Predigt über Johannes 5, 19-21 von Peter Haigis
5,19

Predigt über Johannes 5, 19-21 von Peter Haigis

Liebe Gemeinde,
es gibt Wunder. Wunderbare Entdeckungen zum Beispiel. Manchmal lassen sich mitten im grauen Alltag funkelnde Perlen finden und mitten im beiläufigen Wortwechsel lassen sich Schätze heben.
Eben noch war Jesus durch die Hallen mir den Kranken am Teich Bethesda gegangen. Wie muss man sich das vorstellen? Wie eine Krankenstation im Kurbad? Wohl kaum? Eher wie ein Lazarett. Wie eine Anstalt voller Elend. Inmitten dieses notvollen Ortes kam es zu einer Begegnung zwischen Jesus und einem Gelähmten, der bereits seit 38 Jahren dort lag und auf Heilung wartete. Und dann genügt ein Wort, um diesen Mann wieder auf die Beine zu bringen. Ein machtvolles Wort Jesu, das ihn, den Abhängigen, das Stehen auf eigenen Füßen lehrt. 38 Jahre lang nahm in sein Bett gefangen, nun nimmt er sein Bett – und sein Leben – in die Hand und geht.
Doch im nächsten Augenblick gibt es Streit, denn der Tag der Heilung war ein Sabbat, und am Sabbat trägt man nicht sein Bett. Das muss man sich einmal vorstellen: 38 Jahre lang trägt diese Liege einen gelähmten Mann – und dann dreht sich alles um, schlagartig: der Mann, eben noch an sein Bett gefesselt, trägt es und geht. Was für ein Sabbat! Was für ein göttlicher und von Gott geschenkter Tag! Was für ein Fest des Lebens! Was für ein Tag der Neu-Schöpfung! Und da treten dem zaghaft seine Beinfreiheit erprobenden Mann einige pedantische Gesetzeshüter entgegen, die es mit den Vorschriften ganz genau nehmen, die auf jeden Fall die Form wahren – und nichts als die Form, in Ewigkeit, Amen! – und machen diesem Mann, diesem Freigelassenen der neuen Schöpfung, Vorschriften.
Auf diese Begebenheiten hin gerät Jesus in Streit mit denen, die so wenig begriffen haben, dass der Sabbat für den Menschen gemacht ist und nicht der Mensch für den Sabbat. Die nicht begriffen haben, dass der Sabbat als Ruhetag im strengen Sinne verstanden zum Hohn werden muss demjenigen, der Jahrzehnte lang zur Bewegungslosigkeit verurteilt war, und der jetzt an diesem Sabbat, an diesem Freudentag laufen muss, laufen aus Freude an seinem neu gewonnenen Leben; der springen muss und tanzen und den ganzen Raum ausschreiten, der ihm bislang versagt blieb. Dieser Sabbat ist in der Tat für einen Menschen gemacht, der ihn ganz neu als Tag der Befreiung erlebt.
Mitten im Streit fallen nun Worte Jesu, die einfach so hingeworfen klingen, die aber die Kraft der Befreiung auch für uns heute entfalten können. Worte, die funkeln und leuchten. Worte, die sich als Schätze erweisen im Acker des Lebens, als Perlen im blassen Murmelspiel des Alltags. Worte, die auch für uns den Sabbat der Neuschöpfung, nein, den Tag des Herrn anbrechen und es Ostern werden lassen und neues Leben eröffnen.
Mich faszinieren an diesen knappen Versen die Verben. Sie verlocken mich dazu, immer wieder hinzusehen, genau hinzusehen. Vier zentrale Verben sind es, die die enge Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn zum Ausdruck bringen, zwischen Gott und Jesus Christus. Vier Verben: das Lieben, das Tun, das Zeigen und das Sehen. Vier Verben, über denen es Morgen wird, Ostermorgen. Vier Verben, über denen die Ostersonne aufgeht und hineinstrahlt in unser Leben und es neu werden lässt. Vier Verben, die uns am Ende nur staunen lassen, dass Leben dort erweckt wird, wo wir nur den Tod herrschen sahen.
