Predigt über Johannes 20, 11-18 von Eberhard Busch
20,11

Predigt über Johannes 20, 11-18 von Eberhard Busch

Frohe Ostern!
„Christus ist auferstanden“, so grüßen manche Gemeindeleiter die Christen am Ostermorgen, und die Gemeindeglieder antworten: „Er ist wahrhaftig auferstanden.“ Das ist ein schöner Brauch im Gottesdienst an diesem Tag. Die Beteiligten sprechen sich damit die österliche Botschaft gegenseitig zu. Dieser Gruß in den östlichen Kirchen hat sich ja auch bei den hiesigen Protestanten eingebürgert. Und zur Liturgie namentlich des russisch-orthodoxen Ostergottesdienstes gehört noch ein merkwürdiger Ritus: das Ostergelächter. Es werden damit die Mächte der Vernichtung im Blick auf den auferstandenen Christus förmlich ausgelacht.
Wenn der Brauch bei uns unbekannt ist, so können wir ihn doch gut verstehen. Eines unserer Osterlieder, gedichtet von Paul Gerhardt, singt ja auch davon: „Er war ins Grab gesenket, / der Feind trieb groß Geschrei; / eh er’s vermeint und denket, / ist Christus wieder frei / und ruft Viktoria, / schwingt fröhlich hier und da, / sein Fähnlein als ein Held ...“ – und darum gilt jetzt im Blick auf die Welt jenes todbringenden Feindes: „die Welt ist mir ein Lachen / mit ihrem großen Zorn, / sie zürnt und kann nichts machen, / ihr Arbeit ist verlorn ...“
Aber nun fängt ja unsere heutige Ostergeschichte für die Predigt ganz anders an. Wir treffen hier auf eine heulende Frau. Maria weint. Sie tut es so, wie Menschen weinen, wenn sie einen geliebten Mitmenschen verloren haben. Man kann sich noch so vernünftig einreden, das sei halt der Lauf der Welt: Der Tod gehöre zum natürlichen Gang des Lebens. Es ist ja richtig: jedes neue Leben, das in die Welt tritt, läuft von da an unaufhaltsam seinem Sterbenmüssen entgegen, früher oder später, ob mit zerstörerischer Gewalt getötet oder friedlich beendet. Doch tröstlich ist dieser Gedanke nicht, auch dann nicht, wenn jemand in einem sanften Tod einschlummert. Wenn ein geschätzter Zeitgenosse uns genommen wird, da kommen uns die Tränen – und doppelt trostlos, wenn sogar niemand da ist, der um einen Gestorbenen trauert.
Und Maria weint. Da sprechen zwei verwunderliche Gestalten sie an und fragen: „Was weinst du?“ Das ist auch Ausdruck einer herzlichen Anteilnahme an ihrem Leid. Sie ist darin nicht allein gelassen. Jene zwei fühlen mit ihr. Offenbar verstehen sie auch, dass diese Frau einen ganz besonderen Grund hat zu trauern. Sie wissen augenscheinlich, dass es etwas weit Schlimmeres gibt als Tod und Begräbnis eines geliebten Mitmenschen. Gewiss, solch ein Abschied ist schlimm – wir wissen es. Aber wahrhaftig noch schlimmer als dieses Schlimme ist es, wenn der nicht da ist, von dem das uralte Lied singt: „Christ will unser Trost sein.“ Er will, aber kann er auch unser Trost sein? Wenn er nicht da wäre, der Tröster, müssten wir in Trostlosigkeit versinken. Jenes alte Lied fährt fort und sagt geradezu das Kühne: „Wär er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen ...“ In der Tat, eine ganze Welt von Trostlosigkeit wäre dann in ihrem uferlosen Jammer versunken.
Unsere biblische Geschichte geht überraschend weiter: „Wär er nicht erstanden“? Nein, kein Fragezeichen! Denn er ist erstanden – Ausrufungszeichen! Er ist nicht weit weg. Er ist nicht vergangen. Er ist gegenwärtig. Er steht genau bei der weinenden Frau, bei der um ihn Trauernden. Er weiß, was sie bedrückt – so wie es im Lied von Paul Gerhardt heißt: „Er kennt den Lauf der heißen Tränen.“ Er kennt das – aber sie weiß es nicht. Sie erkennt ihn nicht. Er ist bei ihr, aber sie sieht das nicht ein. Sie hält ihn für einen Gärtner, für den Friedhofsgärtner. Indem sie nicht begreift, dass Christus bei ihr ist, hat sie in ihrer Weise zwar recht. Was können wir denn noch tun, wenn wir einen Lieben bei seinem Grab verabschieden mussten? was außer Grabpflege? Und wer kann einem besser dabei helfen als ein Gärtner? Einer, der uns hilft, dass das Andenken an den Dahingegangenen bei uns in Ehren bleibt, bis über unsere Trauer Gras gewachsen ist. Das ist in Ordnung so.
