Predigt über Johannes 12, 44-50 von Georg Freuling
12,44
Liebe Gemeinde, wenn ich mit meiner Tochter, 7 Jahre alt, unterwegs bin, dann bekomme ich schon mal folgendes zu hören: „Die Kleine ist Ihnen ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Diese Ähnlichkeit... Ganz der Papa!“ Der Papa ist dann stolz. Die Kleine auch etwas. Noch – denn noch mal sieben Jahre und spätestens dann sieht das vermutlich anders aus.
  Ich selbst stelle solche Ähnlichkeiten auch regelmäßig fest, wenn ich andere Kinder und ihre Eltern sehe. Manchmal sind die Gesichtszüge von Mama oder Papa nicht zu übersehen. Und manchmal merken wir selbst noch als Erwachsenen an anderen Eigenschaften oder Gewohnheiten, dass wir die Kinder unser Eltern sind und bleiben.
  
  „Ganz der Papa!“ Dieser Satz passt zum Predigttext für diesen Gottesdienst. Wenigstens auf den ersten Blick. Am ersten Sonntag nach Weihnachten stellt uns dieser Text vor die Frage, wer das Kind im Stall ist. Mit wem bekommen wir Menschen es da zu tun? Eingängig ist dieser Predigttext aus dem Johannesevangelium dabei nicht. Jesus spricht hier von seinem Auftrag, von seiner Sendung. Und von dem, der ihn gesandt hat. Es sind Bibelworte, die uns heute morgen direkt nach Weihnachten dazu nötigen, einen Blick hinter die Kulisse von Stall und Krippe zu werfen, damit wir den, der hier zur Welt kommt, klarer sehen.
  Und noch etwas kann irritieren: Am Montag standen wir noch im Stall von Bethlehem, heute springen wir nach Jerusalem. Jesus steht am Ende seiner Wirksamkeit. Eigentlich ist der Vorhang ist schon gefallen: Jesus „ging weg und verbarg sich vor ihnen.“ So heißt es kurz vorher. Sein Gespräch mit den in Sachen Religion Verantwortlichen in Jerusalem ist damit beendet. Sein Weg auf der Erde geht seinem Ende entgegen. Da wirken diese Worte wie ein Zwischenruf, der noch einmal aufdeckt, wer er ist, und festhält, mit wem wir es da zu tun haben. Ich lese Joh 12,44-50:
  
  44) Jesus aber rief: Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat, 45) und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.
  46) Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe. 47) Und wenn jemand meine Worte hört und sie nicht bewahrt, dann richte nicht ich ihn. Denn ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten, sondern die Welt zu retten. 48) Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter. Das Wort, das ich gesprochen habe, das wird ihn richten am Jüngsten Tag.
  49) Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir aufgetragen, was ich sagen und was ich reden soll. 50) Und ich weiss, dass sein Auftrag ewiges Leben heisst. Was ich also sage, sage ich so, wie es mir der Vater gesagt hat. (neue Züricher Bibel)
  
  Liebe Gemeinde, im Rückblick sehen wir vieles klarer, im Rückblick leuchtet uns manches ein, was vorher so nicht sichtbar war. Einige Tage nach Weihnachten regen diese Worte zu einem anderen Blick auf das Kind in der Krippe an. Dieses Kind tritt dabei in den Hintergrund. Das Wesentliche ist beim Evangelisten Johannes von Anfang an sein Auftrag, seine Sendung, seine Wirkung: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Das ist die Weihnachtsgeschichte nach Johannes. Das Wort wird Fleisch, Gott kommt zur Welt.
  Erst wenn ich das im Blick habe, kann ich erkennen, was es mit dem Kind in der Krippe auf sich hat. Erst so wird klar, was sich hinter der Geschichte vom Stall verbirgt. Erst so gewinnt die ganze Szene ihre Tiefenschärfe.
  Der Rückblick lohnt sich also, weil er zeigt, was im Stall seinen Anfang nimmt, wer Jesus für uns sein will:
  
  Da begegnet uns Gott selbst!
  
  „Wer an mich glaubt, glaubt an den, der mich gesandt hat. Wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat. … Was ich sage, sage ich so, wie es mir der Vater gesagt hat.“
  Ganz der Papa also? Nicht in unserem Sinne, sondern: Ganz der Vater! Ganz und gar!
  
  Wenn bei uns ein Kind seinem Vater ähnelt, ist und bleibt es eine eigenständige Persönlichkeit. Gut, wenn Eltern darum wissen und das zulassen und fördern. Ganz der Papa! Das gilt von Äußerlichkeiten und Eigenarten. Aber letzten Endes sind und bleiben Mutter und Tochter, Vater und Sohn eigenständige Persönlichkeiten. So sollte es wenigstens sein!
  Hier bei Jesus ist das etwas anderes. Im Sinne des Johannesevangelium kann man sagen: Ganz der Vater! Das liegt dann nicht etwa an einer ungesund verlaufenen Pubertät oder gescheiterter Abnablung, sondern das soll so sein und sprengt unsere menschlichen Kategorien.
  In Jesus bekommen wir Menschen es mit Gott selbst zu tun – und das in äußerster Konsequenz: „Wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat.“ Konsequenter kann man es kaum sagen: Gott kommt zur Welt. Gott wird Mensch. Jesus ist Gott.
  