Ich will mit Ihnen diese vier Verben ein wenig meditieren: das Lieben, das Tun, das Zeigen und das Sehen.
Ich beginne mit dem Sehen: „der Sohn sieht den Vater“ – heißt es in V. 19. Dieses Sehen ist keine zufällige Sache, kein Vorbeigleiten irgendwelcher Sinneseindrücke am Sehvermögen des Auges, so wie tagtäglich eine Unmenge von Sichtbarem im Strom der Sinnesreize auf unsere Netzhaut prasselt. Im Sehen, von dem hier die Rede ist, steckt das bewusste Hinschauen, das Richten des Sehsinnesauf etwas, das Hinblicken. Die Augen des Sohnes merken auf, sie richten sich auf den Vater, beobachten ihn und das, was er tut.
So gehen wir mit unserem Sehsinn um, wenn uns etwas genau interessiert und wir das Gefühl haben, nichts verpassen zu dürfen. Aufmerksamkeit in diesem Sinne ist gefordert im Straßenverkehr oder beim Verfolgen eines Fußballspiels. Wie genau wir dann hinschauen können! Wie konzentriert! Ohne uns ablenken zu lassen. Um genau das geht es hier auch, um hinschauende Aufmerksamkeit. Es gibt etwas zu lernen, durch genaues Hinsehen.
Damit bin ich beim Zweiten – dem Zeigen, denn aufmerksames Sehen reicht unter Umständen nicht: „der Vater hat dem Sohn auch etwas zu zeigen“ (V. 20). Sehen und Zeigen – das ist eine Art Kommunikation, wie ein stummes Miteinander-Reden. Beides gehört eng zusammen – das ist mir hier wichtig. Zu sehen gibt es nur dort etwas, wo mir auch etwas gezeigt wird. Ein guter Zauberkünstler wird seine Tricks in der Geschicklichkeit seiner Hände und in der Geschwindigkeit seiner Bewegungen verbergen. Da gibt es – wenn er denn gut ist – nichts zu sehen, beim besten Willen nicht. Und der Reiz, die Spannung, das Verwunderliche liegt ja gerade darin, dass es vor den Augen der Zuschauer verborgen bleibt, was sich da abspielt.
In unserem Fall, in Jesu Überlegungen zum Verhältnis von Vater und Sohn, ist es anders. Da geht es darum, das Entscheidende gerade nicht zu verbergen, sondern offen zu legen, eben zu zeigen. Sehen und Zeigen gehen eine Verbindung zueinander ein – ein stilles Gespräch der Hände und der Augen.
Mich erinnert das an einen Lernvorgang: der Meister zeigt seinem Schüler, wie es geht, und der Schüler sieht zu und ahmt nach, was er den Meister tun sieht. „Schau genau her“, höre ich in Jesu Betrachtung den Vater sagen, „so musst du es tun. So geht es.“
So geht was? Damit bin ich beim Dritten – dem Tun. Es ist das häufigste Verb in unserem kurzen Abschnitt. Fünfmal kommt es für sich genommen vor: „der Sohn tut nichts von sich aus, sondern nur, was er den Vater tun sieht, das tut auch er; und der Vater lässt ihn sehen und zeigt ihm, was er tut“ (V. 19f). Ganz eng werden die drei Verben – sehen, zeigen, tun – aufeinander bezogen. Jedoch bleibt das Tun in seiner Allgemeinheit merkwürdig blass und leer. Bis dahin ist unausgesprochen, worin denn nun genau dieses Tun besteht. Es bleibt merkwürdig unqualifiziert: tun kann man vieles.
