Predigt über Johannes 8, 31-36 von Axel Denecke
8,31
1.
Das Jahr geht zu Ende und ein gewaltiger Predigttext wird uns da förmlich entgegen geschleudert. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“. Viel zu groß, zu gewaltig für uns. „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Ach, was ist Wahrheit? Und wann sind wir schon frei?
Sicher, natürlich, von Freiheit wird allerorten viel geredet. Unser Bundespräsident hat sie sich –immer wider zitiert- auf die Fahnen geschrieben. Gepaart mit dem Wort „Verantwortung“. Und dann gibt es ja so viele freiheitsliebende Menschen. Wer ist nicht dafür? Sogar eine politische Partei haben wir, die sich mit dem so  schönen Wort „Freiheit“ schmückt. Natürlich! Doch ehrlich: Kommt es uns da nicht recht abgeschmackt vor? Darf man doch anständigerweise noch fragen. Und wo sind, ach, all die so „freien“ Menschen in unserer Online-Konsum-Hightech-Dax  global vernetzten Gesellschaft? Darf man anständigerweise doch auch fragen, ohne gleich als Miesepeter da zu stehen? Freiheit in einer total durchorganisierten  Gesellschaft, wo bis in die allerkleinsten Teilgebiete hinein alles durchgeplant und auf effektive Nutzung hin gestylt ist?
Soll ich Beispiele nennen? Also, wenn ich z.B. bei Aldi, Penny, Edeka oder wo auch immer, bei Saturn oder Obi einkaufen gehe und mir „ganz frei“ etwas zum täglichen Gebrauch oder zum Genuss aussuche, da ist alles schon vorsortiert, vorgeplant, mir kaufgerecht vor die Augen gestellt, in den Mund gelegt, dass ich gar nicht mehr anders kann, als „frei“ zu wählen, was man mir  vorsetzt. Keine Neuigkeiten erzähl ich da, ist einfach so. Wissen wir alle, auch wenn wir’s immer wider verdrängen und so tun  als ob wir da freie Entscheidungen  fällen. Und in der Politik genauso. Welche Partei ist wirklich frei? Und welcher Wähler entscheidet frei und nicht vormanipuliert? Ach, ich hör auf mit dieser Klagerei am Altjahrsabend. Doch das alles kommt mir in den Sinn, geht nicht anders, wenn ich das große evangelische  Wort aus dem Munde des johanneischen Jesus höre. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit wird euch frei machen“. Erkennen wir? Sind wir innerlich frei? Und haben wir die Wahrheit?
2.
Vielleicht ist es bei all diesen großen Fragen zunächst mal ganz gut, dass jede/r von uns  sein eigenes Leben in diesem Jahr noch einmal Revue passieren lässt, so gut jedenfalls, wie es geht in dieser Stunde hier in der Kirche. Was ist (mir) in diesem Jahr gelungen?....  Was ist mir nicht gelungen? … Wo bin ich etwas weiter gekommen auf meinem Weg? …. Wo habe ich gar ein klein wenig mehr „Wahrheit“ über mich, über die Menschen neben mir, über die Welt, in der ich lebe, erfahren, erkannt?... Wo bin ich  dadurch sogar freier geworden, innerlich freier, jedenfalls subjektiv gefühlt? … Oder auch nicht? Lebe ich in vielen Zwängen? …. Gerät mir alles durcheinander, so dass ich immer weiter weg von dem komme, was „wahr“ ist, „wahr“ für mich? … Ist gar mein ganzes Leben nur ein Trugbild?  Scheint es jedenfalls zu sein?... Oder auch nicht, weil mich all diese Fragen an mich selbst gar nicht kümmern, weil ich einfach so oder so –mit oder ohne Wahrheit mit oder ohne Freiheit- irgendwie durchkommen will durchs Leben, schlecht und recht, besser: mehr als schlecht als recht?... Viele Fragen. Ich könnte noch mehr stellen.
