Predigt über Lukas 18, 31-43 von Heinz Behrends
18,31
Predigt über Lukas 18, 31-43 von Heinz Behrends
„Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Für uns als Kinder ein Spiel, als Erwachsene eine fast tägliche und manchmal auch eine überraschende Erfahrung.
Ein Beispiel: 8,5 Mill Menschen wohnen in Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens. Weite Teile der Stadt stehen unter Wasser. Das Bild von dem Jungen, der bis zum Hals im Wasser noch einige Habseligkeiten rettet, geht bei uns auf der ersten Seite durch alle Zeitungen und rührt uns an. Ich bekomme als Superintendent Aufrufe von Brot für die Welt per mail zugesandt. „DRINGEND“ steht oben drüber. Bitte leiten Sie in den Gemeinden Hilfsmaßnahmen für Indonesien ein.“
Gleichzeitig bekommen wir eine mail aus Jakarta von unserer Tochter. Sie arbeitet dort als Menschenrechts-Anwältin. Mehr als einen Tag hat sie für den Flug ans andere Ende der Welt gebraucht. Sie schreibt uns: „Zu der Flut in Jakarta meinen hier alle, es gäbe jedes Jahr eine, alle fünf Jahre sei sie schlimmer und dieses Jahr eben besonders schlimm und die Regierung sei schlecht organisiert. Hier in der Stadt bekommt man fast nichts davon mit. Ich habe in meinem Stadtteil kein Wasser gesehen“. Komisch, da sorgt sich Deutschland mehr um die Betroffenen als die Indonesier und unsere Tochter selbst.
Was aus der Ferne betroffen macht und bedrohlich wirkt und Spendenaktionen provoziert, bewegt die Menschen, die nebenan wohnen, wenig. Wenn ich mittendrin stecke, sehe ich anderes als aus der Ferne.
Merkwürdige Erfahrung: Da sehen die Freunde wie es um eine Ehe schlecht steht, die kleinen Zeichen der Unachtsamkeit, die ständig kleinen verteilten Spitzen. Und das Paar selber merkt es nicht. Und plötzlich irgendwann knallt es und sie trennen sich. „Ich war so was von blind“, sagt sei. Wenn du mitten drin stehst, bist du blind. Du bist zu nahe dran.
So erkläre ich mir das Unverständnis der Jünger, als Jesus ihnen ankündigt, dass er ins Leiden geht. „Er wird verspottet, misshandelt, angespien werden. Sie werden ihn geißeln und töten“, erzählt Lukas. Aber sie begriffen nichts davon, „der Sinn seiner Rede war ihnen verborgen.“ Wenn ich mittendrin stecke in einer Beziehung, will ich manches nicht sehen. Selbst Liebe macht blind.
Rücksicht, Nachsicht oder Vorsicht verbauen oft den Blick für die Wahrheit über einen Menschen. „Ja, wolltest du denn das nicht sehen“, sagen wir dann hinterher. Eine Bedrohung sieht von innen anders aus als von außen.
Emanuel Geibel, von dem ich noch Gedichte in der Schule aufsagen musste, verdichtet diese Erfahrung in einem kurzen Text:
“Die Zeit ist wie ein Bild von Mosaik
Zu nah beschaut, verwirrt es nur den Blick.
Willst du des ganzen Art und Sinn verstehen,
so musst du’s, Freund, aus rechter Ferne sehen.“
Wohl dem, wenn du Freunde hast, die dir immer wieder nachgehen, dir ihren Außenblick in Liebe sagen.
Oder es gelingt dir aus eigener Kraft, weil du auf der Suche nach dir bist? Dein Leben verstehen willst?
In dem immer noch lesenswerten Buch „Nachtzug nach Lissabon“ erzählt der Autor Pascal Mercier von dem Studienrat Gregorius, der sich mit einer Reise nach Lissabon auf die Suche nach der Wahrheit seines Lebens macht. Einmal steht er beim Gang durch die Stadt vor einem Schaufenster. In den Auslagen des Fensters steht ein Spiegel. Darin sieht er sich selbst. Es kommt ein Mann von hinten an ihn herangetreten und sieht ebenfalls in den Spiegel. Er sieht im Spiegel wie der Fremde ihm ins Gesicht sieht. Plötzlich fängt er an, sich mit den Augen eines anderen zu sehen und sich zu erkennen.
