Predigt über Johannes 7, 28-29 von Jan Hermelink
7,28
Predigt über Johannes 7, 28-29 von Jan Hermelink
Liebe Gemeinde,
nun kehrt allmählich Ruhe ein –
die Geschäfte sind seit einigen Stunden geschlossen, die häuslichen Vorbereitungen sind beendet,
die beruflichen und familiären Pflichte treten für einen Moment zurück.
Der Gottesdienst am Heiligen Abend – dieser Gottesdienst
in St. Nikolai, in der Universitätskirche am Rande der Innenstadt –
er soll uns zur Ruhe bringen, eine Atempause gewähren:
mit den vertrauten Liedern, mit den alten Texten, mit der Geschichte von der Geburt Jesu.
So lange haben wir auf diese Tage gewartet, auf die Momente der Ruhe.
Heute, hier, jetzt sollen sich die Erwartungen erfüllen, die in den letzten Wochen gewachsen sind.
Nun ist die Zeit erfüllt; die Stunde ist da.
Die Lieder und Texte,
die Weihnachtsgeschichte des Lukas-Evangeliums –
dies alles markiert: Jetzt! Hier! Endlich!
Endlich treten Aufgaben, Forderungen und Pläne zurück;
endlich – so scheint es mir – kann ich still werden, zu mir kommen, mich konzentrieren auf das, was ich mir erhofft habe –
wie unausdrücklich auch immer, wie unklar und zweifelnd.
In der (relativen) Ruhe dieses Abends – hier, jetzt –
identifiziere ich mich mit den Hirten:
wie sie ihr Tagwerk beendet, ihre Herden zur Ruhe gebracht haben und sich auf eine lange, auch langweilige Nacht einstellen.
Anders freilich als die Hirten weiß ich um das, was kommen soll: Ich warte auf das Ereignis, die Unterbrechung,
die diese Nacht einzigartig machen wird:
„Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn“,
der Glanz, die Fülle des göttlichen Lichts
„strahlte um sie her“.
Darauf warte ich heute Abend, unausdrücklich vielleicht, unsicher und zweifelnd – und zugleich von ganzem Herzen: die Klarheit, der Glanz Gottes, das Licht seiner Wahrheit möge mich erleuchten.
In der Ruhe dieses Abends soll es hell werden in mir, in diesem Gottesdienst wie in den folgenden Stunden möchte ich zu mir kommen.
Ich möchte die Bewegung nachvollziehen, die die Weihnachtsgeschichte bestimmt: von der großen Welt, mit Kaisern und Gouverneuren,
mit Finanzkrisen und Steuerschätzung,
mit Reiseströmen und überfüllten Hotels –
von der großen Welt in die Intimität der Krippe, konzentriert auf das Neugeborene,
auf den Einen, den Einzigen,
auf den die irdischen Wege ebenso zulaufen wie die himmlischen Gesänge:
Jetzt – hier – endlich ist der Heiland geboren,
da liegt er, hilflos und strahlend, ein Kind in der Krippe.
Wie die Kinder wollen wir werden zu Weihnachten, wollen zurück zu den vertrauten Anfängen,
wollen mütterliche Nähe erfahren,
den Glanz in den Augen der Eltern wieder sehen.
Wie die Kinder wollen wir werden;
wenigstens heute, in diesen Tagen, wollen wir nach Hause:
endlich wieder teilhaben am Glanz des Einen, des Einzigen, ohne Forderungen, ohne Pflichten und selbst gemachte Pläne.
Dieser Abend, seine Lieder, seine Bilder und Geschichten führen zurück in das verlorene Paradies der Kindheit – und wohl denen,
die heute einen Zugang zu ihrer Sehnsucht finden,
die den Glanz, die Klarheit erfahren – die Nähe Gottes.
Aber es gibt auch andere Erfahrungen.
Für Viele ist die Kindheit kein verlorenes Paradies, sondern ein Knäuel dunkler Erinnerungen;
es sind erschreckende, verstörende Bilder, die sich heute, hier an der Krippe einstellen.
Auf manche wartet keine Familie, sondern ein weiterer dunkler Abend;
und für manche ist es nur furchtbar,
jetzt, hier auf sich selbst zurückzukommen:
auf gescheiterte Pläne, zerbrochene Hoffnungen.
