Predigt über Johannes 8, 26b-30 von Claudia Krüger
8,26

Predigt über Johannes 8, 26b-30 von Claudia Krüger

Ganz oben und ganz unten: Gottes Liebe
  Der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zu der Welt. Sie verstanden aber nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach. Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir selber tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Er lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt. Als er das sagte, glaubten viele an ihn.
  
  Liebe Gemeinde!
  „Sie verstanden aber nicht…“. Wenn wir ehrlich sind: wir verstehen es auch nicht!
  Jedenfalls nicht auf Anhieb, wenn wir diesen Predigttext aus dem Johannesevangelium hören. Wo kommt Jesus her? Wer ist er und in wessen Auftrag handelt er? Wie begründet sich sein Anspruch, das Licht der Welt zu sein, wie wir es ein paar Zeilen zuvor lesen können? Ist er wirklich Gottes Sohn, also wahrer Mensch und wahrer Gott? „Ihr seid von unten her, ich bin von oben her; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt“, macht er den Pharisäern deutlich. Wer also ist der, der so von sich spricht und wer kann er für michsein, für uns irdische Menschen?
  Am Anfang des Johannesevangeliums steht nicht die Weihnachtsgeschichte, sondern der Satz: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ 
  Mensch gewordenes Wort Gottes. Oben und unten kommt da bereits zusammen, himmlische Herrlichkeit, die in den irdischen Niederungen zum Wohnen kommt. Das „Ehre sei Gott in der Höhe“ – das wird ganz unten auf der Erde buchstabiert. Und uns bleibt nur ein zutiefst menschliches Nachstammeln dessen, was eben menschlich kaum begreifbar ist und bleibt. Der Theologe Karl Rahner hat einmal die Menschwerdung Gottes folgendermaßen beschrieben:
  Gott hat sein letztes,
  sein tiefstes,
  sein schönstes Wort
  im fleischgewordenen Wort
  in die Welt hinein gesagt,
  ein Wort,
  das nicht mehr
  rückgängig gemacht werden kann,
  weil es Gottes endgültige Tat,
  weil es Gott selbst in der Welt ist.
  Und dieses Wort heißt:
  Ich liebe dich,
  du Welt
  und du Mensch.
  
  Es gibt Menschen, die sich schwer tun, an den Mensch gewordenen Gott in Jesus Christus zu glauben. Sie sprechen von „einer höheren Macht“, von „etwas Göttlichem“ einer Schöpfermacht, die in göttlicher Weisheit und Kraft das Universum regiert und uns umgibt. Unbestimmt bleibt sie, diese göttliche Macht, fernab im Himmel, überm Sternenzelt. Und doch göttliche Kraft, die alles umfasst: Anfang und Ende, Kommen und Gehen, Ursprung und Ewigkeit.
  Beides brauchen wir: Ganz oben: einen allmächtigen himmlischen Vater. Und ganz unten? Einen sich in menschlichster Weise erbarmender Jesus, der Zöllnern, Sündern, Ehebrecherinnen und allen Bedürftigen und uns Heutigen mit göttlicher menschlicher Liebe begegnet und mit allen am Tisch sitzt.
  Er ist die Gottesliebe in Person und spricht jedem Menschen seine Würde zu. Er verkündigt Gottes neue Welt und verkörpert sie gleichzeitig.
  Gott selbst, so macht es unser Text deutlich, ist in Jesus erkennbar, weil Jesus nichts von sich selbst aus tut, sondern all das an uns Menschen weiter gibt, was ihn sein Vater gelehrt hat. Und der ihn gesandt hat, lässt ihn nicht allein. Wenn wir also etwas über Gott verstehen wollen, so müssen wir in das menschliche Angesicht Jesu blicken. Anders als in ihm ist Gott nicht zu erkennen. Göttliche Sphäre und menschliche Abgründe – beide in Christus vereint. Das ist und bleibt eine Zumutung, die es auszuhalten gilt, weil wir den so dringend brauchen, der allezeit bei uns zu sein verspricht. Er führt Gottes Willen aus, bis er zum Vater zurückkehrt und mit ihm regiert und einmal alle zu sich zieht.
  Auch das, was er die Menschen gelehrt hat an Gottesliebe, Menschenliebe und Feindesliebe, auch das geschieht in Gottes Auftrag zum Wohl der Menschen.
  „Der mich gesandt hat, ist wahrhaftig.“ Jesus selbst sagt an anderer Stelle: „Ich bin die Wahrheit, bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“ Er verkörpert in seiner Person die einzige Wahrheit inmitten menschlicher Halb- und Unwahrheiten, inmitten von Egoismus und eleganter Lügen. Solche zuverlässigen ganz und gar glaubhaften Worte brauchen wir in unserer Welt der Fragwürdigkeiten  und Einflussnahmen, der Ermessensspielräume, der Zweifel und der unzähligen lauten, viel zu lauten Stimmen, die uns immer wieder verwirren. Wir brauchen Worte, die wahrhaftig sind und auch dann noch gelten, wenn einmal die letzten Worte verstummt sind. Und die uns zuletzt deutlich machen, dass wir wahrhaftig Gottes Kinder sind und bleiben.
  
