Predigt über Johannes 4, 19 – 26 von Günter Goldbach
4,19

Predigt über Johannes 4, 19 – 26 von Günter Goldbach

Vorbemerkung:
Die zum ersten Mal für das Kirchenjahr 1982/83 erfolgte Perikopierung des Predigttextes für den 2. Pfingsttag auf die Verse Joh. 4, 19-26 ist aus verschiedenen Gründen extrem unglücklich. Schon die ersten Worte: „Die Frau sprach zu ihm…“ (welche Frau?) verlangen nach einer Erklärung des Zusammenhangs. Die dann die alte Streitfrage zwischen Juden und Samaritanern aufnehmenden Verse 20f nach dem rechten Ort der Anbetung sind für unsere PredigthörerInnen total irrelevant. Der Satz „Das Heil kommt von den Juden“ (v 22) ist im Kontext des Johannes-Evangeliums völlig unwahrscheinlich, sondern nach Überzeugung der meisten Exegeten ein späterer redaktioneller Einschub. Die Aussage von v 24: „Gott ist Geist“ ist ebenfalls missverständlich, jedenfalls keine Aseitäts- oder Definitionsaussage; gemeint sein dürfte, dass Gott als Geist handelt und Glaubende im Geist handeln lässt (vgl. R. Bultmann, Kom. z. St.). - Die Aufzählung von Problemen in diesem Text-Abschnitt ließe sich fortführen. Deshalb: Es gilt zu realisieren, dass der Abschnitt 4, 1-42 eine exegetische Einheit bildet. Dessen „Kern“ in homiletischer Relevanz ist die Begegnung zwischen Jesus und der Samaritanerin. Diese „Geschichte“ sollte erzählt und für unsere PredigthörerInnen adaptiert werden. Dass dabei herauszukommen vermag, „was Pfingsten meint“, versucht die nachstehende Predigt aufzuzeigen (als „Text“ zu lesen oder zu erzählen bieten sich dabei die Verse 5-19.28-30.39-42 an).
  
  
  Wirklich – das kann einem schon passieren und ist gewiss im Leben des einen oder anderen unter uns so verlaufen: Man begegnet Jesus gewissermaßen zufällig, plötzlich um die Mittagsstunde, wie jene Frau aus dem samaritanischen Dorf. Wirklich – so kann es passieren: Man trifft auf ihn unvorbereitet und gänzlich überrascht. Ja, die Begegnung scheint zunächst ganz nichtssagend zu verlaufen. Zumal er es ist, der um etwas bittet. Eine verständliche Bitte will uns scheinen. Ist es doch die Bitte eines müden und erschöpften Mannes nach einem Becher Wasser.
  Wirklich – es kann einem passieren, dass man – ohne zu wissen, wen man vor sich hat – den Eindruck gewinnt: Wir müssen ihm helfen. Wir müssen etwas für ihn tun. – Natürlich geben wir etwas für die Kirche, sagen wir. Natürlich lassen wir unsere Kinder taufen und konfirmieren. Wir müssen unbedingt einmal wieder zum Gottesdienst gehen! Und wir, die wir so reden, sagen das so, als müssten wir einen Erschöpften aufrichten und einem Hilfsbedürftigen helfen.
  Doch ehe wir überhaupt dazu kommen, etwas zu tun, geschieht etwas Erstaunliches. Ehe wir überhaupt dazu kommen, unsere Hilfe anzuwenden, müssen wir entdecken: Dieser Jesus benutzt seine an uns gerichtete Bitte nur dazu, uns etwas anzubieten. Der uns um einen Becher Wasser bittet, bietet uns lebendiges Wasser an. Ein Wasser, das unseren Durst für immer löschen soll.
  Wir sind verwundert. Und in unsere Verwunderung mischt sich der Zweifel: Bist du denn mehr…? Bist du denn mehr, wir fragen nicht mehr wie jene Frau damals: „… mehr als unser Vater Jakob?“ Wir fragen: Bist du denn mehr als diejenigen, die uns eine Quelle erschlossen haben, an der man von Zeit zu Zeit seinen Durst löschen kann? Bist du denn mehr als die Urheber der Quellen unseres Lebens? Bist du denn mehr als diejenigen, die uns mit Liebe begegnen – und wir können Augenblicke des Glücks erleben?! Bist du denn mehr als diejenigen, die uns mit Fürsorge umgeben – und wir können uns geborgen fühlen?! Wir fragen also durchaus vergleichbar mit jener Frau aus Sychar: Worin unterscheidet sich die Gabe Jesu von dem, was uns andere Menschen bieten?
  Er jedenfalls behauptet, eine andere Gabe für uns bereitzuhalten: das lebendige, nie versiegende Wasser des Lebens. Eine Quelle will er uns zeigen, die unseren Durst nach Leben so löscht, dass wir zur Ruhe kommen. – Aber wie erschließt sich dieser Brunnen in dir und in mir?
  