Die Klarheit des Herrn, der Glanz der Wahrheit – das ist oft eine schreckliche Klarheit, unbarmherzig, ohne schützendes Dunkel.
So ist es gut, dass sich in der Bibel noch andere Weihnachtsgeschichten finden – Geschichten, die nicht vom Christuskind erzählen,
sondern von einem erwachsenen Jesus, der sich als Sohn Gottes zeigt.
Eine Szene aus dem Johannesevangelium ist für heute als Predigttext vorgeschlagen: Jesus auf einem Fest in Jerusalem,
im Gespräch mit den Festpilgern über seine Botschaft
und im Konflikt mit den Autoritäten der Stadt,
die ihn zu kennen meinen: Josefs Sohn, aus Nazareth.
Da rief Jesus, während er im Tempel lehrte:
„Ihr kennt mich; ja ihr wisst, woher ich bin.
Und doch bin ich nicht von mir aus gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, und den ihr nicht kennt.
Ich kenne ihn, denn ich bin von ihm her, und er hat mich gesandt.“ –
Da suchten sie ihn zu ergreifen,
und doch legte niemand Hand an ihn,
denn seine Stunde war noch nicht gekommen.“ [Joh 7, 28–30]
Die Gespräche und Debatten wogen hin und her, vielstimmig, zweifelnd, voller Abwehr –
da ruft Jesus – genauer heißt es im Griechischen: da schreit er, unterbricht Rede und Gegenrede, wider alle Vernunft.
Jesus fällt aus der Rolle, verweigert sich der Kommunikation
– er schreit.
Vielleicht wie ein Säugling, hungrig oder verzweifelt;
vielleicht wie ein Kind, trotzig, zutiefst verletzt. Jesus schreit – wie dann später am Kreuz.
Auch dieser Schrei gehört zu Weihnachten.
Maria wird geschrieen haben, als sie ihr erstes Kind gebar.
Die Hirten schrieen vor Furcht, als es plötzlich strahlend hell wird.
Jesus schreit – wie alle Kinder schreien,
und wie manche Erwachsene: hilflos, verzweifelt, tief verletzt.
Wer heute, wer jetzt zur Ruhe kommt,
wer zu sich selbst kommt und in die Vergangenheit eintaucht –
dem mag auch zum Schreien zumute sein.
Da steigen die Kränkungen hoch,
die ich in den letzten Wochen und Monaten erlebt habe –
von Kollegen, von Schülern oder Lehrern, von fernen Gremien: „Antrag abgelehnt.“ Alle Arbeit, alle Mühe umsonst.
Da begegne ich den Verletzungen, die sich angestaut haben, vielleicht jahrelang:
„Leider können wir Ihre Bewerbung nicht berücksichtigen.“ Leider passt Ihr Projekt nicht in unseren Rahmen.
„Was willst Du denn noch hier?“
Wer zur Ruhe kommt, heute und in den nächsten Tagen und Nächten, in den Rauen Nächten, wie sie früher hießen,
wer sich nicht ablenken kann durch Besuchs- und Arbeitsprogramme – dem oder der mag vielleicht am Liebsten schreien, heulen wie ein Kind, mit all’ den Enttäuschungen, wütend, verstört und verzweifelt.
„Ja, ihr kennt mich“, schreit Jesus, „ja, ihr wisst“ –
ihr meint zu wissen, woher ich komme:
Ihr kennt meine Eltern, meine Familie, meine ganze Geschichte.
Das kann einen zur Verzweiflung bringen: Festgelegt zu werden auf die eigene Herkunft –
‚der Apfel fällt nicht weit vom Stamm’;
fixiert zu werden auf Sätze, die ich vor langer Zeit gesagt habe.
„Du bist doch der, der damals ...“
und nicht zuletzt: Sich selbst festzulegen:
Ich bin eben so. Ich kann nicht anders. Mir gelingt nichts. Alle Jahre wieder.
Jesus schreit – und man könnte ebenso schreien: Ihr meint mich zu kennen, ja –
Alles habt ihr erfasst,
seit der Geburt ist alles festgeschrieben.
Aber ich lasse mich nicht festlegen –
nicht von meiner Biographie und nicht von meinen Zeugnissen. Ich bin mehr, ich bin anders, als ihr zu wissen meint.