Mit den Augen eines anderen sieht sich in der Erzählung des Lukas einer, der eigentlich nicht sehen kann. Er ist blind. Der Blinde von Jerichow.
„Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.“ Zwei Fremde fangen an, sich zu sehen, obwohl sie sich nicht kennen. Der Blinde schreit. „Du Sohn Davids, erbarme dich mein“.
Und dann erzählt Lukas sehr feinfühlig. „Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich dir tue“. Aus der Ferne fällt das Sehen leichter. Nach seinem Willen fragt Jesus ihn. Das ist eine neue Erfahrung. Als Bettler bekommt er alles, wenn er bettelt, aber nichts, wenn er sagt: ich will. Jesus fragt ihn: „Willst du“? Er nimmt ihn ernst.
„Herr, dass ich sehen kann“, antwortet der Blinde. „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen.“ Und sogleich wurde er sehend. Es gibt Blumen, die stehen jahrelang wie vertrocknet in der Wüste, es kommt ein einziger Regen und sie blühen auf. Es gibt Situation, da vertrocknest du, es kommt jemand, der dich sieht, das rechte Wort sagt und du blühst auf und siehst die Welt neu. Lukas komponiert die Geschichte von den blinden Jüngern und der Heilung des Blinden bewusst zusammen.
Wieso sind die Jünger blind, obwohl ihre Augen gesund sind und der Blinde mit seinen kranken Augen sieht? Der Blinde schreit: Erbarme dich mein. Er ist sich seiner Bedürftigkeit bewusst.
Ich komme gerade von der Klausur eines Kirchenvorstandes, die ich geleitet habe. Welche Werte haben wir und wie wollen wir sie weiter vermitteln, war die Aufgabenstellung. Wir haben die Seligpreisungen gelesen. Selig sind die Barmherzigen, die Sanftmütigen, die Friedfertigen, die Leid tragen, hungern nach Gerechtigkeit. Christliche Werte vermitteln sie.
Die erste Seligpreisung, habe ich gesagt, ist die Überschrift. „Selig sind die geistlich Armen.“ Selig sind die, die sich ihrer geistlichen Bedürftigkeit bewusst sind. Einer der jungen Kirchenvorsteher übersetzte: „Selig sind, die alles von Gott erwarten und nichts von sich selbst.“
Deshalb fällt es wohl leichter zu glauben, wenn man älter wird. Fulbert Steffensky hat das gesagt: Wenn man älter wird, muss man nicht mehr genug sein, ist frei vom Zwang zum Vollkommenen. Man spürt immer stärker seine Bedürftigkeit. Die Voraussetzung für allen Glauben ist: Sich seiner Bedürftigkeit bewusst sein. Der Blinde ist sich dessen bewusst. Er schreit. Er ist nicht gefangen in irgendeinem System, nicht blind in einer Beziehung. „Sie berichteten ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.“ Er erwartet alles von Gott. „Und sogleich wurde er sehend.“
Wir haben in unserer Klausur daraus erste Schlüsse gezogen: Wir wollen mehr für unser geistliches Leben tun. Wir wollen dem Beten in der Gemeinde mehr Raum geben als bisher, der Stille, dem Hören, dem Gespräch über die Bibel.
Aus dem Glauben, aus dem veränderten Sehen wächst unser Tun. Nicht umgekehrt. Vielleicht müssen wir dann ja auch noch mehr auf die Not in der Stadt schauen als betroffen und gelähmt nach Jakarta blicken.
Unsere Sehgewohnheiten bricht Christus auf. Die Jünger begreifen es erst am dritten Tag nach seinem Tod, am Ostermorgen.
„Wenn ich mehr arbeiten muss, muss ich mehr beten“, sagt Martin Luther. Übernächsten Montag vor 467 Jahren ist er gestorben. Über unseren Predigttext hat er gesagt: „Da lehrt uns der Evangelist die rechte Bettlerkunst, dass man vor Gott gut betteln lerne, unverschämt sei und damit fortfahre.“ Als eines seiner letzten Worte ist uns überliefert „Wir sind Bettler, das ist wahr.