  Wir können das erfahren, wenn wir uns die Geschichte jener Frau aus Sychsar ansehen; die Geschichte, die sie mit Jesus erlebt hat.
  Diese Frau ist durch den Durst nach Leben in die Hände der Männer geraten. Im Mann und im Wechsel der Männer sucht sie den Durst nach Leben zu stillen. Jesus sagt ihr das. Mit einem Satz ist er sozusagen in das Zentrum ihres Lebens gelangt. Und von dort her, von der verlorenen Mitte her, öffnet er ihr eine andere Möglichkeit.  –  Anders kann es wohl nie sein, wenn Jesus uns und wir ihm begegnen. Diese Frau begreift das. Jedenfalls: Sie hält zunächst einmal die Wahrheit aus. Sie beschönigt nichts. Sie entschuldigt nichts. Sie bekennt sich zu sich selbst und zu ihrer Vergangenheit. Das ist schon bemerkenswert. Wir verhalten uns ja im Allgemeinen anders. Hier ist bestimmt keiner unter uns, der nicht irgendwann irgendetwas getan hat, wofür er sich jetzt schämt. Worüber er den Kopf schüttelt und sich fragt: Wie konnte ich nur?!
  Aber das geben wir doch nicht zu! Darüber breiten wir doch den Schleier des Vergessens aus. Daran möchten wir doch nicht erinnert werden. Kommt es doch vor: Jemand entdeckt uns oder jemand gräbt in unserer Vergangenheit nach, dann versuchen wir, uns zu rechtfertigen und uns zu entschuldigen: Da ist doch nichts bei. Das machen doch alle. Das hat doch nichts zu bedeuten. So oder ähnlich reden wir dann. Jedenfalls: Wir wollen das Dunkle auf keinen Fall dunkel sein lassen.
  
  Diese Frau hier ist nicht so. Und sie handelt nicht so. Sie vermag es vielmehr, die Wahrheit auszuhalten. Vielleicht weil sie spürt: Jesus sagt ihr diese Wahrheit nicht lieblos, nicht vorwurfsvoll. Er will ihr nur helfen. Er will das Alte nur zerstören, um ihr etwas Neues, Besseres dafür zu geben. Er will ihr – um im Bilde zu bleiben – das Wasser, von dem sie bisher gelebt hat, nur deshalb abgraben, um ihr neues, lebendiges Wasser dafür zu geben. Wir können es auch in der Begrifflichkeit des heutigen Pfingsttages sagen: Jesus öffnet dieser Frau die Augen für den Geist, aus dem sie bisher gelebt hat, um ihr den Heiligen Geist zu geben, die Gnade Gottes. Und weil diese Frau das erkennt und sich davon überwinden lässt, wird sie zu einer Christin.
  
