Predigt über Johannes 4, 19-26 von Bernd Vogel
4,19
Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll.
Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater sucht solche Anbeter. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin's, der mit dir redet.- Johannes 4,19-26
Szene 1: Am Jakobsbrunnen
Eine Begegnung wie aus einem Märchen. Zwei geheimnisvolle Menschen. Eine Frau und ein Mann. Der unerkannte ‚Held‘ der Geschichte. Der „Messias“. So wissen die Lesenden und erfährt es die Frau aus seinem Mund. Doch sie ist es, die am Brunnen der Geschichte steht und Wasser schöpft Und er trinkt davon. Aus ihrer Hand.
Am Jakobsbrunnen. Uraltes Land Israels, von Jakob seinem Lieblingssohn Josef vermacht, nun schon seit Jahrhunderten im Land der Samaritaner, einer Mischbevölkerung im Nordosten Israels, in Konkurrenz um Land, Heiligtum und ‚Wahrheit‘. Damals zur Zeit des Nazareners wie heute: Israel und Westjordanland, Jordanien, Syrien und Palästina.
„Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden.“ „Tief ist der Brunnen der Geschichte“, dichtete einst Jörg Zink. Wer Frieden sucht im heiligen unheiligen Land, muss in den Brunnen steigen und zumindest das Wasser schöpfen, das darin ist. Verfaultes Wasser und Wasser des Lebens. All die unseligen Geschichten um Mein und Dein und Recht und Unrecht. Das Wasser muss geschöpft sein. Sonst wird Friede nicht kommen, nur Erschöpfung, Waffenruhe nach Selbstvernichtung.
Unsere kleine harmlose Geschichte zwischen einer Frau und einem Mann birgt einen Schlüssel für große Fragen. Er liegt auf dem Grund des Brunnens. Das Wasser muss geschöpft werden:
Wer war hier am Ort alles zuhause? Wessen Herden haben hier gegrast? Wer hat hier Dörfer und Städte gebaut und zerstört? Welche Götter haben die Völker angebetet? Welche Sehnsüchte haben sie dabei getrieben? Welche Hoffnungen wurden erfüllt und welche enttäuscht? … Für den, der es wissen will, steigt das Hin und Her der menschlichen Geschichte Eimer für Eimer aus dem Brunnen. Sie sollten es zusammen tun. Wie jene Frau und jener Mann am Jakobsbrunnen.
Seht hin, ihr Völker! Lehrt eure Kinder den Blick auf jedes Gesicht, das auftaucht, Menschenleben für Menschenleben, je eine Welt, ein Universum, das verging. Durch die Jahrhunderte führt der Weg ins Heute. Und immer noch die alten Fragen ungelöst: Wer hat das Recht auf dieses Land? Wem gehört es? Wer betet wo richtig an? Wer hat im ideologischen Sinne Recht? Wer muss klein beigeben und bekennen, dass er verloren hat, dem Untergang geweiht ist, Teil der Geschichte wird, vorbei, gewesen, nicht mehr da?
Die beiden aber – eine Frau und ein Mann – führen ein vorbildliches Gespräch, wie es sein könnte auch heute. Kein Verzicht auf die großen Fragen nach Geist und Wahrheit! Kein ersatzweise small talk, weil die großen Fragen ja doch nicht weiterführten. Stattdessen Respekt vor einander. Und ehrliches Fragen gleich ins Herz der Geschichte. Eine anfänglich noch ungestaltete Sehnsucht nach einer geistigen Kraft und Freiheit, die Orientierung gäbe und Lust auf Leben in seiner ganzen Fülle, die menschlich machte im tiefsten Sinn des Wortes.
Das Wasser aus dem Brunnen für den Körper und das Wasser aus dem Geist für Seele und Geist: Es wäre e i n e s , wie der Mensch nicht Körper und Seele und Geist, sondern e i n e s ist. Und die Menschheit ist e i n e . „One world trade center“ nennen die Amerikaner ihren neuen höchsten Turm in New York, errichtet anstelle des „world trade center“, das am 11.9. 2001 nach den Flugzeugattacken einstürzte. „Eine Welt Handelszentrum“ statt „Welthandelszentrum“ – ein kleiner Gedankenfortschritt könnte zu verzeichnen sein. Damals am Jakobsbrunnen waren sie weiter.
