Predigt über Johannes 17, 20 – 26 von Helmut Dopffel
17,20
Liebe Gemeinde,
die Worte Jesu wiederholen sich, als ob sie um einen Mittelpunkt kreisen würden: „…damit sie alle eins sein…sie sollen in uns sein…damit sie eins seien wie wir eins sind…damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen…“. Die Worte kreisen, und der Mittelpunkt ist ganz offensichtlich die Liebe, man würde es merken, selbst wenn das Wort nicht vorkäme. Die Liebe soll alles und alle durchdringen, Gott und Welt, Jesus und seine Jünger und die Menschen aller Zeiten bis zur Generation heute, bis zu uns. In diesen Worten sagt uns Jesus, was er von der Kirche erwartet, erhofft, wünscht, erbittet. Wie kaum sonst in der Bibel kommen wir Nachgeborenen, die Generationen die Jahrhunderte später leben und glauben, ganz ausdrücklich in den Blick: „Ich bitte auch für die, die durch das Wort anderer an mich glauben werden.“ Wir sind gemeint. Jesus gibt uns aber hier keinen Auftrag, schon gar keinen Befehl – er tritt ja nicht wie ein General auf, obwohl der populäre Begriff „Missionsbefehl“ das suggeriert. Jesus hat eine ganz andere Haltung zu uns. Er bittet Gott für uns. Damit ist alles offen. Und alles ist in guten Händen.
Was erwartet er, um was bittet er? Merkwürdigerweise geht es ihm hier nicht darum, dass die Kirche Salz der Erde ist, dass sie sich um die Armen kümmert, um Werte und Bildung. Er fordert auch nicht Nachfolge ein und Gehorsam, nicht einmal Glauben. Von der Liebe redet er. Offenbar ist sie das, was allem anderen vorausliegt. Ohne Liebe kein Glaube, kein Gehorsam, keine Werte, keine Bildung, keine Diakonie, kein Salz der Erde.
Wenn das Verhältnis von Gott und Mensch, von Mensch zu Gott als Liebe verstanden, beschrieben und erlebt wird, so nennen wir das Mystik. Und Menschen in jedem Jahrhundert haben Gott so erlebt und so von ihm gesprochen: Das Ziel aller Sehnsucht und die höchste Erfüllung ist Eins werden mit Gott. Menschen haben diese Sehnsucht und diese Erfahrung manchmal in Verse gefasst, die zur schönsten Liebeslyrik der Welt zählen. Manche finden sich auch im Gesangbuch: „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und leben, Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder, ich senk mich in dich hinunter. Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.“ (Gerhard Tersteegen EG 165, 5). Oder man liest einen Psalm und findet sich mitten in einem Liebesgedicht: „Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir…Denn deine Güte ist besser als Leben; meine Lippen preisen dich…Das ist meines Herzens Freude und Wonne, wenn ich dich mit fröhlichem Munde loben kann; wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach…meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich…“ (Psalm 63). Und im Neuen Testament kaum weniger poetisch: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab...“ so beginnt einer der programmatischen Sätze im Johannesevangelium.“ Ich bin gewiss, dass nichts uns trennen kann von der Liebe Gottes“, schreibt Paulus. „Gott ist die Liebe“, finden wir im 1. Johannesbrief, und Luther setzt noch eins drauf: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe“. „O große Lieb! O Lieb ohn alle Maße“ – mit diesen Worten lässt Johann Sebastian Bach den ersten Choral der Johannespassion beginnen und gibt damit dem ganzen Geschehen der Passion Jesus, und nicht nur der Passion, seine Überschrift.