  Früh schon macht Jesus im Johannesevangelium deutlich, wohin sein Weg führen wird: zum Leiden und Sterben. Aber wer kann begreifen, dass Gottes Sohn am Kreuz enden wird? Ja, dass dieser Weg auch gar nicht anders sein kann und ganz und gar Gottes Willen entspricht. Und doch muss es so kommen, damit untrennbar zusammen kommt und zusammen bleibt: Göttlichkeit und Menschlichkeit, Höhe und Tiefe, Traurigkeit des Todes und Herrlichkeit des lebendigen Gottes, Dornenkrone und Krone des Lebens. Abstieg in das Reich des Todes und doch zugleich auch Himmelfahrt. In unserem Text drückt sich das in dem Begriff der „Erhöhung“ aus.
  Erhöhung: zunächst einmal in der elendsten Form, die ein Mensch erleben kann: Erhöhung am Galgen. Unumkehrbar führt seine Bestimmung geradewegs dorthin. Ans Kreuz, ein grausiges Stück über dem Boden erhöht, wird er sein Leben aushauchen, wird er seinen elenden Tod erleiden.
  Befremdlich für alle, die das von außen betrachten. Wer aber selbst mitten im Elend steht, der kann mitunter die Nähe des Leidenden, des Mitleidenden mit uns Menschen, tief in seinem Innern begreifen, und Trost daraus schöpfen, weil er erfährt: „Er ist mir ganz nah, näher als ich mir selbst nah sein kann, weil er selbst auch da unten ist, ganz tief unten, Gottverlassen, und ringend mit dem quälenden „Warum!?“
  Ein an Aids erkrankter junger Mann hat es so formuliert: „Gott ist dort, wo unsere Zweifel an seiner Existenz am größten sind. In Gebieten, die von Katastrophen heimgesucht werden, wo durch Kriege und offenbar sinnlose Zerstörung das Wunderwerk der Schöpfung von uns in Frage gestellt wird, auch da ist Gott. Und in Familien, in denen durch Schicksalsschläge unermessliches Leid hervorgerufen und der Sinn all dessen hinterfragt wird, genau dort ist Gott. Auch als ich erfuhr, dass ich HIV-positiv bin, in dem Augenblick als mein Freund Wolfgang starb und während ich schließlich an AIDS erkrankte, war Gott bei mir. In Momenten, in denen meine Verzweiflung, mein Schmerz, meine Trauer und meine Wut auf Gott am größten waren, war Er mir am nächsten.“
  „Er lässt mich nicht allein“, sagt Jesus in unserem Text.
  Er lässt niemanden von uns je allein. Seine Liebe behält das letzte Wort auch für mein Leben. Wir Menschen brauchen diese Vergewisserung, dass nichts aus Gottes Liebe fällt.
  Von all den Sätzen in unserem Text ist dieser einzige auf Anhieb verstehbar: „Er lässt mich nicht allein;“ Und ich glaube, das ist der Satz, der unsere tiefste Sehnsucht in dieser Welt auszudrücken vermag.
  Mehr brauchen wir nicht zu wissen in unserem Leben, als dass dieses Wort durch alle persönlichen Tiefen und Höhen hindurch wahr bleibt.
  „Er lässt mich nicht allein“. Ja, es genügt allein dieser Satz, um leben zu können und einmal auch getrost sterben zu können.
  Er lässt mich nicht allein, auch dann nicht, wenn ich mich von ihm mitunter ganz und gar verlassen fühle. Dennoch bleibt er mir nah.
  Im Lukasevangelium ist die Nähe und Ferne Gottes in drastischer Weise ausgedrückt in Jesu Schrei am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen.“
  Beides: „Mein Gott“  und die Verlassenheit kommen untrennbar zusammen.
  Rudolf Otto Wiemer schreibt:
  