Szene 2: Pfingsten und Kirche
Ich sehe eine Gemeindeversammlung. Dieses Mal sind viele gekommen. Der Pastor hat nach gut drei Monaten die Gemeinde überraschend verlassen. Manche Gemeindeglieder fordern den Rücktritt des Kirchenvorstandes. Sie benennen Schuldige. Sie stellen die Machtfrage. Nun käme es darauf an, dass die Gemeinde, die Mitarbeitenden, die Kirchenleitung Spirit und Einsicht genug zur Verfügung haben, um in den Brunnen zu steigen, zumindest den Eimer herunterzulassen, um das Wasser zu schöpfen. So viel zu ertragen ist wenigstens. Verfaultes Wasser und lebendiges Wasser. Und nun käme es darauf an, dass ER dazu käme und das Gespräch eröffnete: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“
Ja, lieber Meister: Was aber sind „Geist“ und „Wahrheit“?! Da fast niemand in den Kirchen es mehr wagt und vermag, die großen Fragen auf die gar nicht kleinen, aber sehr konkreten Fragen zuhause, in der eigenen Gemeinde zu beziehen, treiben Kirchenleitungen und Kirchengemeinden so verhältnismäßig geistlos durch die Zeit. Irgendwie wurschtelt man sich durch. Unlösbare Probleme werden gerne verschoben auf Ebenen, wo – scheinbar – etwas lösbar ist. So kommen etwa im Konfliktfall Mediatoren in die Gemeinde und vermitteln irgendwie zwischen den Streitenden. Vermittlung ohne Mitte. Auf der Suche nach der Lösung von unlösbaren Fragen. Die großen Fragen werden peinlich vermieden; denn in dem Streit um den Weggang des Pastors steckt mehr; und man fürchtet zu Recht, dass es zum Himmel stinkt. Jeder weiß es aus dem Privatleben: Im schwerwiegenden Konflikt ist nicht viel zu regeln; und was zu regeln ist, ist keine Lösung im eigentlichen Sinn.
Pfingsten heißt: Tiefer schauen, den göttlichen „Geist“ erwarten, eine „Wahrheit“ für wahr halten, die mit der Person des Mannes am Brunnen zu tun hat, mit ihm identisch ist:
„… es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater sucht solche Anbeter.“
„Es kommt die Zeit und ist schon jetzt ..!“Landauf, landab aber zeigt sich ein anderes Bild: In unseren bundesdeutschen Kirchengemeinden im Jahr 2013 geht es – scheinbar – nicht um die großen Fragen. Da sind sich anscheinend alle schnell einig. Dein Jesus und mein Jesus, dein Verständnis von Glaube und meine Auffassung … das ist unterschiedlich, doch das trennt uns doch nicht! So sagt ‚man‘. Lass uns nicht über theologische Fragen streiten! Das bringt nichts. Ganz interessant zuweilen; was Menschen so glauben: Ein netter Zoo, vergnüglich anzuschauen oder auch mit Grausen. Aber lasst uns nicht davon reden Das führt doch zu nichts. Lasst uns über konkrete Dinge reden, z.B. darüber, ob unsere Kirchengemeinde noch eine ganze Pfarrstelle beanspruchen kann in Zukunft, ob unsere Diakonin die richtige ist, um die Jugendarbeit wieder flott zu bekommen, ob die Zusammenlegung unserer Kirchenkreise oder die Einrichtung von planenden Regionen im Kirchenkreis ‚zielführend‘ sind oder nicht. Lasst uns über neue Gottesdienstformen reden. Wo klappt es, dass junge Leute scharenweise mitmachen, mitfeiern, mitgestalten beim Gottesdienst? Und wenn es wo klappt: Was klappt denn da – und warum? Müssen wir die verfestigte Idee aufgeben, es könnten – mit ein wenig Hinführung - die Jugendlichen von heute noch Interesse finden an Lutherchorälen und Paul Gerhardt? Müssen wir ehrlich feststellen, dass die Tradition abgebrochen ist? Von Beerdigungsfeiern für junge Leute über die weniger gewordenen kirchlichen Trauungen bis zu den charismatischen Gottesdiensten: Überall machen nur dann junge Leute mit Herz mit, wenn i h r e Lieder gespielt und gesungen werden, wenn i h r e Formen von Trauer und Fest dominant sind. Ein sogenanntes ‚neues‘ Lied in einem ansonsten traditionellen Gottesdienst – wen lockt das? Auch in Taizé und auf Kirchentagen erweist sich: Junge Leute begeistert, was sich gut anfühlt, was Gemeinschaft erzeugt und Atmosphäre, was ihrem Leben Halt gibt. Die Feinheiten katholischer oder lutherischer Abendmahlstheologie interessieren nicht mehr. Manche Texte der klassischen Choräle sind unverständlich geworden. Andererseits singt sich auf Englisch alles Mögliche, was kritische Theologinnen und Theologen am liebsten längst verbannt hätten. Predigten sollen kurz und unterhaltsam sein. Lehrvorträge sind zu Recht verpönt.