  Was das für diese Frau bedeutet und was daraus wird, das wollen wir gleich noch sehen. Doch zunächst sollten wir einen Augenblick über Folgendes nachdenken:
  Wie sind wir eigentlich zu Christen geworden? Was können wir eigentlich dafür, dass uns schon in der Jugend das Evangelium nahe gebracht worden ist? Oder: Was können wir eigentlich dafür, dass wir einem Menschen begegneten, der uns die Botschaft Gottes so sagen konnte, dass sie uns traf? Sind wir besser als die vielen, vielen anderen, denen das nicht geschah? – Wenn wir uns das klar machen, können wir eigentlich doch nur immer wieder staunend feststellen: Das war ein Geschenk, das war Gnade Gottes. Das war wirklich und wahrhaftig nicht weniger als Gnade Gottes, dass wir aus einem alten Leben herausgerissen und in ein neues hineingestellt worden sind.
  So manches gelingt uns: an Nächstenliebe, an Hingabe, an Opferbereitschaft. Andererseits: Wie oft gelingt es uns auch nicht! Aber daran eben merken wir, dass wir auch jetzt „von Natur“ keine Christen sind. Wenn es uns aber doch dann und wann gelingt, dann müssen wir uns doch fragen: War es nicht Gnade Gottes, Wirkung seines Heiligen Geistes?
  Nun fallen noch immer dunkle Schatten auf unser Leben. Noch immer tun wir Böses. Vollkommen werden wir niemals werden. Das ist wirklich betrüblich. Aber es ist doch auch so: Gerade auf dem Hintergrund aller Dunkelheiten kann uns deutlich werden, was Gottes Gnade schon aus uns gemacht hat und immer wieder machen möchte. Ja, wir erkennen die Gnade Gottes überhaupt nur, wenn wir das Dunkle nicht leugnen.
  Das war ja das Großartige an dieser Frau aus Sychar: Sie verleugnet ihre Vergangenheit nicht. Sie weiß: Sie ist von ihrer Vergangenheit durch Jesus befreit worden. Deshalb freut sie sich. Denn sie begreift: Dieses Neue kommt von Gott. Das andere war ja nur ich selbst.
  
  Sind einige von uns versucht einzuwenden: Ach ja, wenn wir doch auch so unmittelbar, so direkt, so leibhaftig dem begegnen könnten, der uns neu macht durch die Gabe seines Geistes. Dann könnten wir uns vielleicht auch freuen. Aber wir haben eben nicht diese Chance wie sie jene Frau aus Sychar nach dem Bericht des Evangeliums eben hatte. Das ist nicht wahr. Denn wir haben – z. B. auch heute hier in diesem Gottesdienst – das Abendmahl. Und darum erscheint Christus unter uns nicht nur im Bericht des Evangeliums. Nein, er erscheint auch unter uns leibhaftig, in einer greifbaren Wirklichkeit.
  Wenn es heißt: Das ist mein Leib, dann heißt das: Das bin ich. Indem ihr das Brot berührt und seht, seht ihr mit ihm zugleich auch mich. Indem ihr den Wein trinkt und seht, habt ihr in ihm zugleich auch mich. Christus will sagen: Unter, mit und in dem Brot und Wein bin ich anwesend. In der Gemeinschaft des Brotes und des Kelches will ich euch begegnen. So habt ihr – anders zwar als jene Frau aus Sychar – aber nicht weniger direkt die Möglichkeit der Vergebung. Genauso unmittelbar habt ihr das Versprechen der Gnade Gottes, das Angebot des lebendigen Wassers des Lebens.
  
  Aber nun hat das Ganze noch eine andere Seite. Ich deutete es schon an. Wer sich nämlich an seine Vergangenheit erinnert, wie er eigentlich, wie er von Natur aus ist – wer sich daran erinnert, wie er ohne die Vergebung und die neu machende Gnade Gottes ist, der bekommt nicht nur einen Blick für die Größe der Gnade Gottes. Der bekommt auch einen ganz neuen Blick für andere Menschen.
  Wir können dann nämlich nicht mehr, wenn wir einen anderen Unrecht tun sehen, so schnell und voller Verachtung sagen: Was ist das denn für einer?! – Sondern dann sollten wir als Christen sagen: Was ist der arm dran! Er ist jedenfalls ärmer dran als wir durch Gottes Gnade sein können.
  Wenn wir einen anderen die Ehe brechen sehen, wenn wir einen anderen lügen und betrügen sehen, wenn jemand anderen oder uns etwas Übles anhängen will – dann ist das alles und manches andere auch noch ganz gewiss nicht in Ordnung. Warum der oder die so handelt, eines können wir gewiss sagen: Die Gnade Gottes ist in seinem Leben keine  Wirklichkeit. Wenn es aber bei uns anders ist, dann sind wir reicher als er.
  Und nun: Wenn wir glauben müssen: Unser Christsein ist Gnade Gottes, ist Geschenk seines Geistes, dann sind wir den anderen diese Gnade schuldig! Das heißt nicht, dass wir gut heißen sollten, was sie tun. Aber es kommt gar nicht darauf an, dass wir ihr Tun beurteilen. Vielmehr kommt es darauf an: Dass ihnen in uns die Gnade Gottes begegnet.
  
