Predigt über Johannes 8, 1-1 von Gerlinde Feine
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Was Jesus wohl in den Sand geschrieben hat? – Das frage ich mich schon seit meiner Kindheit, seit mir diese so bekannte biblische Geschichte zum ersten Mal begegnet ist. Ganz wenige Worte, ganz knappe Sätze genügen dem Evangelisten Johannes, um eine ungeheure Dramatik aufzubauen. Wir sehen das Szenario und wir spüren die Spannung, die in der Luft liegt an jenem Morgen in Jerusalem, oben auf dem Tempelberg. In der Mitte die Frau, die sie hinaufgehetzt haben, zitternd und voller Angst, nur notdürftig bekleidet und den sicheren Tod vor Augen. Da die Gruppe ihrer Ankläger, aufgebracht in heiligem Zorn, die Steine schon in der Hand, die gleich mit der Wut des in seiner Ehre Gekränkten ihren Weg finden sollen. Dort die Menge derer, die gekommen waren, um Jesus zu hören, und nun unvermittelt zu Zeuginnen und Zeugen einer Hinrichtung werden sollen: neugierig, erschrocken… Was ist mit den Kindern, die sie dabei haben? Halten die Mütter ihnen die Augen zu – „Schaut nicht hin!“ – oder zeigen auch sie auf die Frau – „So endet es mit den Treulosen!“  - oder schicken sie sie schnell zur Seite? Wo stehen eigentlich die Jüngerinnen und Jünger? Was denken sie in dem Moment? Beziehen sie Position zum Fall der Angeklagten? Oder überlegen sie, wie sie Jesus in Sicherheit bringen können, damit ihn nicht das gleiche Schicksal ereilt wie die Frau? Denn eigentlich kann seine Antwort nur „falsch“ sein in den Augen der Ankläger, ganz egal, in welche Richtung sie geht. Und wenn man schon einmal dabei ist, mit Hilfe von Steinen „Recht“ zu schaffen…
Und in dieser aufgeheizten Stimmung in der staubigen Hitze des Vormittags bückt sich Jesus und schreibt mit dem Finger in den Sand! Das beschreibt Johannes ganz präzise. Er bückt sich – er schreibt – er richtet sich auf und antwortet – er bückt sich wieder und schreibt weiter. Ganz ruhig. So, als ob ihn das alles gar nichts anginge. Fast ein wenig gelangweilt, so wie ich manchmal nebenher mein Blatt bemale in einer zähen Sitzung oder beim Telefonieren. Es gibt Menschen, denen entstehen da ohne großes Nachdenken richtige kleine Kunstwerke. Die zeichnen Portraits ihrer Gegenüber oder notieren einfach ihre To-Do-Liste. Die sind dann aber gar nicht so recht bei der Sache… Ist das denkbar? Dass Jesus gar nicht ganz bei der Sache gewesen ist an jenem Morgen? Wo es doch um Leben und Tod ging – auch um seinen eigenen?!? - Wirklich: Ich wüsste zu gern, was er geschrieben hat. Aber niemand hat es überliefert. Der Sand hat es nicht bewahrt. Und vielleicht hat Jesus ja selbst am Ende einfach mit dem Fuß alle Spuren verwischt…
Was in den Sand geschrieben wird, ist flüchtig. Nicht für die Ewigkeit. Die Gebote des Mose, auf deren Einhaltung die Ankläger der Frau pochen, die waren in Stein gemeißelt. Und da ist auf immer eingraviert: „Du sollst nicht ehebrechen!“ Sonderbar nur, dass die Frau allein da steht. Sie wurde doch auf frischer Tat ertappt, sagen ihre Richter. Wo ist der Mann, der bei ihr lag? Ihm droht keine Gefahr. Das war so in jener alten Welt, und das ist leider nicht viel anders geworden bis heute, und auch daran hat diese bekannte Jesus-Geschichte ihren Anteil. Für Jungen und Mädchen gelten unterschiedliche Maßstäbe in Sachen Tugend. Ein Mädchen, das sich mit wechselnden Partnern einlässt, ist eine Schlampe. Ein Junge, der das Gleiche tut, sammelt „Erfahrungen“. Wer die aktuellen Studien zum Wertesystem Jugendlicher heute liest, fühlt sich schnell um Jahrhunderte zurückversetzt, so viel ist da von „Ehre“ und „Anstand“ oder ihren Gegensätzen die Rede, wenn es um Sexualität, Liebe und Ehe geht, und so hart und unversöhnlich wird Rache geschworen, muss der Stolz der jungen Männer befriedigt werden, brauchen Mädchen das innere Bild der Unschuld und Reinheit. Immer noch wird mit zweierlei Maß gemessen, immer noch dürfen Männer sich nehmen, was sie wollen, und dann hinterher noch den Stab brechen über die Frauen, von denen sie es sich geholt haben. In Stein gemeißelt scheint das, ganz unverrückbar, trotz aller Gleichberechtigung und gender studies, seit damals. Und so lange wir das nicht hinterfragen, wird sich nichts ändern. Johannes berichtet nicht, wie viele der Männer, die die Frau aus dem Bett ihres Liebhabers gezerrt und vor die Stadt gehetzt haben, um sie zu töten, selbst schon einmal bei einer anderen als der eigenen Frau gelegen haben. Es werden einige gewesen sein. Aber das ficht sie nicht an. Im Gegenteil: „Wehe, meine Frau würde wagen, wozu ich mir das Recht nehmen darf…“ – die eigene Tat ist nur in den Sand geschrieben. Der Wind weht drüber, und sie ist weg.