Wir können uns dieser Liebe auch ganz anders nähern. Liebe ist die zentrale Macht unseres Lebens, das große Verlangen nicht nur in jungen Jahren, die heimliche oder gar nicht heimliche Sehnsucht. Schalten Sie das Radio ein und hören die Lieder, die da gesungen werden: Liebe, love, amore in allen Facetten und Farben. Denken Sie an die Lieder, die Ihnen etwas bedeuten, die Ihnen das Herz wärmen, die Sie vielleicht sogar zu Tränen rühren können und an Wundervolles oder Schreckliches erinnern. „All you need is love.“ Love is a fire“. Liebe ist wie Feuer. Liebe ist alles das wir brauchen. Natürlich ist das übertrieben. Und doch ist es so wahr, dass wir alle solche Sätze irgendwann einmal in unserem Leben unterschreiben würden. Und wenn wir uns einmal vorstellen, jeder einzelne der sieben Milliarden Menschen dieser Erde würde seinen größten Wunsch auf eine Tafel schreiben und diese gen Himmel recken – würde da nicht auf den meisten stehen: Liebe? Liebe, gewonnen oder verloren, verändert und prägt unser Leben wie sonst nichts. Die lange Liebe der Mutter oder des Vaters ist lebenswichtig und lebensentscheidend für die Kinder. Mein alter Vater sagt zu meinem Bruder und mir: „Dass ihr euch um mich kümmert, das ist doch Liebe.“ Und er strahlt. Dabei tun wir gar nicht viel. Die Liebe zwischen zwei Menschen kann hinreißend sein und die innere und äußere Welt verändern. „Du füllst mein ganzes Herz!“ Liebe verändert sogar die Farben und den Geruch der Welt. Und wenn wir, im fortgeschrittenen Jahren, die ersten Blicke zurück werfen und uns fragen was denn wirklich wichtig war und was wir hoffen dass es bleibt – kommen da nicht in erster Linie, und vielleicht nahezu ausschließlich, die Erfahrungen in den Blick, wo wir geliebt haben und geliebt wurden, wo andere Menschen es spüren konnten, wo wir es spüren konnten. „Sie hat drei oder vier Männer glücklich gemacht“ heißt es in einem vorwitzigen Gedicht über die Lebensbilanz einer Frau. Kann man viel mehr sagen oder sich wünschen?
Dass Jesus von der Liebe redet, und dass wir von der Liebe reden, und dass sich die Erfahrungen so ähnlich sind, das ist kein Zufall. Es hat zu tun mit der inneren Verfasstheit der Welt, mit dem, das die Welt im Innersten zusammenhält. Die Liebe ist eine, es ist dieselbe Liebe im Himmel wie auf Erden und zwischen Himmel und Erde. Es ist dieselbe Liebe zwischen dem himmlischen Vater und Jesus, zwischen Gott dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist. Es ist dieselbe Liebe zwischen Jesus und seinen Jüngern, zwischen Gott und uns Menschen und zwischen uns Menschen, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Paaren und sogar, wenn wir Jesus folgen, die Liebe zum Nächsten, zu den Armen und zu den Feinden. Es ist dieselbe Liebe, die ihre unwiderstehliche Kraft entfaltet, der wir uns nicht entziehen können und der sich auch Gott nicht entziehen will. Es ist dieselbe Liebe, mit der Gott auf uns schaut, und die unsere Seele entzückt, wenn wir auf einen geliebten Menschen schauen. „Immer nur Du“: So sprechen Menschen zu Gott und zu einander.
Und der Grund? Gott ist die Liebe.
Liebe ist, was Gott ausmacht, was ihn bewegt und leitet. Liebe erklärt alles, was Gott ist und was er tut. Und weil zwischen dem großen Gott im Himmel und Jesus so viel Liebe ist, dass sie eins sind, hat Gott nun nicht nur einen Namen, sondern trägt das Antlitz eines Menschen. Gott ist die Liebe. Deshalb hat er auch diese Welt und uns aus Liebe geschaffen und seine Liebe in diese Welt hineingegossen, als Himmelskraft für uns. Eine Kraft, die wir spüren können und die uns Menschen zu Schwestern und Brüdern macht.
Freilich, alles Gute kann missglücken und alles Starke kann missbraucht werden. Die Liebe ist gut und stark und kann deshalb schrecklich missglücken und schrecklich missbraucht werden. Auch da hat wohl jeder und jede so seine Erfahrungen machen müssen und trägt die Narben mit sich herum. The first cut is the deepest, die erste Wunde ist die tiefste. Wo Menschen Liebe erwarten und brauchen finden sie Lieblosigkeit, Kälte, Dunkel, Schmerz. Um Liebe müssen wir manchmal kämpfen, und manchmal verlieren wir diesen Kampf. Wir erfahren die Grenzen der Liebe – in uns, in anderen, in den Verhältnissen dieser Welt. Auch die Liebe, so stark sie ist, befreit nicht aus den Begrenzungen von Raum und Zeit, oder nur „gefühlt“ für kurze Zeit, für den berühmten Augenblick. Und selbst die Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch, zwischen uns Menschen und Gott missglückt immer wieder und wird auch immer wieder missbraucht. Menschen wenden sich an Gott – und finden keine Antwort. Vielleicht können sie sie nicht hören, vielleicht fällt sie so anders aus als sie es sich wünschen und erhoffen. Vielleicht schweigt Gott. Sie schreien: Wo bist du? Und warum? Und umgekehrt: Wenn Gott auf uns und diese Welt schaut und alle Angst, alle Gewalt, alles Blut und alle Schreie und alle Lieblosigkeit sieht, als hätte er uns nicht zum Lieben geschaffen… Und doch liegt auch im Missglücken und im Missbrauch und noch in der kältesten Lieblosigkeit eine hohle und dunkle Ahnung, wie es sein könnte und sogar sein müsste für uns. Die Spuren der Liebe in unserer Seele sind unauslöschlich.