  Schauen Sie noch einmal: Jesus gibt dieser Frau aus Sychar die Gabe seines Heiligen Geistes. Und nun verwandelt diese Geistbegabung ihren Lebensdurst und ihre Begierde in ein Sich-verschenken und Sich-hingeben ganz anderer Art. Jetzt geht von dieser Frau etwas aus, das für andere zu einer dauerhaften Erquickung innerhalb der Wüste dieser Welt wird. So lässt diese Frau ihren Krug am Jakobsbrunnen stehen und geht in die Stadt zurück. Und dort erzählt sie, was ihr widerfahren ist und wer ihr begegnet ist. Sie vermag das so zu tun, dass andere auch von diesem Brunnen lebendigen Wassers trinken wollen. Sie machen sich auf zu Jesus. Und aus ihrem Glauben aus zweiter Hand wird auch für sie ein Glaube aus erster Hand.
  Eben so stellt der Geist Gottes eine Ähnlichkeit her zwischen Christus und den Seinen. Wie er lebendiges Wasser spendet, werden sie es auch vermögen. Sie brauchen sich gegenseitig nicht mehr mit ihren Begierden zu verwüsten oder mit ihren Vorwürfen zu ruinieren. Vielmehr: Sie vermögen sich gegenseitig zu erquicken mit Gaben, die zum ewigen Leben dienen.
  Das kann nur gelingen, wenn wir an den anderen gleichsam an Gottes Stelle handeln. Denn Gott hat uns aus einer dunklen Vergangenheit oder trotz aller unserer Fehler in seine Gnade gerufen. Er hat darüber hinweggesehen, bei der Frau aus Sychar, bei dir und bei mir. Er hat darüber hinweggesehen, dass wir uns so oft nicht an ihn halten – und uns dennoch geliebt und aus Gnaden zu Christen gemacht.
  Wenn Gott aber bei uns darüber hinweggesehen hat, dann können wir es uns doch natürlich nicht leisten, bei anderen nicht darüber hinwegzusehen. Dann dürfen wir einfach nicht sagen oder denken: Was soll schon dabei herauskommen?! Gott hat das ja bei uns auch nicht gesagt!
  Es kommt also einfach darauf an, dass wir lebendiges Wasser anbieten in einer nach dem wahren Leben dürstenden Welt. Dazu bedarf es meistens gar nicht vieler Worte und großer Kunststücke. Dazu bedarf es meistens nur des ganz Einfachen: Da zu sein für den anderen, ihm zu helfen, ihn zu entschuldigen, Gutes von ihm zu reden und alles zum Besten zu kehren.
  Noch einmal: Eigentlich können wir das gar nicht. Aber wir sollen das auch gar nicht können. Solange wir unser Christsein als Leistung verstehen, solange können wir das nicht. Aber wir können uns die Augen dafür öffnen lassen, dass es eine Gnade ist, Christ zu sein. Und dann können wir uns gebrauchen lassen von Gott  -  als seine Werkzeuge und Mitarbeiter.
  
  So kann es also sein – wenn wir zugehört haben, wenn wir uns haben überzeugen lassen, wenn wir bereit geworden sind, Ihm zu begegnen unter Brot und Wein, dass wir an ein großes Ziel gelangt sind.
  So kann es also sein – scheinbar zufällig und von uns aus ganz unbeabsichtigt, dass wir wie jene Frau aus Sychar in gleicher Weise die Gabe des Geistes Gottes erlangt haben.
  So kann es also sein – dass Gott uns einen Mann geschickt hat, der einem müden und erschöpftem Wanderer vergleichbar, unserer Hilfe zu bedürfen schien. Aber dass wir zu dem Glauben gelangt sind: Diese höchst zufällige, beiläufige Begegnung heute gegen Mittag bedeutet eine neue gnadenreiche Wirklichkeit unseres Lebens. Amen.