Ich handle und rede nicht aus mir selbst heraus – nein:
„Es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat. Ihr kennt ihn nicht – aber ich kenne ihn,
von ihm komme ich her; er hat mich gesandt.“
Es ist, als würde der Evangelist Johannes, der diese Szene schildert, zurückweisen auf die Weihnachtsgeschichte.
Da liegt ein Kind in einer Krippe. Mutter und Vater sind bekannt, registriert durch königliches Gebot,
Beruf und Lebensweg ihres Kindes sind vorgezeichnet.
Und dann kommt alles anders:
die Klarheit des Herrn, der die Hirten umstrahlt:
„Euch ist heute der Heiland geboren, Christus, der Herr, der Friedefürst.“
Das neugeborene Kind in der Krippe – Davids Sohn, gesandt von Gott,
der Retter der Welt.
Das Kind in der Krippe, Josefs Sohn –
und doch gesandt von Gott. Dieses Kind ist eine Botschaft: Nun beginnt etwas Neues.
Dieses Kind, dieser Mann ist ein Gesandter, ein Botschafter.
Dieses Kind ist ein Botschafter des Himmels,
und dieser Mann, Jesus, ist ein Gesandter der Höchsten, der Klarheit, der Gnade, der Wahrheit selbst.
Ihr meint mich zu kennen, ruft Jesus,
er ruft es – so erzählt Lukas – vom ersten Tag an –
aber ich komme von weit her,
aus der Welt Gottes, aus dem Reich der ewigen Wahrheit, aus dem Paradies.
Jesus lässt sich nicht festlegen – weder durch seine Herkunft noch durch seine Gegner.
„Sie suchten ihn zu ergreifen“, heißt es bei Johannes, aber keiner legte Hand an ihn.“
So wie der Schrei zu Weihnachten gehört, die Kränkung,
die Verzweiflung über das Vergangene all das Dunkle in mir –
so gehört auch dieses Wissen zu Weihnachten:
Ich bin mehr, viel mehr als meine Herkunft, als meine Taten und Worte, ich bin mehr als meine Verletzungen und mein Versagen.
Die Klarheit Gottes, die uns zu Weihnachten umstrahlt, sie erinnert auch mich – wie jeden Menschen – daran: Du bist gesandt von Gott.
Du bist ein Bote des Himmels.
Du bist eine Botschafterin, ein Botschafter der Wahrheit.
Weihnachten kommen wir zur Ruhe, wir kommen zu uns, wir werden zurück gebracht in die Kindheit.
Aber diese Kindheit ist eben mehr als die Familie, die Schule, mehr als die ersten Erfolge und die frühen Kränkungen.
Vor all dem steht die Wahrheit: Du bist gesandt von Gott. Meine Herkunft – das ist zuerst und zuletzt Gottes Wille.
Wenn wir heute zur Ruhe kommen,
allein wie mit der Familie oder Freunden –
dann mögen wir auch bedenken,
was an Jesus, dem Erstgeborenen zu sehen ist: Gott selbst hat uns gesandt.
Seit wir Kinder gewesen sind, tragen wir seine Botschaft in die Welt.
Oder noch einmal zugespitzt:
Es gibt eine Wahrheit, die nur ich kenne.
Es gibt eine Klarheit, die nur ich den Anderen vermittelt kann. Es gibt ein Wissen, es gibt Einsichten und Erfahrungen,
die mein Auftrag, meine Botschaft sind, meine Verantwortung.
Und schließlich, aber nicht zuletzt: Es gibt einen Schrei, einen Protest, den ich der Welt schuldig bin.
Heute, hier, jetzt mögen wir zur Ruhe kommen. Wir erwarten die Klarheit des Herrn;
wir hoffen auf den Glanz seiner Wahrheit.
Und was immer diese Wahrheit zutage fördern mag,
über unser Herkommen, unsere Erstarrung, unsere Resignation –
es wird zugleich Licht fallen auf die andere, die eigentliche Wahrheit, die uns umstrahlt, von Anfang an:
Du bist gesandt von Gott.
Du bist Botschafterin des göttlichen Friedens.
Du bist Träger, Trägerin des Lichtes, das stärker ist als alle Finsternis.