Nur ist das Jesus nicht genug. Es ist eine ganz und gar untröstliche Angelegenheit, wenn er für uns nur solch ein Gärtner wäre, einer, der dem Tod nicht gewachsen ist, sondern der ihn nur verzieren kann. Mehr noch: es ist ein Missbrauch seines Namens, wenn wir ihn für solch eine Gestalt halten und seinen Namen für bloße Verzierungen unseres sonstigen Lebens benutzen. Jesus ist nämlich nicht wie andere abgetreten und jetzt unerreichbar weit weg. Eben, er ist ganz in der Nähe. Er steht unmittelbar bei Maria. Aber sie sieht es nicht, sie begreift es nicht. Dergleichen hat sich seither noch und noch wiederholt. Er ist da. Er ist um uns und bei uns. Jedoch ist dies das Problem, dass er von uns nicht wahrgenommen wird. Das Problem liegt nicht bei ihm, sondern bei uns: unsere Augen sind verschlossen für ihn. „Was weinst du denn jetzt?“ – so lautet seine Frage an Maria nun auch. Der dir die Tränen trocknen kann, der steht dir zur Seite. Merkst du das denn nicht? Aber es geht so manchen nach dem Spruch Jesu: „Sehend sehen sie nicht.“ (Matth. 13,13)
Jesus vermag solchen Menschen die Augen zu öffnen, so dass sie sehen, was sie nicht gesehen haben. Wie er es an Maria vollbracht hat, so vermag er es auch an uns zu tun. Er ist in der Lage, uns dafür zu öffnen, dass wir das, was wahr ist, auch wahrnehmen. Er schließt gleichsam die Tür auf, dass uns aufgeht, was uns zuvor verborgen war. Und dann begreifen wir, wer Er in Wahrheit ist. Das geschieht auf ebenso einfache wie wunderbare Weise. . Er spricht zu ihr ein Wort. Er nennt sie bei ihrem Namen: „Maria“! Und es geht daraufhin so zu, wie es in Jesaja 43 (1) heißt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ So, wie es am Anfang einer Kantate von Johann Sebastian Bach nach dem Johannes-Evangelium im Bild von dem guten Hirten ertönt: „Er rufet seine Schafe mit Namen.“ Sein ansprechendes Wort vollbringt das Wunder, dass sie ihn wahrnimmt, - das Wunder, dass ihr die Ohren aufgehen für ihn und sein Wort: „Ich habe es ja mit ihm zu tun. Er selbst ist mir in den Weg getreten. Er selbst spricht mich an.“ Von dem anderen großen Komponisten Georg Friedrich Händel stammt eine Arie auf den wundersamen Text: „Meine Seele hört im Sehen“ – man könnte auch sagen: Meine Seele sieht im Hören..
Und was Maria hört im Sehen oder was sie sieht im Hören, ist das Eine, was sie sogleich ausspricht – in alter Sprache: „Rabbuni! -  das heißt Meister“ oder göttlicher Lehrer. Unser Mund bringt ja sonst vieles über die Lippen: Alltägliches, Brauchbares und Unbrauchbares, Liebevolles und Bösartiges, Klärendes und Verwirrendes. Wir können darüber im 2. Kapitel des Jakobusbriefes Kritisches lesen. Aber dass ein Mensch so spricht wie Maria Magdalena, darauf kommt sie nicht von selbst. Darauf kommt sie, indem sie angesprochen ist von einer anderen Seite her, gleichsam von einem anderen Ufer – von einer Stimme, die spricht: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein!“ Daraufhin, dass sie so angesprochen ist, angesprochen von dem lebendigen Jesus Christus – daraufhin ist nun auch ihr der Mund geöffnet. So kann sie ihm antworten, ihn ansprechen und anrufen: „Rabbuni!“, Meister!