Ein Beispiel: 8,5 Mill Menschen wohnen in Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens. Weite Teile der Stadt stehen unter Wasser. Das Bild von dem Jungen, der bis zum Hals im Wasser noch einige Habseligkeiten rettet, geht bei uns auf der ersten Seite durch alle Zeitungen und rührt uns an. Ich bekomme als Superintendent Aufrufe von Brot für die Welt per mail zugesandt. „DRINGEND“ steht oben drüber. Bitte leiten Sie in den Gemeinden Hilfsmaßnahmen für Indonesien ein.“
Gleichzeitig bekommen wir eine mail aus Jakarta von unserer Tochter. Sie arbeitet dort als Menschenrechts-Anwältin. Mehr als einen Tag hat sie für den Flug ans andere Ende der Welt gebraucht. Sie schreibt uns: „Zu der Flut in Jakarta meinen hier alle, es gäbe jedes Jahr eine, alle fünf Jahre sei sie schlimmer und dieses Jahr eben besonders schlimm und die Regierung sei schlecht organisiert. Hier in der Stadt bekommt man fast nichts davon mit. Ich habe in meinem Stadtteil kein Wasser gesehen“. Komisch, da sorgt sich Deutschland mehr um die Betroffenen als die Indonesier und unsere Tochter selbst.
Was aus der Ferne betroffen macht und bedrohlich wirkt und Spendenaktionen provoziert, bewegt die Menschen, die nebenan wohnen, wenig. Wenn ich mittendrin stecke, sehe ich anderes als aus der Ferne.
Merkwürdige Erfahrung: Da sehen die Freunde wie es um eine Ehe schlecht steht, die kleinen Zeichen der Unachtsamkeit, die ständig kleinen verteilten Spitzen. Und das Paar selber merkt es nicht. Und plötzlich irgendwann knallt es und sie trennen sich. „Ich war so was von blind“, sagt sei. Wenn du mitten drin stehst, bist du blind. Du bist zu nahe dran.
So erkläre ich mir das Unverständnis der Jünger, als Jesus ihnen ankündigt, dass er ins Leiden geht. „Er wird verspottet, misshandelt, angespien werden. Sie werden ihn geißeln und töten“, erzählt Lukas. Aber sie begriffen nichts davon, „der Sinn seiner Rede war ihnen verborgen.“ Wenn ich mittendrin stecke in einer Beziehung, will ich manches nicht sehen. Selbst Liebe macht blind.
Rücksicht, Nachsicht oder Vorsicht verbauen oft den Blick für die Wahrheit über einen Menschen. „Ja, wolltest du denn das nicht sehen“, sagen wir dann hinterher. Eine Bedrohung sieht von innen anders aus als von außen.
Emanuel Geibel, von dem ich noch Gedichte in der Schule aufsagen musste, verdichtet diese Erfahrung in einem kurzen Text:
“Die Zeit ist wie ein Bild von Mosaik
Zu nah beschaut, verwirrt es nur den Blick.
Willst du des ganzen Art und Sinn verstehen,
so musst du’s, Freund, aus rechter Ferne sehen.“
Wohl dem, wenn du Freunde hast, die dir immer wieder nachgehen, dir ihren Außenblick in Liebe sagen.
Oder es gelingt dir aus eigener Kraft, weil du auf der Suche nach dir bist? Dein Leben verstehen willst?
In dem immer noch lesenswerten Buch „Nachtzug nach Lissabon“ erzählt der Autor Pascal Mercier von dem Studienrat Gregorius, der sich mit einer Reise nach Lissabon auf die Suche nach der Wahrheit seines Lebens macht. Einmal steht er beim Gang durch die Stadt vor einem Schaufenster. In den Auslagen des Fensters steht ein Spiegel. Darin sieht er sich selbst. Es kommt ein Mann von hinten an ihn herangetreten und sieht ebenfalls in den Spiegel. Er sieht im Spiegel wie der Fremde ihm ins Gesicht sieht. Plötzlich fängt er an, sich mit den Augen eines anderen zu sehen und sich zu erkennen.
Mit den Augen eines anderen sieht sich in der Erzählung des Lukas einer, der eigentlich nicht sehen kann. Er ist blind. Der Blinde von Jerichow.
„Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.“ Zwei Fremde fangen an, sich zu sehen, obwohl sie sich nicht kennen. Der Blinde schreit. „Du Sohn Davids, erbarme dich mein“.
Und dann erzählt Lukas sehr feinfühlig. „Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich dir tue“. Aus der Ferne fällt das Sehen leichter. Nach seinem Willen fragt Jesus ihn. Das ist eine neue Erfahrung. Als Bettler bekommt er alles, wenn er bettelt, aber nichts, wenn er sagt: ich will. Jesus fragt ihn: „Willst du“? Er nimmt ihn ernst.
„Herr, dass ich sehen kann“, antwortet der Blinde. „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen.“ Und sogleich wurde er sehend. Es gibt Blumen, die stehen jahrelang wie vertrocknet in der Wüste, es kommt ein einziger Regen und sie blühen auf. Es gibt Situation, da vertrocknest du, es kommt jemand, der dich sieht, das rechte Wort sagt und du blühst auf und siehst die Welt neu. Lukas komponiert die Geschichte von den blinden Jüngern und der Heilung des Blinden bewusst zusammen.
Wieso sind die Jünger blind, obwohl ihre Augen gesund sind und der Blinde mit seinen kranken Augen sieht? Der Blinde schreit: Erbarme dich mein. Er ist sich seiner Bedürftigkeit bewusst.
Ich komme gerade von der Klausur eines Kirchenvorstandes, die ich geleitet habe. Welche Werte haben wir und wie wollen wir sie weiter vermitteln, war die Aufgabenstellung. Wir haben die Seligpreisungen gelesen. Selig sind die Barmherzigen, die Sanftmütigen, die Friedfertigen, die Leid tragen, hungern nach Gerechtigkeit. Christliche Werte vermitteln sie.
Die erste Seligpreisung, habe ich gesagt, ist die Überschrift. „Selig sind die geistlich Armen.“ Selig sind die, die sich ihrer geistlichen Bedürftigkeit bewusst sind. Einer der jungen Kirchenvorsteher übersetzte: „Selig sind, die alles von Gott erwarten und nichts von sich selbst.“
Deshalb fällt es wohl leichter zu glauben, wenn man älter wird. Fulbert Steffensky hat das gesagt: Wenn man älter wird, muss man nicht mehr genug sein, ist frei vom Zwang zum Vollkommenen. Man spürt immer stärker seine Bedürftigkeit. Die Voraussetzung für allen Glauben ist: Sich seiner Bedürftigkeit bewusst sein. Der Blinde ist sich dessen bewusst. Er schreit. Er ist nicht gefangen in irgendeinem System, nicht blind in einer Beziehung. „Sie berichteten ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei.“ Er erwartet alles von Gott. „Und sogleich wurde er sehend.“
Wir haben in unserer Klausur daraus erste Schlüsse gezogen: Wir wollen mehr für unser geistliches Leben tun. Wir wollen dem Beten in der Gemeinde mehr Raum geben als bisher, der Stille, dem Hören, dem Gespräch über die Bibel.
Aus dem Glauben, aus dem veränderten Sehen wächst unser Tun. Nicht umgekehrt. Vielleicht müssen wir dann ja auch noch mehr auf die Not in der Stadt schauen als betroffen und gelähmt nach Jakarta blicken.
Unsere Sehgewohnheiten bricht Christus auf. Die Jünger begreifen es erst am dritten Tag nach seinem Tod, am Ostermorgen.
„Wenn ich mehr arbeiten muss, muss ich mehr beten“, sagt Martin Luther. Übernächsten Montag vor 467 Jahren ist er gestorben. Über unseren Predigttext hat er gesagt: „Da lehrt uns der Evangelist die rechte Bettlerkunst, dass man vor Gott gut betteln lerne, unverschämt sei und damit fortfahre.“ Als eines seiner letzten Worte ist uns überliefert „Wir sind Bettler, das ist wahr.
Perikope
Datum 10.02.2013
Reihe: 2012/2013 Reihe 5
Bibelbuch: Lukas
Kapitel / Verse: 18,31
Wochenlied: 413 384
Wochenspruch: Lk 18,31