Und der Friede Gottes,
der Himmel und Erde umfasst,
und der weiter reicht als all unser Fühlen und Wissen, dieser Friede bewahre unsere Herzen und Sinne
in Jesus Christus. Amen.
nun kehrt allmählich Ruhe ein –
die Geschäfte sind seit einigen Stunden geschlossen, die häuslichen Vorbereitungen sind beendet,
die beruflichen und familiären Pflichte treten für einen Moment zurück.
Der Gottesdienst am Heiligen Abend – dieser Gottesdienst
in St. Nikolai, in der Universitätskirche am Rande der Innenstadt –
er soll uns zur Ruhe bringen, eine Atempause gewähren:
mit den vertrauten Liedern, mit den alten Texten, mit der Geschichte von der Geburt Jesu.
So lange haben wir auf diese Tage gewartet, auf die Momente der Ruhe.
Heute, hier, jetzt sollen sich die Erwartungen erfüllen, die in den letzten Wochen gewachsen sind.
Nun ist die Zeit erfüllt; die Stunde ist da.
Die Lieder und Texte,
die Weihnachtsgeschichte des Lukas-Evangeliums –
dies alles markiert: Jetzt! Hier! Endlich!
Endlich treten Aufgaben, Forderungen und Pläne zurück;
endlich – so scheint es mir – kann ich still werden, zu mir kommen, mich konzentrieren auf das, was ich mir erhofft habe –
wie unausdrücklich auch immer, wie unklar und zweifelnd.
In der (relativen) Ruhe dieses Abends – hier, jetzt –
identifiziere ich mich mit den Hirten:
wie sie ihr Tagwerk beendet, ihre Herden zur Ruhe gebracht haben und sich auf eine lange, auch langweilige Nacht einstellen.
Anders freilich als die Hirten weiß ich um das, was kommen soll: Ich warte auf das Ereignis, die Unterbrechung,
die diese Nacht einzigartig machen wird:
„Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn“,
der Glanz, die Fülle des göttlichen Lichts
„strahlte um sie her“.
Darauf warte ich heute Abend, unausdrücklich vielleicht, unsicher und zweifelnd – und zugleich von ganzem Herzen: die Klarheit, der Glanz Gottes, das Licht seiner Wahrheit möge mich erleuchten.
In der Ruhe dieses Abends soll es hell werden in mir, in diesem Gottesdienst wie in den folgenden Stunden möchte ich zu mir kommen.
Ich möchte die Bewegung nachvollziehen, die die Weihnachtsgeschichte bestimmt: von der großen Welt, mit Kaisern und Gouverneuren,
mit Finanzkrisen und Steuerschätzung,
mit Reiseströmen und überfüllten Hotels –
von der großen Welt in die Intimität der Krippe, konzentriert auf das Neugeborene,
auf den Einen, den Einzigen,
auf den die irdischen Wege ebenso zulaufen wie die himmlischen Gesänge:
Jetzt – hier – endlich ist der Heiland geboren,
da liegt er, hilflos und strahlend, ein Kind in der Krippe.
Wie die Kinder wollen wir werden zu Weihnachten, wollen zurück zu den vertrauten Anfängen,
wollen mütterliche Nähe erfahren,
den Glanz in den Augen der Eltern wieder sehen.
Wie die Kinder wollen wir werden;
wenigstens heute, in diesen Tagen, wollen wir nach Hause:
endlich wieder teilhaben am Glanz des Einen, des Einzigen, ohne Forderungen, ohne Pflichten und selbst gemachte Pläne.
Dieser Abend, seine Lieder, seine Bilder und Geschichten führen zurück in das verlorene Paradies der Kindheit – und wohl denen,
die heute einen Zugang zu ihrer Sehnsucht finden,
die den Glanz, die Klarheit erfahren – die Nähe Gottes.
Aber es gibt auch andere Erfahrungen.
Für Viele ist die Kindheit kein verlorenes Paradies, sondern ein Knäuel dunkler Erinnerungen;
es sind erschreckende, verstörende Bilder, die sich heute, hier an der Krippe einstellen.
Auf manche wartet keine Familie, sondern ein weiterer dunkler Abend;
und für manche ist es nur furchtbar,
jetzt, hier auf sich selbst zurückzukommen:
auf gescheiterte Pläne, zerbrochene Hoffnungen.
Die Klarheit des Herrn, der Glanz der Wahrheit – das ist oft eine schreckliche Klarheit, unbarmherzig, ohne schützendes Dunkel.
