu werden, ist der  gleiche. Die ukrainischen Feinde haben den Wein und das Getreide, mit dem die deutschen Familiensich so viel Arbeit gemacht haben, geerntet oder getrunken. Solche Unrechtserfahrungen prägen die Mentalität einer Volksgruppe. Vererben sich weiter auf die nachkommenden Generationen.
  Ähnlich kann man es oft genug im Nahostkonflikt beobachten. Diesseits und jenseits der Frontlinien.
  
  O Jerusalem…
  Wie geht man geistlich mit solchen schwierigen Erfahrungen um?
  Der Prophet empfiehlt: Zuerst und vor allem im Gebet.
  Im engagierten, leidenschaftlichen, ehrlichen Beten. Nicht lammfromm-ergeben, nein! Es muss zur Sprache kommen, was im Argen liegt. Und was sich doch – um Himmels willen! – ändern muss.  
  Tag und Nacht soll man Gott mit seinem Beten angehen, bis  der sich rührt.
  Sie finden das ein bisschen respektlos?
  Ich finde in der Tat, die Frömmigkeit des Propheten zeigt einen Schuss Respektlosigkeit seinem Gott gegenüber. So wie er sich diesen ganzen Trupp Wächter auf den Mauern Jerusalems ausmalt, die energisch und ohne Pause Gott ins Gebet nehmen sollen…
  … heißt das doch: Gott wirkte bis jetzt auf die Menschen allzu säumig, hat zu viel Anlass gegeben zu der Vermutung, ihn interessiere das gar nicht, er schaue eh nicht hin, wenn er nicht überhaupt ganz abwesend sei…
  Aber nun soll das anders werden: die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und setze es zum Lobpreis auf Erden.
  
  Bei aller Hartnäckigkeit - ob solches Beten wirklich etwas nützt?
  Ob es wirklich etwas zum Guten ändert in einer Welt, die gezeichnet ist von der tiefsitzenden Unfähigkeit der Menschen  zum Frieden in Gerechtigkeit?
  Zu Recht kann man sich das fragen. Wenn man denn nicht mehr so ganz schlicht an einen allmächtigen göttlichen Regenten glauben will, der vom Himmel aus die Dinge für uns regelt. Der als Antwort auf unsere Gebete Frieden und Gerechtigkeit an unsrer statt herstellt. Nein, so einfach sehen die meisten von uns das wohl nicht mehr mit dem Nutzen des Gebetes.
  
  Aber vielleicht sah man das im Jahr 500 vor Christus auch nicht so einfach.
  Auch das Lied unseres Propheten hört ja nicht auf beim Aufruf zum Gebet. Das Lied geht weiter:
  Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker.
  Und das heißt doch: ein Gebet, dem nicht irgendein Tun folgt, ist unvollständig. Gott hat keine andern Hände als die Hände der Menschen, die sich von ihm in Bewegung setzen lassen. Die irgendwo, irgendwann anfangen damit, die Steine aus dem Weg zu räumen, die den Frieden gefährden. Nicht nur, weil sie geworfen werden können. Sondern auch, weil aus Steinen Mauern gebaut werden. Damit fängt es an. Fängt es an, anders zu werden.  Wenn Menschen in Fortsetzung ihres Betens an irgendeiner Stelle Steine aus dem Weg räumen.
  Oder fängt es doch schon vorher an, anders zu werden? Fängt es  im Innern der Menschen an, die zu beten beginnen? Wenn Menschen dem Sog der Resignation widerstehen, diesem fatalen Credo: „Es war schon immer so und die Unrechtsstrukturen auf dieser Erde sind so tief verankert und die friedlosen Verhältnisse so verkrustet…“
  In der Tat, das sind sie. Aber gerade deshalb braucht es doch Menschen, die etwas anderes zu denken, zu hoffen, zu ersehnen wagen. Die zu beten wagen.
  Menschen, die beten, schärfen ihre Wahrnehmung für die reale Not, die da ist. Menschen, die beten, üben sich in Mitgefühl. Menschen, die beten für andere, imaginieren für sie eine neue Zukunft.
  Und das braucht es in dieser Welt, glaube ich, dringender denn je, weil es schon genug Abgebrühte und Unberührbare und Zyniker auf dieser Welt gibt.
  
  Die ihr den HERRN erinnern sollt…lasst ihm keine Ruhe… Ja, so glaube ich, diese Welt braucht Menschen, die Gott zutrauen, dass er unser Bisschen Mitgefühl und Hoffnung für die großen und kleinen Orte dieser Welt bedeutsam macht und quasi anwachsen lässt und zu etwas macht, was eine spürbaren Unterschied macht auf dieser Welt. Eine „Wacht“, eine „Macht“ des Mitgefühls. Die dann z.B. auch Geld locker macht oder sich in großen und kleinen Friedenseinsätzen zeigt. In etwas Neuem, das nicht mehr verloren geht.
  In diesem Horizont hoffe ich auch, dass man irgendwann vor dem Anbruch der Ewigkeit eine heute noch so krisengeschüttelte Stadt wie Jerusalem nennen wird:
  „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“. Ein Zeichen für die Völker. Ein Zeichen des Friedens.
   
Perikope
12.08.2012
62,6