  Das Wort
  
  Keins seiner Worte
  glaubte ich, hätte er nicht
  geschrien: Gott, warum
  hast du mich verlassen.
  
  Das ist mein Wort, das Wort
  des untersten Menschen.
  
  Und weil er selber
  so weit unten war, ein
  Mensch, der „Warum“ schreit und
  schreit „Verlassen“, deshalb könnte man
  auch die andern Worte,
  die von weiter oben,
  vielleicht
  ihm glauben.
  
  Eine schwerkranke Frau, elend vom Krebs gezeichnet, hat kurz vor ihrem Tod einmal gesagt: „Ich habe nie so sehr viel mit Gott und Jesus und Kirche anfangen können, aber jetzt, wo es mir so furchtbar geht, da denke ich immer an den, der ganz allein im Garten Gethsemane gebetet hat: „Nimm diesen Kelch von mir“. Und sie fuhr fort: „Meinen Sie, es wird auch zu mir ein Engel kommen, der mir in dieser Todesangst, Gottverlassenheit und Einsamkeit Kraft schenkt?“
  Ein paar Tage später flüsterte sie lächelnd: „Ich fahre jetzt in mein Paradies.“
  
  Erhöht ans Kreuz –und erhöht in den Himmel. Hoheit, die zugleich die tiefste Erniedrigung umfasst. Alles Leid und alles Elend dieser Welt, jedes Unrecht und jede Verachtung, alle Tränen, die geweint wurden und die Menschen noch weinen werden, sind in dieser Erhöhung umschlossen. Der lebendige Gott ganz unten bei seinen Menschen, mitten in Leid und Elend und gleichzeitig der leidende Christus zum lebendigen Gott hin erhöht. Beides ist nun für immer Eines. Jesu Tod und Gottes Leben. Und weil das so ist, deshalb dürfen wir Menschen erkennen, dass am Ende alles umfasst ist von seiner göttlichen Liebe.
  Liebe Gemeinde, was in unserem Predigttext so abstrakt und seltsam fremd formuliert wird, dem können wir immer nur menschlich stammelnd, hoffend, zweifelnd und glaubend nachspüren. Und doch hängt unser christlicher Glaube von der Wahrheit dieser Worte ab.
  Göttlichkeit und Menschlichkeit, Allmacht und Ohnmacht, Verzweiflung und Hoffnung, Karfreitag und Ostern, Sterben und Ewiges Leben, „Ich und der Vater sind eins“, Anfang und Ende – umschlungen von Liebe, die zuletzt ewig sein wird.
  
  „Erhöht“ – eben auch im anderem Sinn: erhöht zum Höchsten hin, zum Vater, an dessen Seite Jesus sitzen wird, wenn er von dieser Erde erhöht wird. Wenn er gestorben und auferstanden ist. Erhöht ins ewige Leben.
  Zuletzt werden wir mit ihm dort sein, wo keine Macht uns mehr schaden kann, wo kein Leid, keine Tränen, kein Schmerz mehr sein werden. Wo die Liebe Gottes die Macht des Todes  und das Dunkel der Erde ganz und gar überstrahlt.
  Der kranke junge Mann hat seine Sehnsucht nach dem Licht der Auferstehung in diesen Worten ausgedrückt:
  
  „Jesus, wo bist Du?
  Meine Seele löst sich, und ich möchte wissen,
  wohin.
  