So ist es gut, dass sich in der Bibel noch andere Weihnachtsgeschichten finden – Geschichten, die nicht vom Christuskind erzählen,
sondern von einem erwachsenen Jesus, der sich als Sohn Gottes zeigt.
Eine Szene aus dem Johannesevangelium ist für heute als Predigttext vorgeschlagen: Jesus auf einem Fest in Jerusalem,
im Gespräch mit den Festpilgern über seine Botschaft
und im Konflikt mit den Autoritäten der Stadt,
die ihn zu kennen meinen: Josefs Sohn, aus Nazareth.
Da rief Jesus, während er im Tempel lehrte:
„Ihr kennt mich; ja ihr wisst, woher ich bin.
Und doch bin ich nicht von mir aus gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, und den ihr nicht kennt.
Ich kenne ihn, denn ich bin von ihm her, und er hat mich gesandt.“ –
Da suchten sie ihn zu ergreifen,
und doch legte niemand Hand an ihn,
denn seine Stunde war noch nicht gekommen.“ [Joh 7, 28–30]
Die Gespräche und Debatten wogen hin und her, vielstimmig, zweifelnd, voller Abwehr –
da ruft Jesus – genauer heißt es im Griechischen: da schreit er, unterbricht Rede und Gegenrede, wider alle Vernunft.
Jesus fällt aus der Rolle, verweigert sich der Kommunikation
– er schreit.
Vielleicht wie ein Säugling, hungrig oder verzweifelt;
vielleicht wie ein Kind, trotzig, zutiefst verletzt. Jesus schreit – wie dann später am Kreuz.
Auch dieser Schrei gehört zu Weihnachten.
Maria wird geschrieen haben, als sie ihr erstes Kind gebar.
Die Hirten schrieen vor Furcht, als es plötzlich strahlend hell wird.
Jesus schreit – wie alle Kinder schreien,
und wie manche Erwachsene: hilflos, verzweifelt, tief verletzt.
Wer heute, wer jetzt zur Ruhe kommt,
wer zu sich selbst kommt und in die Vergangenheit eintaucht –
dem mag auch zum Schreien zumute sein.
Da steigen die Kränkungen hoch,
die ich in den letzten Wochen und Monaten erlebt habe –
von Kollegen, von Schülern oder Lehrern, von fernen Gremien: „Antrag abgelehnt.“ Alle Arbeit, alle Mühe umsonst.
Da begegne ich den Verletzungen, die sich angestaut haben, vielleicht jahrelang:
„Leider können wir Ihre Bewerbung nicht berücksichtigen.“ Leider passt Ihr Projekt nicht in unseren Rahmen.
„Was willst Du denn noch hier?“
Wer zur Ruhe kommt, heute und in den nächsten Tagen und Nächten, in den Rauen Nächten, wie sie früher hießen,
wer sich nicht ablenken kann durch Besuchs- und Arbeitsprogramme – dem oder der mag vielleicht am Liebsten schreien, heulen wie ein Kind, mit all’ den Enttäuschungen, wütend, verstört und verzweifelt.
„Ja, ihr kennt mich“, schreit Jesus, „ja, ihr wisst“ –
ihr meint zu wissen, woher ich komme:
Ihr kennt meine Eltern, meine Familie, meine ganze Geschichte.
Das kann einen zur Verzweiflung bringen: Festgelegt zu werden auf die eigene Herkunft –
‚der Apfel fällt nicht weit vom Stamm’;
fixiert zu werden auf Sätze, die ich vor langer Zeit gesagt habe.
„Du bist doch der, der damals ...“
und nicht zuletzt: Sich selbst festzulegen:
Ich bin eben so. Ich kann nicht anders. Mir gelingt nichts. Alle Jahre wieder.
Jesus schreit – und man könnte ebenso schreien: Ihr meint mich zu kennen, ja –
Alles habt ihr erfasst,
seit der Geburt ist alles festgeschrieben.
Aber ich lasse mich nicht festlegen –
nicht von meiner Biographie und nicht von meinen Zeugnissen. Ich bin mehr, ich bin anders, als ihr zu wissen meint.
Ich handle und rede nicht aus mir selbst heraus – nein:
„Es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat. Ihr kennt ihn nicht – aber ich kenne ihn,
von ihm komme ich her; er hat mich gesandt.“
Es ist, als würde der Evangelist Johannes, der diese Szene schildert, zurückweisen auf die Weihnachtsgeschichte.