Zeit jetzt in der Stille darüber nachzudenken. Ich lade Sie dazu ein, ich mute es Ihnen zu, ich dringe nicht in sie ein, aber ich bitte Sie darum, lasse Ihnen Zeit. Sie haben die „Freiheit“, ja die haben Sie, meiner Bitte nachkommen (2 Minuten in sich hinein zu schauen) oder auch nicht (2 Minuten Pause, leere Zeit)
[ 2 Minuten oder auch 3 Minuten Stille ]
3.
Gut wäre es jetzt, wenn wir einfach ins Gespräch kämen. Das geht aber nicht. [ Oder doch? Abhängig von konkreter Situation, Prediger und Hörer] Daher blicke ich zunächst noch einmal [3.1.] ganz genau in den Predigttext hinein, der uns diese Frage stellt, dann [3.2] blicke ich wieder auf uns und am Ende [3.3] blicke ich noch einmal ganz allgemein auf das vergangene Jahr in unserer Gesellschaft, mit dem ich ja begonnen habe.
3.1
Da waren also Juden, heißt es, die da„glauben“ an Jesus. Sie glauben ihm. Er muss sie beeindruckt haben durch das, was er sagte und was er tat. Skeptisch vielleicht vorher, skeptisch also wohl zunächst, aber dann beeindruckt er sie doch. Und Jesus, der sehr schnell ins Herz der Menschen blickt, sie versteht, wie sie wirklich sind, sie vielleicht sogar besser versteht als sie sich selbst, er schleudert ihnen also –diesen Juden, die erst skeptisch sind, dann an ihn glauben- den Satz entgegen: „Wenn ihr mir vertraut, so werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“. Warum sagt Jesus so etwas? Warum provoziert er sie so? Denn die abwehrende Reaktion der Leute macht es ja deutlich, dass er sie damit überfordert hat. „Wir sind Abrahams Kinder und niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst  du dann. Ihr sollt frei werden?“ Da ist also wieder die alte Skepsis, auch der Stolz von Menschen, die sich durchaus frei fühlen als Abrahams Kinder, frei in einem freien, na ja nicht so ganz freiem Lande, unabhängig, niemandem untertan. Jesus hat sie wohl bei ihrer Ehre gepackt. „Wir sind zwar bereit, Dir zu glauben, gar an Dich zu glauben, weil Du uns durchaus beeindruckst, ja doch schon, aber wir als stolze Kinder Abrahams gehen weiter unseren eigenen Weg, haben unsere gute Tradition, Sitten, Gewohnheiten, mit denen wir uns in unserem Leben eingerichtet haben. Manche sagen zwar. Mehr schlecht als recht, wir aber sagen: durchaus recht. Wir sind zwar bereit, auch Dir zu glauben, auch an Dich zu glauben, ja sind wir … aber doch nicht so ganz und gar und alleine. Denn wir kennen die Wahrheit unseres Lebens als freie Kinder Abrahams.“
So in etwa werden sie geredet haben, als Jesus sie provoziert. Und er provoziert noch mehr. Ungeheuerlich sogar. Er wirft ihnen an den Kopf, ihnen, die doch irgendwie an ihn glauben und es durchaus gut meinem mit ihm, ihnen wirft er an den Kopf: „(Ihr seid) der Sünde Knecht… (nur) wenn euch de Sohn frei macht, seid ihr wirklich frei“. Das ist ungeheuerlich. Wenn mir einer so etwa sagte, so würde ich mehr als nur lauthals protestieren. Das tun im Folgenden diese vorher an Jesus glaubenden Juden natürlich auch, sie wenden sich entrüstet von ihm ab.
Doch warum tut Jesus das? Warum provoziert er so?
Er stellt sie einfach vor die entscheidende Frage: Wie ist es mit deinem Leben? Ist es intakt? Bist du mit dir im Reinen? Und ich, Jesus,  sage dir auf den Kopf zu: „Du bist nicht mir dir im Reinen. Dein Leben ist nicht intakt. Trotz aller Beteuerungen von der Freiheit der Kinder Abrahams usw. usw.“ --- „Konfrontierende Seelsorge“ kann man das nennen. Ich kann mich nicht mehr drücken, ich werde auf mich selbst zurück geworfen, auf das Innerste von meinem Innersten. Schöne Sitten, Gebräuche, Traditionen, Gewohnheiten, alles mehr oder weniger schlecht und recht (s.o.) zählen nicht mehr. Ich bin jetzt ganz gefragt, auch in Frage gestellt. Das passiert immer, wenn man es mit Jesus zu tun bekommt, wenn man in seinen Kreis, ja auch in seinem Dunstkreis gerät. So ist das nun mal. Auch am Altjahrsabend.