  Nichts wünschte ich mir mehr,
  als leichtfüßig, gläubig und voller Vertrauen
  auf dem Wasser Dir entgegenzukommen,
  und doch bin ich noch nicht stark genug.
  
  Lasst mich fliegen, ihr Zweifel, und knebelt
  mich nicht länger,
  damit durch die Hoffnung mir Flügel wachsen
  und ich dem Licht entgegenfliegen kann,
  anstatt länger in der Dunkelheit und Skepsis zu
  verharren.
  
  Und ist der See, auf dem ich zu Dir komme,
  auch entstanden durch meine Tränen,
  so weiß ich dennoch,
  eines Tages werde ich darüber wandeln und Dir
  entgegenkommen,
  und ich weiß auch,
  Du wirst mich erwarten und liebevoll
  empfangen.“
  
  Auch wir werden einmal erhöht werden zu Gott, er wird auch uns zu sich ziehen hinein in seine Auferstehung und sein ewiges Leben.
  Einige Kapitel später vollendet sich das, was in unserem Text bereits angesprochen ist. Dort sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“ (Joh.12,32)
  Er bleibt uns also ganz unten nahe, und weist uns hin auf den neuen Horizont, auf das, was „dort oben“ uns erwartet. Dorthin wird er uns alle ziehen, in die ewige Liebe seines Vaters, in sein himmlisches ewiges Reich der Liebe, wo wir als seine Kinder mit ihm leben werden.
  
   „Als er das sagte, glauben viele an ihn.“ So endet unser Textabschnitt. Wer das glauben kann, dass Vater und Sohn untrennbar eins sind, und dass er auch uns niemals allein lässt, der darf sich als Gottes Kind fühlen. Hier vollenden sich der Willen Gottes und die Sendung des Sohnes in unserer Gewissheit, dass auch wir Kinder Gottes sind und bleiben.
  
  In einem Gespräch mit einem Mitte Fünfzigjährigen, dessen Eltern kurz hintereinander verstorben sind, habe ich über unser „Kindsein“ gesprochen.
  „Ja“, meinte er, „es ist seltsam, ich fühle mich mit einem Mal wie ein Vollwaise, obwohl ich doch schon so alt bin und schon so lange meine eigenen Wege gehe.“ „Und trotzdem“, erwiderte ich, „es wird uns niemals mehr ein Mensch so lieben, so ohne Wenn und Aber, wie es eben liebende Eltern tun, die bereit sind, einem alles zu vergeben und uns jederzeit wieder in ihre offenen Arme zu schließen. Wenn sie sterben, dann ist es, als würden unsere Wurzeln gekappt. Und  doch begleitet uns unser Leben lang die Erinnerung an ihre Liebe – und gibt uns neuen Halt auf andere Weise.“ 
  Gut aber ist es, wenn wir wissen, dass es noch einen Vater gibt, der in göttlicher Liebe bei uns ist und bei uns bleibt. Untrennbar gehören wir zu ihm und bleiben seine Kinder, was auch immer geschieht. Und einmal werden wir dort sein, wo er ist und seine Worte werden ihren vollen ewigen Klang entfalten:
  „Ich liebe dich, du Welt und du Mensch.“
  Amen.
  
  
  Literatur:
  Markus Commercon: Mein Gott AIDS, S. 47f
  Markus Commercon: Mein Gott AIDS, S. 96
  Karl Rahner, Das große Kirchenjahr. Geistliche Texte, Freiburg, i.Br. 1987
  Rudolf Otto Wiemer: Das Wort, in: Hrg. Friedrich Schorlemmer: Das soll dir bleiben, S.397
  
  
  Liedvorschläge:
  Lass mich dein sein und bleiben;  EG 157
  In dir ist Freude;  EG 398
  Jesus lebt, mit ihm auch ich; EG 115
  Ist Gott für mich; EG 351
  Warum sollt ich mich denn grämen; EG 370