Da liegt ein Kind in einer Krippe. Mutter und Vater sind bekannt, registriert durch königliches Gebot,
Beruf und Lebensweg ihres Kindes sind vorgezeichnet.
Und dann kommt alles anders:
die Klarheit des Herrn, der die Hirten umstrahlt:
„Euch ist heute der Heiland geboren, Christus, der Herr, der Friedefürst.“
Das neugeborene Kind in der Krippe – Davids Sohn, gesandt von Gott,
der Retter der Welt.
Das Kind in der Krippe, Josefs Sohn –
und doch gesandt von Gott. Dieses Kind ist eine Botschaft: Nun beginnt etwas Neues.
Dieses Kind, dieser Mann ist ein Gesandter, ein Botschafter.
Dieses Kind ist ein Botschafter des Himmels,
und dieser Mann, Jesus, ist ein Gesandter der Höchsten, der Klarheit, der Gnade, der Wahrheit selbst.
Ihr meint mich zu kennen, ruft Jesus,
er ruft es – so erzählt Lukas – vom ersten Tag an –
aber ich komme von weit her,
aus der Welt Gottes, aus dem Reich der ewigen Wahrheit, aus dem Paradies.
Jesus lässt sich nicht festlegen – weder durch seine Herkunft noch durch seine Gegner.
„Sie suchten ihn zu ergreifen“, heißt es bei Johannes, aber keiner legte Hand an ihn.“
So wie der Schrei zu Weihnachten gehört, die Kränkung,
die Verzweiflung über das Vergangene all das Dunkle in mir –
so gehört auch dieses Wissen zu Weihnachten:
Ich bin mehr, viel mehr als meine Herkunft, als meine Taten und Worte, ich bin mehr als meine Verletzungen und mein Versagen.
Die Klarheit Gottes, die uns zu Weihnachten umstrahlt, sie erinnert auch mich – wie jeden Menschen – daran: Du bist gesandt von Gott.
Du bist ein Bote des Himmels.
Du bist eine Botschafterin, ein Botschafter der Wahrheit.
Weihnachten kommen wir zur Ruhe, wir kommen zu uns, wir werden zurück gebracht in die Kindheit.
Aber diese Kindheit ist eben mehr als die Familie, die Schule, mehr als die ersten Erfolge und die frühen Kränkungen.
Vor all dem steht die Wahrheit: Du bist gesandt von Gott. Meine Herkunft – das ist zuerst und zuletzt Gottes Wille.
Wenn wir heute zur Ruhe kommen,
allein wie mit der Familie oder Freunden –
dann mögen wir auch bedenken,
was an Jesus, dem Erstgeborenen zu sehen ist: Gott selbst hat uns gesandt.
Seit wir Kinder gewesen sind, tragen wir seine Botschaft in die Welt.
Oder noch einmal zugespitzt:
Es gibt eine Wahrheit, die nur ich kenne.
Es gibt eine Klarheit, die nur ich den Anderen vermittelt kann. Es gibt ein Wissen, es gibt Einsichten und Erfahrungen,
die mein Auftrag, meine Botschaft sind, meine Verantwortung.
Und schließlich, aber nicht zuletzt: Es gibt einen Schrei, einen Protest, den ich der Welt schuldig bin.
Heute, hier, jetzt mögen wir zur Ruhe kommen. Wir erwarten die Klarheit des Herrn;
wir hoffen auf den Glanz seiner Wahrheit.
Und was immer diese Wahrheit zutage fördern mag,
über unser Herkommen, unsere Erstarrung, unsere Resignation –
es wird zugleich Licht fallen auf die andere, die eigentliche Wahrheit, die uns umstrahlt, von Anfang an:
Du bist gesandt von Gott.
Du bist Botschafterin des göttlichen Friedens.
Du bist Träger, Trägerin des Lichtes, das stärker ist als alle Finsternis.
Und der Friede Gottes,
der Himmel und Erde umfasst,
und der weiter reicht als all unser Fühlen und Wissen, dieser Friede bewahre unsere Herzen und Sinne
in Jesus Christus. Amen.
Perikope
Datum 24.12.2012
Reihe: 2012/2013 Reihe 5
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 7,28
Wochenlied: 23
Wochenspruch: Joh 1,14a