Und dann also –Provokation und Verheißung, ja Lösung des Ganzen in einem- „Wenn ihr meinem Wort vertraut, werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“. Wenn ich mich wahrhaft davon provozieren lasse, wenn ich mich dadurch auch in Frage stellen lasse, alles, was ich bisher getan, geglaubt, erkannt habe, dann, ja dann kann es geschehen: Ich werde im Dunstkreis Jesu, im Einflussbereich von ihm, die Wahrheit meines Lebens erkennen und werde frei werden, wirklich frei, zunächst innerlich frei und dann wohl auch äußerlich.
Wie das? Ganz einfach und auch ganz verrückt schwer. Ich ‚muss’ mich auf Jesu Lebensstil einlassen. Ich ‚muss’ ihn zum inneren Zentrum meines Lebens machen. So wie Paulus später sagt. „Nun lebe nicht mehr ich, sonder Christus lebt in mir“. Verrückt, großenwahnsinnig, doch es geht. Jesus provoziert uns dazu, provoziert die dazu, die an ihn glauben wollen, ja gar ‚müssen’? ‚Müssen’ wir natürlich nicht, kein Mensch muss ‚müssen’. Doch wenn wir es mit ihm zu tun bekommen wollen, geht es nicht anders, billiger geht es nicht. Und dann der Zuspruch wenn du es tust, wenn du es wirklich tust, ganz wahrhaftig und ehrlich, ohne geheimen Vorbehalt, dann wirst du die Wahrheit erkennen, die Wahrheit über dich, wie du wirklich bist, im Innersten und du wirst frei werden, ein königlich freies Kind Gottes. Jesus hat diese Freiheit in uns hinein gelegt, sie uns eingepfropft. Wenn, ja wenn wir uns von ihm wirklich provozieren lassen und nicht resigniert oder gelangweilt oder skeptisch oder hochmütig abwinken. Wenn….
3.2
Ich gehe davon aus, dass wir hier dazu bereit sind. Sonst säßen wir ja nicht in der Kirche, wollten am Altjahrsabend nicht Gottes Wort an uns heran lassen.
Und dann ist es so, dass wir uns ganz persönlich wieder in der Stille fragen könnten -ganz ehrlich, weiß ja kein anderen- ob wir wirklich bereit sind, uns am Lebensstil Jesu zu orientieren, nicht nur ein bisschen, hier und da einmal, sondern eben ganz und gar, jeden Tag, jede Stunde, in jedem Augenblick. Der „Lebensstil“ Jesu, sage ich: Also wie er lebte, wie er mit anderen Menschen umging, wie er sie im Tiefsten ihrer Seele verstanden hat, wie er Gott vertrauensvoll „Vater“ zu nennen wagte – und dann auch, was er tat, wie er handelte, wie er in jeder Situation das tat, was recht war vor Gott, wie  er so die Gebote Gottes ganz und gar zu seinem Lebensinhalt machte. Ach, ich könnte jetzt noch so vieles aufzählen. Muss ich nicht extra tun, denn im Grunde wissen Sie es, wissen wir es alle, denn wir kennen Jesus, auch wenn wir keine  schlauen Theologen sind. Wir kennen Jesus, weil wir das Beste, das Tiefste, das Innerste in uns selbst kennen. Denn darin ist Jesus verborgen, unsichtbar, aber höchst wirksam.