Das ändert sich in V. 21. Dort taucht das griechische Verb für Tun noch einmal auf, allerdings in einem nun erklärenden und klärenden Zusammenhang. In der deutschen Übersetzung kommt das nicht zum Ausdruck, solange wir „Tun“ und „Machen“ unterscheiden. Im Griechischen ist es dasselbe Wort. Was der Vater „macht“ und was der Sohn ihn „machen“ sieht und ihm „nachmacht“, ist dies: er „macht“ lebendig. Es ist ein Leben schaffendes, Leben spendendes, Leben bewahrendes, Leben hütendes, Leben gewährendes und dem Leben dienendes Tun, das der Vater den Sohn lehrt.
Damit ist Gott der Schöpfer bei seiner ureigenen Sache. So bekennen wir ihn: als Schöpfer und Erhalter allen Lebens, als Quelle des Lebens. Wenn dieser Lebensfluss nun auf Jesus, den Sohn, übergeht und dieser hier von der engen Verbundenheit des Sohnes mit dem Vater im Spenden von Leben spricht, dann will der Evangelist dieses nun auch die Jüngerinnen und Jünger Jesu erkennen lassen und lehren. Vom Vater geht es über auf den Sohn und vom Sohn auf die, die in seiner Lebensschule stehen: „Lasst euch von der Lebendigkeit Gottes anstecken! Tut auch ihr das, was dem Leben dient! Lernt es vom Sohn, der es seinerseits vom Vater gelernt hat! Lernt leben und Leben schenken!“
Das ist der Sinn dieser Passage. Es geht nicht nur um tiefere Einsichten, nicht nur um die Weihen zu einem „höheren Bewusstsein“. Es geht darum, dass auch wir zum Tun angeleitet werden, zum Tun dessen, was im Sinne des lebendigen und Leben schaffenden Gottes ist, zum Tun dessen, was dem Leben in Gottes Sinne dient.
Damit bin ich beim vierten Verb – dem Lieben. Nur einmal wird es in unserem kurzen Abschnitt erwähnt und doch ist es zentral: „der Vater liebt den Sohn“ (V. 20). Die Liebe des Vaters zum Sohn ist das Band, das die gesamte Beziehung zusammen hält. Weil der Vater den Sohn liebt, bezieht er ihn ein in das, was er tut; lässt ihn teilhaben am Leben spendenden Schöpfungsprozess. Weil er ihn liebt, zeigt er ihm sein Tun, lässt es ihn sehen. Die Liebe macht die Qualität der Beziehung von Vater und Sohn aus und damit macht sie auch die Qualität des Sehens, des Zeigens und des Tuns aus.
Im Griechischen steht für das „Lieben“ ein Wort, das freundschaftliche Zuneigung meint. Der Vater und der Sohn sind einander freundschaftlich zugeneigt und diese Zuneigung soll weitergehen an diejenigen, die sich zu Jesus halten und ihm nachfolgen. „Ihr seid meine Freunde“, sagt Jesus einmal zu ihnen. So entsteht eine Kette der Freundschaft, eine Kette liebender Zuwendung: Was Liebe ist, lernt der Sohn vom Vater, die Jüngerinnen und Jünger Jesu lernen es von ihm, von Jesus, und die „Welt“ lernt es von denen, die Jesus Christus nachfolgen und seinen Namen tragen.
Mit dem Ostermorgen soll das Licht der väterlichen Liebe Gottes auch unser Sehen und Handeln prägen. Wie Jesus seinen Blick liebend auf die Menschen richtete, die vom Leben betrogen schienen, so soll sich auch unser Blick liebevoll denen zuwenden, die das Geschenk neuen Lebens brauchen. Und wie Jesus aus Liebe das Leben von Menschen erneuerte – nicht nur am Teich Bethesda –, so soll auch unser Handeln im Zeichen der Liebe Gottes geschehen. Dann wird es wirklich Ostern. Amen.
Perikope
Datum 30.03.2013
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 5,19
Wochenlied: 99
Wochenspruch: Offb 1,18