Mit ihrem jetzt derart geöffneten Mund ist Maria sogleich befähigt, sich anderen zuzuwenden und ihnen die Botschaft von dem lebendigen Christus zu bringen. Damit dass sie ihn mit seinem Namen anspricht, ist sie schon dazu ausgesandt. Doch – sie zögert anscheinend. Sie will offenbar eine Weile sich am Anblick des Christus ergötzen. Doch der weist das verwunderlicher Weise ab, mit Worten, mit denen er sie von sich fortweist. Er sagt ihr: „Ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem himmlischen Vater.“ Und das heißt so etwas wie: „Bestaune mich jetzt bitte nicht und fall mir nicht um den Hals! Das kommt später schon noch an die Reihe. Vorrangig wichtig ist, dass du jetzt zu meinen Brüdern, zu den Jüngern gehst und ihnen sagst, dass ich nunmehr in die unmittelbare Verbundenheit und Einheit mit Gott dem Allmächtigen einkehre.“ Daraufhin geht Maria und verkündigt den Jüngern: „Ich habe ihn gesehen“. Ja, sie hat ihn selbst gesehen, als ihr im Hören auf ihn die Augen geöffnet wurden, als sie die Ohrenzeugin seines Wortes wurde.
Verstehen wir, was uns damit gesagt wird? Das ist hier das Wegweisende, dass Maria nicht stehen bleibt in einem bloßen Staunen über ihre Jesusbegegnung. Sondern darum geht es: Die Osterbotschaft ist etwas so Kostbares und so Heilsames, das unbedingt weitergegeben werden will. Sie ist ein Licht, das weiter und weiter zu reichen ist, damit es auch an anderen Orten leuchtet. Und die am Anfang dieser Lichterkette steht, ist eine Frau, nicht einer der Jünger etwa, einer der nächsten Gefolgsleute Jesu, sondern bevorzugt ist jetzt eine, die im sonstigen Leben eher im Hintergrund steht. Sie ist es, die den Jüngern die Osterbotschaft bringt. Und die werden daraufhin auch aufstehen und hervortreten müssen, um diese Botschaft ihrerseits weiterzugeben. Weiter und weiter, bis sie heute auch uns erreicht: „Christ ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.“
Und die Weitergabe will bei uns nicht stehen bleiben. Es ist ein übler Missstand, wenn die Weitergabe bei uns zum Stillstand kommt, wenn wir sie behandeln gleichsam wie Endverbraucher. Im Jakobusbrief (1,22) werden wir ermahnt: „Seid Täter des Worts und nicht Hörer allein.“ Die Kirche Christi ist darin lebendige Kirche, dass sie die frohe Botschaft ausbreitet, nicht verwässert, sondern leuchten lässt, und dass sie sie nicht in einem Kirchengebäude einschließt, sondern unter die Leute bringt. Nicht nur die Pfarrer haben sie an die so genannten Laien weiterzugeben, sondern alle Glieder miteinander; und alle auf ihre Weise und mit ihren Mitteln sind Boten und Gesandte des Auferstandenen.
Jesus sagt zu Maria: „Gehe hin!“ Das ist sein Aufruf zur Mission: „Geh, und sag es den Anderen.“ Sind wir heute Glieder eines müde gewordenen Christentums geworden? Christen, die das vergessen haben? Christen, die denken: „wir sind in unseren Kirchen kleiner geworden, aber es gibt ja viele Religionen, und wir anerkennen sie in unserem Jahr der Toleranz und meinen, dass sie alle mit ihren Praktiken irgendwie recht haben“? Und – wir vergessen darüber das Gebot Jesu und ihn selbst: „Geh hin und sag es den Anderen!“. Nun, es ist ja wahr: die Adressaten unserer christlichen Botschaft sind nicht unsere Gegner. Gottlob, Christus ist auch außerhalb der Kirche lebendig. Manchmal wird er außerhalb sogar besser wahrgenommen als in unseren armseligen Kirchen. Doch das sollte uns ein Antrieb sein, nur erst recht Diener und Gesandte Jesu Christi unter den Menschen zu sein.  
In der rechten Kirche Christi geht es so zu, wie es in dem Lied des Dichters Novalis heißt: „Ich sag es jedem, dass er lebt / und auferstanden ist ... Ich sag es jedem; jeder sagt / es seinen Freunden gleich, dass bald an allen Orten tagt / das neue Himmelreich.“ So wird gewissermaßen eine Kette gebildet: eine Kette des Lebens gegen die Mächte des Todes und des Tötens. Es ist eine Kette von solchen, die sich aufmachen für Rettungen der Bedrohten. Wir dürfen Glieder in dieser Kette sein. Gott sei Dank!