Und wenn wir uns daran halten, uns einfach daran halten, es jeden Tag neu einüben, dann geschieht es, nicht wie auf Knopfdruck, sondern es wächst langsam heran. Wir erkennen, wie und was wir in Wahrheit sind: Geliebte Kinder Gottes. Von Gott geliebt ganz und gar. Das erkennen wir, und das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit über uns. Und diese  Wahrheit und die macht uns frei, macht uns innerlich frei, unabhängig,  einzigartig, wie ein jeder, eine jede von uns ist. Ein einigartiges, unverwechselbares geliebtes Kind Gottes. Glauben Sie das? Wenn Sie es glauben, dann haben sie die Wahrheit erkannt und sind ein freies, von aller „Sünde“ befreites  Kind Gottes, können neu das Leben sehen, das vor ihnen liegt, so wie Martin Luther es als Konsequenz seines neu geborenen Glaubens ganz einfach ausdrückte. „Der Christ ist ein freier Mensch –königlich frei.- und niemanden untertan“. Ja, so ist es. Doch er setzte sofort hinzu, das ist die Konsequenz dieser Freiheit. „Der Christ ist (daher auch) ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“. Königliche Freiheit von jedermann und königlicher Dienst an jedermann im Geiste Christi zugleich.
Geht das? Gibt es das? Ja, das gibt es, das ist das grandiose Geschenk der Freiheit Gottes in uns, befreit dazu, in dieser Welt diese Welt im Sinne  Gottes zu gestalten, na sagen wir bescheidener: ein wenig mit zu gestalten. Jeder erkennt und erfährt es auf seine ganz ureigenste Weise, ganz individuell und persönlich. Unser Bundespräsident z.B. so, dass er aus seiner Erfahrung von „Freiheit und Verantwortung“ spricht. Gut so, für ihn, vielleicht kann man sich daran lang hangeln. Paulus z.B. so, dass er in fast mystischen Worten sagt. „Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus in mir“. Und jeder von uns kann seine eigenen Worte dafür finden, um den wunderbaren, ja königlichen Befreiungs- Satz: „Die Wahrheit Christi wird euch frei machen“ für sich ganz persönlich durchzubuchstabieren. Ein ganzes Leben lang haben wir Zeit dazu, heute nur haben wir uns am Altjahrsabend besonders daran erinnert.
3.3
Ach ja, Altjahrsabend und unsere –wie habe ich gleich eingangs gesagt ?- „Online-Konsum-Hightech-Dax global vernetzte Gesellschaft“ heute. Wie steht’s damit? Und mit all den Abhängigkeiten, in denen wir uns real bewegen? Natürlich, sie sind da, keine Frage. Kann man weder wegdiskutieren noch wegzaubern. Wird auch im Neuen Jahr wieder so sein. Das ist wie ein äußerer Panzer, der uns umgibt. Er kann drücken, auch erdrücken. Doch an uns liegt es, ob dieser Eisenpanzer uns erdrückt oder zu einem kleidsamen Gewand wird, das zu uns passt, das uns angepasst wird. Nicht wir passen uns dem Panzer an, sondern das Kleid passt zu uns. All die  Abhängigkeiten bleiben, keine Frage, doch ob wir dabei unfrei werden oder uns befreien davon und unseren eigenen „Lebensstil“, eben den „Lebensstil“ Jesu leben, das liegt ganz an uns. So frei sind wir, ja wirklich so frei, königlich frei,  ja und vielleicht sogar erlöst, damit unser Leben gelingt. Und es gelingt, wenn wir der Wahrheit Gottes über unser Leben vertrauen, einfach darauf vertrauen, dass wir tatsächlich alle geliebte Kinder Gottes sind und dass er uns nicht fallen lässt.
Das habe ich von Jesus gelernt. Ich glaube ihm, ich vertraue ihm. Und dann gilt in der Tat, keine Provokation mehr, sondern heilvoller Zuspruch. „Ja, die Wahrheit Gottes über mich, die wir mich frei machen, ich bin und bleibe ein freies und geliebtes Kind Gottes.“
Das gilt nicht nur als Fazit für das alte Jahr, sondern das kann vor allem  auch das Motto für das neue Jahr, anno domini 2013, sein. Was gibt es Schöneres? Besseres? Wahreres?
Perikope
31.12.2012
8,31