Den Anklägern der Frau fällt das nicht auf. Heiliger Zorn treibt sie an. Innerlich sind sie auf jede Antwort vorbereitet, die Jesus ihnen geben könnte. Sagt er: „Tötet sie!“, werden sie ihn lächerlich machen und als Blender dastehen lassen; vielleicht ganz heuchlerisch den Spieß umdrehen und ihn „gnadenlos“ nennen, die Frau aber wohl trotzdem nicht laufen lassen. Will er sie an der Urteilsvollstreckung hindern, ist er ein Gesetzesbrecher und selbst des Todes schuldig, weil er Gott lästert. Dann werden die Steine für zwei reichen. Wenn er anfangen sollte, mit ihnen zu diskutieren – nun, so haben sie die besseren Argumente. Es muss sie zusätzlich provoziert haben, dass Jesus sich gar nicht mit ihnen beschäftigen will. Was schreibt er da nur so Wichtiges? Sie können es nicht lesen. Aber es gelingt ihnen mit ihrer Penetranz, ihn zu unterbrechen. Und er gibt ihnen die einzige Antwort, mit der sie nicht gerechnet haben. Er hinterfragt sie in ihrem frommen Selbstbewusstsein. Er erschüttert ihren heiligen Zorn. Er beschämt sie, ohne sie bloßzustellen: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Entscheidet selbst. Wie sicher seid ihr euch? Wie gerecht fühlt ihr euch? Was habt ihr vorzuweisen, ihr Männer, was macht euch zu Herren über das Leben und den Tod dieser Frau? Fragt nicht mich, was ihr tun sollt. Fragt euch. Ihr kennt die Gebote. Sie sind (noch vor den Frauen) zuerst den Männern des Volkes Israel gegeben worden: „Du sollst nicht ehebrechen.“ „Du sollst nicht begehren….“ „Du sollst nicht töten“ In Stein gemeißelt habt ihr sie bekommen, nicht in Sand geschrieben. Prüft euch selbst und handelt danach. Und Jesus bückt sich wieder, um Spuren in den Sand zu ziehen. Was er selbst denkt und tut, wird er später der Frau sagen: „Auch ich verurteile dich nicht.“ Der Menschensohn spricht frei. Er verdammt nicht. Er vergibt. Amnestie. Für die Frau und für ihre Ankläger.
In Sand geschrieben? Hoffentlich nicht. Auch wenn die Botschaft der Geschichte an die aufgebrachten Gesetzeslehrer, Glaubenshüter und Sittenwächter in den folgenden Jahrhunderten immer wieder in Vergessenheit geriet, und Frauen schon wegen geringer Vorwürfe schlimmste Strafen erdulden mussten, während die Männer einfach weitermachten wie bisher. – „Verurteile niemanden, nur weil er anders sündigt als du“, habe ich neulich irgendwo gelesen und mir gleich aufgeschrieben. Dieser etwas launige Spruch bringt unsere Geschichte auf den Punkt. Ich stelle mir vor, dass Jesus in der aufgewühlten Situation jenes Morgens damals etwas ganz Ähnliches in den Sand gezeichnet hat, etwas, das ihn und die anderen um ihn herum erinnern sollte, worauf es ankommt und wie wir selbst vor Gott stehen. Es ist weg, genau wie die Männer, die eben noch die Frau töten wollten, aber die Idee, die ist noch da.
Als das Johannesevangelium aufgeschrieben wurde, hatte das Zeichnen in den Sand für die junge christliche Gemeinde noch eine andere Bedeutung: Man konnte im Gespräch wie beiläufig eines der gängigen Symbole in den Sand malen, einen Fisch oder das Christusmonogram oder ein Kreuz. Und es dann gleich ganz schnell wieder auswischen, ohne entdeckt oder verurteilt und zu Tode gebracht zu werden, wenn man sich dem Falschen offenbarte. In den Sand schrieb man, was zur Vergewisserung diente: „Ich bin Christ. Ich lebe aus der Taufe. Ich lebe aus der Vergebung Gottes. Ich verurteile niemanden, nur weil er anders sündigt als ich. Ich richte nicht, weil ich weiß, dass ich dann selbst gerichtet werde.“ Wer das verstanden hat, der legt die Steine aus der Hand, die ihm die vermeintlich Gerechten geben wollen. Der sucht nach anderen Wegen, mit Konflikten umzugehen und mit Schuld und Versagen auch.
Vielleicht tut es uns gut, selbst öfter mal etwas in den Sand zu schreiben. Erst recht, wenn wir gezwungen werden sollen, Partei zu ergreifen gegen einen Menschen, wenn man uns auf die Seite einer tödlichen Gerechtigkeit ziehen möchte (und wir wissen alle, dass auch Gerüchte und üble Nachrede „töten“ können, und Worte wie Steine auf Menschen treffen). „Verurteile niemanden, nur weil er anders sündigt als du!“ Ja, so etwas könnte er geschrieben haben. Und daneben vielleicht noch die Zehn Gebote und ein Zeichen der Gemeinschaft mit ihm. Er – Jesus – verurteilt uns nicht. Wer sich daran erinnert, kann danach handeln. Amen.
Perikope
23.06.2013
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