Gott ist die Liebe. Aber erklärt uns dieser Satz wirklich die Welt und unser eigenes Leben? Unsere Lebenserfahrung ist da merkwürdig zweideutig. Zum einen sind da die schrecklichen Erfahrungen, dass es längst nicht genug Liebe in der Welt gibt, dass Kinder ohne Liebe aufwachsen müssen, Gewalt und Hunger und seelische Grausamkeit erfahren. Die Erfahrung, dass Liebe gebrochen wird, einfach so. Dass Liebe vergeht, sich auflöst ins Nichts, oder umschlägt in tiefen und obsessiven Hass. Dass Liebe nicht siegt über die Gleichgültigkeit. Wir lesen über all diese Erfahrungen nicht nur, Zeitungen und Literatur sind voll davon; nein, wir kennen sie, wir tragen sie in uns und in unserer Seele. Aber das andere haben wir auch erfahren und wissen es, dass die Liebe  zurückkehrt und aufersteht in großer Kraft und uns wieder begegnet und wieder beglückt und wir sie wieder spüren können in uns und sich nie ganz auslöschen lässt. Und sei es, dass sie brennt in der kleinen Flamme der Hoffnung und Sehnsucht.
Gott ist die Liebe. Unsere Lebenserfahrungen stimmen damit nur gelegentlich und nur sehr eingeschränkt überein. Es ist Jesus, an dem klar wird, was „Gott ist die Liebe“ bedeutet. Er holt die Liebe ins Licht. Jesus spricht zu den Menschen, damals wie heute, und füllt ihre Herzen mit Trost und Kraft und Hoffnung. Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Er heilt zerbrochene Beziehungen, zerbrochene Seelen, und manchmal auch zerbrochene Körper. Er nimmt Schuld weg und schenkt Versöhnung. Wir können an ihm auch sehen, dass das keineswegs nur Begeisterung auslöst, sondern Widerspruch und Konflikt provoziert. Liebe, selbst Gottes Liebe, führt auf dieser Erde nicht zur Harmonie. Und doch ist sie plötzlich da, heiter und heil.
Das, liebe Gemeinde, ist der Auftrag der Kirche: Die Liebe ins Licht zu holen und die Botschaft, dass Gott die Liebe ist. Deshalb sind wir auf die Ökumene, die Einheit der Kirche, verpflichtet. Diese Botschaft wird selten großartig auftreten. Aber wenn auf dem Kirchentag in Hamburg 130.000 Menschen unterschiedlichster Couleur  zusammenkommen und fünf Tage lang die Stadt prägen, nicht mit Aggression und Kampf um den Sieg, sondern mit Liedern und Heiterkeit und Engagement für andere und sachlichem Streit, dann ist das sehr wohl eine Botschaft, die gehört wird.
Nun kann man natürlich schnell und leicht sagen, dass nicht jeden tag Kirchentag ist und der Alltag der Kirche anders aussieht. Auch wir bleiben noch zu sehr unter uns und kümmern uns zu sehr um uns selbst. Aber jeder Gottesdienst zeigt, dass in der Kirche das Bewusstsein sehr lebendig ist, dass alle Völker, alle Kulturen, alle sozialen Gruppen, alle Milieus, alle Ethnien und Rassen zur Kirche gehören. Die Kirche ist universal, global, kulturplural; und wie immer wir Menschen, die Politiker oder Sozialwissenschaftler, die Welt sortieren: Wir sind eins. So wie der Vater und der Sohn eins sind. Die Welt schafft es nicht, zur Einheit zu kommen. Sie ist zersplittert, zerlegt, im Krieg, lebt von Trennung und Exklusion. Die Kirche aber ist eins. Sie hütet den Zusammenhang und das Ganze der Welt.
Jesus bittet Gott um diese Einheit und Liebe , damit die Welt zum Glauben komme. Zum Glauben, dass Gott die Liebe ist. Darin liegt Gottes Herrlichkeit.
Und was bedeutet Himmelfahrt anders, als dass Jesus auch heute für uns bittet und seine Botschaft auch heute für uns gilt, und Gottes Liebe auch heute mächtig ist und uns und die Welt verwandelt!
Perikope
09.05.2013
17,20