Predigt über Johannes 7, 28-29 von Friedrich Weber
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Predigt über Johannes 7, 28-29 von Friedrich Weber

Liebe Heiligabendgemeinde,
vielleicht haben Sie ja im zu Ende gehenden Jahr den französischen Kassenschlager „Ziemlich beste Freunde“ im Kino gesehen. Er erzählt die Geschichte eines sehr ungleichen Paares: ein steinreicher Aristokrat, der sich nach einem Sportunfall überhaupt nicht mehr bewegen kann, lässt sich von einem jungen Mann aus einer Einwandererfamilie pflegen, dem zwar jedweder stabiler Boden fehlt, der dafür aber im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Die beiden lernen voneinander und meistern so jeder für sich ein Stück ihrer jeweils irgendwie ausweglosen Situation: Enorm viele Menschen haben diesen Film gesehen und schreiben seither an Philippe Pozzo di Borgo Briefe, weil sie glauben, er könne ihnen in ihren eigenen schwierigen Lebenslage weiterhelfen – worum immer es sich auch handeln mag. Und Philippe Pozzo di Borgo kann sich darüber nicht genug wundern. Ihn qualifiziert doch nichts: er ist kein Arzt, kein Seelsorger, kein Therapeut – nur ein Mensch.
In einem Interview[1] sagte er: „Ich bin nicht gläubig. Für mich gibt es Gott nicht, es gab ihn nie…“ Aber auf die Frage nach Jesus Christus antwortete er: „Das ist etwas anderes. Ich bin ein großer Anhänger von Jesus. Was für ein Mensch! Er hat alles Bestehende umgekehrt, bis zu seinem eigenen Ende. Seine Botschaft der Güte, der Großzügigkeit, des Erbarmens ist unübertroffen.“ – Ja, was für ein Mensch! Seine gute Nachricht von der Güte und Barmherzigkeit Gottes und der Liebe für den Nächsten und zu sich selbst ist unübertroffen aber, dass Gott selbst uns in ihm begegnet, kann man das glauben? Philippe Pozzo die Borgo glaubt es nicht. So vermag er nicht denken. Und ich vermute, damit ist er nicht allein.
Dass Jesus Christus etwas Besonderes war, das kann man teilen. Dass seine Geschichte nachdenklich macht und dazu zwingt, zu bedenken, ob unsere Wege die richtigen sind und dem Nächsten guttun - auch damit werden viele einverstanden sein – aber dass in ihm Gott kommt? Oder andersherum: kann uns denn die Weihnachtsgeschichte, ihre frohe Botschaft überhaupt erreichen, wenn wir in dem Kind in der Krippe, dem Wanderprediger und dem Sterbenden am Kreuz „nur“ einen Menschen sehen? Und selbst wenn wir glauben wollen, dass Gott selbst zu Weihnachten Mensch wird– es ist und bleibt eine große Zumutung an unser Denken und Verstehen.
Nun könnte man meinen, diese intellektuelle Hürde sei typisch für uns Menschen des 21. Jahrhunderts – immerhin ist es ja unglaublich, was man heute alles weiß, erfoscht, entzaubert und erklärt hat. Doch es scheint vielmehr so zu sein, als ob der Deutungs- und Erklärungsbedarf seit alters her vorhanden ist und egal, wieviel man weiß: er ist nicht gestillt.
Wer ist also dieses Kind, das in der Krippe liegt?
Wer ist der Junge im Jerusalemer Tempel, der Mann im Garten Gethsemane?
Eine alte und immer neue Frage, mit der die Worte aus dem Johannesevangelium zu tun, die uns heute gesagt sind. Es wird von dem bereits erwachsenen Jesus berichtet, dass er von sich selbst gesagt hat: „Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den Ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn, denn ich bin von ihm und er hat mich gesandt.“
Und er sagt damit ja nichts anderes als: Ihr kennt mich und wisst, dass mein Vater aus Nazareth und Josef heißt und meine Mutter, Maria, mich in Bethlehem zur Welt gebracht hat. Ihr kennt meine Familie und ihre Wurzeln und wisst, wo ich zuhause bin. Und zugleich sagt er: Aber da komme ich nicht her. Eigentlich bin ich ein anderer. In mir kommen Himmel und Erde zusammen auch wenn ihr das so nicht denken könnt. Ich bin nicht einfach ein Glied in der Kette meiner Familiengeschichte, sondern der Bote eines ganz Anderen und Größeren als ihr glaubt.
Jesus widersetzt sich der Reduzierung darauf, nur ein ganz normaler Mensch zu sein. Das ist er auch – aber eben nicht nur und deshalb erklärt er sich selbst und eröffnet einen neuen Verstehenshorizont.
Den brauchen wir, wenn wir Weihnachten deuten und wenn wir unser eigenes Leben verstehen wollen. Den brauchten auch die Menschen vor zweitausend Jahren. Deshalb gab es Zeichen und Weissagungen, und den Stern am Himmel.
Deshalb erscheint den Hirten auf dem Felde ein Engel und erklärt ihnen, was in dieser Nacht passiert ist. Noch ehe die Hirten überhaupt irgendetwas gesehen oder erlebt haben, was sie nicht verstehen, wird schon die Bedeutung geliefert: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“
Beim genaueren Nachdenken finde ich es erstaunlich, das der Engel zu den Hirten und nicht zu Maria und Josef kommt. Immerhin waren die beiden waren eben unter den erbärmlichsten Umständen Eltern geworden, hatten eine Schwangerschaft hingenommen, die sicherlich quer zu ihrer Lebensplanung lag und werden vermutlich nicht  angenommen haben, dass Maria in dieser Nacht den Heiland geboren hat.
Das Ereignis und seine Bedeutung fallen auseinander.
Maria und Josef im Stall und davon entfernt die Hirten auf dem Felde stehen ganz bildlich dafür, wie schwer es ist, zusammenzubekommen, dass dies Kind in der Krippe der Retter der Welt, ist, dass Gottes Sohn Mensch geworden ist.
Sie waren, so könnte man fast sagen, so viel näher dran als wir und doch kein bisschen weiser. Deshalb erzählt die Weihnachtsgeschichte nicht nur von der Geburt des Christkindes, sondern auch davon, wie die Bedeutung dieser Geburt unter uns uns Menschen kam.
Der Engel hat es den Hirten gesagt. Sie wissen nun um das Wunder dieser Nacht.
Maria und Josef haben es erlebt. Doch erst, als die Hirten mit den Worten des Engels zur Krippe gekommen sind, als sie gesehen haben, was zu ihnen gesagt war, erst dann fügt sich alles zusammen. Erst sie erzählen Maria und Josef von dem Wunder dieser Nacht und diese Worte wird Maria in ihr Herz nehmen.
Und schließlich: erst als die Hirten das Kind„gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war und alle vor die es kam, wunderten sich sehr.“
Die sich wundern, das sind – alle Jahre wieder - auch wir.
In dem wir vor der Krippe stehen und staunen und hören, dass mit diesem Menschenkind Gottes Wirklichkeit in unsere Welt gekommen ist, fällt auch neues Licht auf unser eigenes Leben. Wir ahnen, dass es Gottes Horizont ist, der unserem Leben Sinn und Bedeutung gibt. Wenn wir zuhören und in unserem Herzen bewegen, was uns gesagt ist, werden wir ein bisschen mehr von dem verstehen, was wir erleben – in dieser Weihnachtsnacht und auf unseren alltäglichen Wegen.
Amen

  
  
    [1] Philippe Pozzo die Borgo im Gespräch mit Elisabeth von Thadden, Zeit Literatur, Nr. 49, November 2012, S. 31.)