  Liebe Gemeinde, dagegen kann man vieles einwenden: Lässt Gottes Größe es zu, dass er ein Stück Welt wird? Dieser Anstoß begleitet Jesus von Anfang an. „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf,“ schreibt Johannes. Muss man so einen Gott, der mitten in der Welt begegnet,
  dann nicht geradezu übersehen? So ist es Jesus immer wieder ergangen. „Die Welt erkannte ihn nicht,“ schreibt Johannes. Und wir laufen sehenden Auges dran vorbei, wenn Weihnachten für uns nicht mehr ist als das Kind in der Krippe und die eigenen Kindheitserinnerungen.
  
  „Wer an mich glaubt, der glaubt an den, der mich gesandt hat.“ So sagt es Jesus. Er ist ganz der Vater. Oder etwas anders gesagt: Wir haben Gott nur in Jesus - und in Jesus haben wir Gott ganz. Er ist der uns zugewandte Gott, Gottes Solidarität mit uns Menschen und seiner Welt. Er ist der Grund, zu glauben!
  Dazu braucht es seine ganze Geschichte. Im Rückblick zeigt sich, was im Stall seinen Anfang nimmt, wer Jesus für uns sein will:
  
  Da begegnet uns das Licht!
  
  „Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.“
  
  Kerzen am Adventskranz, am Weihnachtsbaum, die Lichter in der Innenstadt. Wir bringen in dieser Zeit Licht ins Dunkel. Lichtquellen gibt es satt - mal grell, mal gemütlich.Der hier angesprochene Gegensatz von Licht und Dunkelheit wird darin aber noch nicht richtig anschaulich.
  
  Wer den Griff zum Lichtschalter gewohnt ist, vergisst, wie bedrohlich Finsternis sein kann: In der Dunkelheit bleiben Gefahren unerkannt, da treiben sich die herum, die das Licht scheuen und Böses im Schilde führen. In der Dunkelheit fällt die Welt zurück ins Chaos. Wer kann, zieht sich in sein Haus zurück und wartet auf den nächsten Morgen, den Gott seiner Schöpfung schenkt.
  So haben die Menschen in der Zeit Jesu den Gegensatz von Licht und Finsternis, den Wechsel von Tag und Nacht erlebt. Wo es hell wird, da begegnet uns der lebendige Gott, der unser Leben will und uns jeden Morgen neu zuwendet. Und mit Jesus kommt dieses Licht selbst.
  
  Liebe Gemeinde, diesen Gegensatz von Licht und Dunkel erleben wir nicht mehr so intensiv, mag sein. Doch jede und jeder von uns weiß: Ohne Licht sehen wir nichts. Und um unsere Wahrnehmung geht es auch hier: Ich möchte mich nicht verschließen im Halbdunkel, das die Wahrheit meines Lebens verschleiert, hineintreten ins Licht – klar sehen!
  Licht – das macht die Finsternis zunichte, verdrängt sie. Umgekehrt geht das nicht! Wo Licht ist, da muss die Finsternis weichen. „Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat's nicht ergriffen,“ schreibt Johannes.
  
  Es kommt auf uns Menschen an, ob wir zurückweichen und uns diesem Licht verschließen. Oder ob wir dieses Licht suchen, uns hineinstellen.
  Wer die Augen öffnet, in diesem Sicht das Sehen lernt, der findet schließlich das Leben. Auch dazu braucht es diesen Blick zurück, weil das Kind im Stall erst der Anfang ist:
  
  Da findest Du das Leben!
  
  „Ich bin nicht gekommen, die Welt zu richten, sondern die Welt zu retten.“ So sagt es Jesus. Der Auftrag des Vaters heisst „ewiges Leben.“
  Es geht um das Leben – um dein Leben. Jesu Auftrag ist der leidenschaftliche Einsatz für ein Leben, das sich erst in Gottes Gegenwart voll und ganz entfaltet. Dieses Leben gibt es für den, der glaubt. Jetzt schon. Es kommt drauf an, dass ich es mir aneigne. Jesus öffnet uns die Augen. Er lässt uns zurückkehren ins Leben, in die Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, der uns unser Leben gegeben hat und uns darin bewahren will.
  Jesus öffnet uns die Augen für die Wahrheit unseres Lebens, aber – er richtet nicht, sondern rettet: In seinem Licht stelle ich mich meinem ganzen Leben. Da beharre ich nicht auf meinen Standpunkten, bleibe nicht stehen bei nachtblinder Rechthaberei. Es liegt an mir: Ich kann mich zurückziehen, verschließen in der Finsternis. Ich kann aber auch hineintreten ins Licht Gottes, leben – nicht heil, aber geheilt durch Gottes Gegenwart, die wie er selbst ewig ist.
  
  Liebe Gemeinde, einige Tage nach Weihnachten ist das ein anderer Blick auf das Kind in der Krippe. Das Kind tritt dabei in den Hintergrund. Wir gehen weiter. Und es ist gut, wenn wir nicht an der Krippe stehen bleiben, sondern weiter gehen. Denn erst wenn wir fragen, wer dieses Kind in der Krippe für uns ist, wachsen wir über Sentimentalität und Weihnachtszauber hinaus, dann werden wir selbst, was wir sind: Gottes Kinder.
  
  Und der Friede Gottes, der größer ist als unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.
   
  
  Liedvorschläge: Ich steh an deiner Krippen hier (Str. 3 - „Licht, Leben, Freud und Wonne“), Gelobet seist du, Jesu Christ (Str. 2 „Des ewgen Vaters einig Kind“).
  Die Predigt folgt weitgehend den Gedanken G. Voigts (Die bessere Gerechtigkeit. Homiletische Auslegung der Predigttexte. Neue Folge: Reihe V, Waltrop 2006, 55ff.) und in der Exegese (immer noch) R.Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK II), Göttingen 1978.
Perikope
30.12.2012
12,44