Ohne theologische Arbeit aber verkommt die Kirche zum Club unvereinbarer persönlicher Interessen! Und Theologie nicht als Gedankenakrobatik, sondern als Beziehungsklärung: Haben wir möglicher Weise IHN vergessen? Predigen wir pflichtschuldigst biblische Texte, ohne IHN wirklich zu meinen? Rechnen wir mit SEINER Gegenwart in unseren Gottesdiensten und Gemeindeversammlungen? Ist Jesus Christus anwesend in unseren Planungen und Strategien? Glauben wir das? Was haben Haushaltskürzungen und Rückstellungen, Regionalisierung und neue Gottesdienstformen mit dem Mann aus Nazareth zu tun, der sich jener Frau am Jakobsbrunnen als der MESSIAS zeigt? Sind das nicht rein sachliche Fragen, die man vernünftig und strategisch geschickt regeln sollte? „Wissen“ ‚wir‘ andererseits, was die samaritanische Frau (die – von den rechtgläubigen Juden aus gesehen – ungläubige Ausländerin) „weiß“? „Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin's, der mit dir redet.“
Pfingsten: one world one day
Pfingsten feiern wir im Sinne des dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses: „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden..“.
Das Glaubensbekenntnis ist zur Beschwörung christlicher Frömmigkeit geworden. Es ist missbraucht worden als Glaubensgesetz: So musst du glauben! Wer das nicht glaubt, ist kein wahrer Christ. Zweifel sind Makel.
Luther wusste aus Erfahrung: Die‘ Anfechtung‘, der radikale Zweifel, die Bedrohung des Vertrauens in einen umfassenden Sinn, in einen Gott, der mich kleinen Menschen will und ruft und führt und am Ende erlöst, der darüber hinaus auch meinen Mitmenschen genauso meint und erlöst … die Bedrohung dieses Glaubens in den Nächten der Ungewissheit, der überbordenden und unlösbaren Fragen, der schmerzvollen Selbsterkenntnis, der Angriffe gegen meine Person von außen, der Infragestellung meiner ganzen Existenz … das gehört zum erwachsenen Glauben dazu. Es ist die Anfechtung nicht unausweichlich der Verlust, sondern unbedingt die Vertiefung des Glaubens.
Menschen aber verlieren auch ihren Glauben. Im zweiten Weltkrieg starb der Glaube von Millionen. Die Gesellschaft von Israel gehört zu den säkularsten Gesellschaften der Erde. Hier „glauben“ besonders wenige Menschen an einen Gott. Die Anfechtung der Shoah war zu mächtig. Gefühl und Denken konnten nicht mithalten mit dem Zerbrechen so vieler Leben. Glaube starb mit.
Das christliche Pfingsten ist weniger religiöse Ekstase, ist die Einladung an uns, mit der Frau am Jakobsbrunnen IHN zu erwarten. Wann ER kommt, dann dürstet ihn. Wir sollen ihm das Wasser reichen. Aus dem Brunnen unserer Geschichte. Und ER wird es verwandeln und in uns eine Quelle freilegen, aus der ER sein lebendiges Wasser für uns fließen lässt: Geist und Wahrheit.
Wir werden klar sehen, durchblicken. Es wird geweint werden und gelacht. Wir werden sein wie die Träumenden, wie der Psalm sagt. Aber hellwach dabei. Keine frommen Weltflüchtlinge, sondern messerscharf werden wir denken und reden und handeln. Und die ‚Welt‘ wird sich die Augen reiben, was das wohl für ein Volk ist, die da am Brunnen sich sammeln. - Und ER wird unter a l l e n erscheinen. Ob Menschen Gott Adonai, Allah oder den Dreieinigen nennen, ob sie ostasiatisch meditieren, in Schwitzhütten mit Geistern in Berührung kommen oder „gar nichts“ „glauben“.. jeder Glaube „an“ Gott ist religiöser Luxus, wenn nicht die Welt, die Politik, das Universum in den Blick kommt. Der Mann am Brunnen meinte nicht nette Gottesdienste in abgesicherten Kirchen. Er sprach von der Erneuerung der Welt. Er nannte es „Reich Gottes“ und wusste: „Nahe herbeigekommen ist das Himmelreich. Denkt neu und glaubt an die glücklich und frei machende Botschaft“: One world one day! „..es kommt die Zeit und ist schon jetzt“. [Amen.]
Perikope