Predigt über Lukas 19, 1-10 von Franz-Heinrich Beyer
19,1
Liebe Gemeinde,
der Bibeltext, der der Predigt heute zugrunde liegt stammt aus dem Neuen Testament, aus dem Lukasevangelium, im 19. Kapitel. Die Erzählung vom Oberzöllner Zachäus, so ist die Perikope oft überschrieben, gehört zu den sehr anschaulichen, plastischen Texten der Bibel. Von daher überrascht es nicht, dass insbesondere Kinder im Grundschulalter diese Geschichte lieben und gern in Zeichnungen oder Rollenspielen zur Darstellung bringen. Und wahrscheinlich haben auch wir alle eine klare Vorstellung von dem, was in dieser Erzählung geschieht.
Die Erzählung bezieht ihre Wirkung wohl vor allem aus den Gegensätzen, die sie bestimmen: Da geht es um oben und unten, um reich und weniger reich, da geht es um drinnen und draußen, um rein und um unrein, da geht es auch um Sehen-Können und um Gesehen-werden,  Um Schweigen und um Angesprochen-Werden, da geht es um Isolation und um Gemeinschaft.
Hören wir auf den Text der Erzählung (Lk 19): …
Der Mann mit Namen Zachäus, er steht im Mittelpunkt der Erzählung. Nur an dieser einen Stelle im Neuen Testament ist von ihm die Rede. Alles, was wir von Zachäus wissen, was er tut und was ihm widerfährt ist auf diese Perikope beschränkt. Was also gibt es zu Zachäus zusagen?
Zachäus lebt in Jericho. Jericho war im Altertum berühmt für seine Obstplantagen und Gärten. Und Herodes hatte hier, nahe der Grenze seines Herrschaftsgebietes eine großzügige Winterresidenz errichten lassen. Steuern und Zoll wurden hier von jüdischen Kleinpächtern für den König eingezogen. Auch heute wird die Stadt Jericho, im Palästinensergebiet gelegen, durch ihre grenznahe Lage bestimmt. Kontrolle und Gebührenabgabe, Genehmigungen oder Ablehnungen werden auch heute hier erfahren.
Zachäus, so hören wir, ist ein Oberer der Zöllner. Er ist kein Fremder; eigentlich ist er ein Nachbar unter Nachbarn. Aber durch seine Tätigkeit ist er gekennzeichnet und isoliert. Mögen Stereotype, Vorurteile oder konkrete Verhaltensweisen den Anlass dafür geboten haben – im Verständnis seiner Nachbarn gehört Zachäus nicht dazu. Ihm traut man nichts Gutes zu. Man schottet sich ab und lässt ihn seine Isolation spüren. Machen Menschen mehrmals eine solche Erfahrung, neigen sie dazu, sie zu verinnerlichen, sich nun auch selber als jemand anderes zu empfinden. Sie verhalten sich dann entsprechend, machen sich gleichsam selber hart. Sie erwarten nichts mehr, vor allem kein Entgegenkommen von ihren Mitmenschen.
Und doch: Zachäus begehrte, Jesus zu sehen, wie er wäre. – Bei aller zugeschriebenen oder auch bewusst gelebter Isolation, hier ist in diesem Oberen der Zöllner noch nicht alles von der Interesse- und Erwartungslosigkeit erstickt. Ist es die Sensationslust, die die anderen ergriffen hat und nun auch ihn erfasst? Vielleicht ist es doch etwas anderes. Vielleicht ist es eine persönliche Motivation, die einem solchen Menschen gar nicht zugetraut wird. Eine Motivation, die wir zwar in ihrer Wirkung beobachten, aber in ihrem tiefsten Grund nicht erklären können.
Um sehen zu können, wie Jesus wäre, unternimmt Zachäus Einiges. Die versammelte Menschenmenge gibt ihm keine Sichtmöglichkeit. Deshalb überlegt er, welche Wegstrecke der erwartete Jesus nehmen wird. Und er unternimmt wieder etwas, was wohl niemand von diesem Menschen in einer Außenseiterposition erwartet hätte – er steigt auf einen Maulbeerfeigenbaum. Vielleicht wäre in einer anderen Situation ein solches Verhalten für ihn selbst mit seinem Stolz und seiner Würde unvereinbar gewesen. Hier aber reiht er sich ein in die Reihe der Menschen, von denen in den Evangelien an anderer Stelle berichtet wird. Mit seinem unerwarteten Verhalten wird er einer von den Menschen, die gegen alle Konvention, gegen alle menschliche Erfahrung und Einsicht etwas tun, was unbeteiligten Betrachtern schlicht lächerlich oder auch bemitleidenswert erscheinen muss. Zachäus steigt den Baum hinauf, denn er begehrte Jesus zu sehen, wer er wäre.
Dieses Bild des Mannes auf dem Baum, abseits der großen jubelnden Menschenmenge ermöglicht auch noch andere Assoziationen, etwa die, auf die ich in einem Buch des tschechischen Theologen Tomas Halik gestoßen bin. Er bezieht dieses Bild von Zachäus in der Baumkrone auf die Situation in Tschechien nach 1990: „Als nach langer Zeit die Jünger Christi nach dem Sturz des Kommunismus frei vor die Öffentlichkeit getreten waren, fanden sie überall eine große Zahl Applaudierender um sich versammelt, allerdings auch einige wenige feindlich Gesinnte, immer noch mit drohend geballten Fäusten. Wahrgenommen wurde jedoch nicht der Umstand, dass die umher stehenden Bäume voll mit Zachäusgestalten besetzt waren, mit jenen also, die sich nicht unter die alten oder die ganz neuen Gläubigen mischen wollten oder konnten …. Sie waren auf der Suche und voller Neugier, zugleich aber wollten sie Abstand und ihre Sicht der Dinge bewahren; diese seltsam gemischte Gemütsverfassung, bestehend aus Fragen und Erwartungen, Interesse und Schüchternheit, manchmal vielleicht Schuldgefühl und gewisser Ungehörigkeit ließ sie versteckt im Dickicht der Feigenblätter verharren.“[1]
Unter einem solchen Blickwinkel kommt mir Zachäus immer näher;
Die biblische Erzählung von Zachäus bleibt bei diesem Bild nicht stehen. Sie geht natürlich weiter; nur deshalb ist sie uns auch überliefert.
Jesus ist in Jericho. Von der großen Menschenmenge wird er bejubelt und erwartet. Zachäus kann ihn sehen. Die versammelten Menschen – sie werden enttäuscht; sie fühlen sich gekränkt. Denn nicht ihnen wendet sich Jesus zu, sondern Zachäus. Er erfährt, dass er angesprochen wird – er, unverwechselbar mit seinem Namen angesprochen. Er erfährt, dass sein Haus, das er in der Sicht anderer mit unrechtmäßig erworbenem Geld ausgestattet hat, dass sein Haus jetzt gebraucht wird. Warum sich Jesus dem Zachäus zuwendet – wir erfahren es nicht. Zachäus aber nimmt Jesus und seine Begleiter mit Freuden in seinem Haus auf. Bei den anderen Menschen in Jericho weicht die anfängliche Begeisterung für Jesus nun dem gekränkten Vorwurf, der an ihn gerichtet wird: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.
Der Fortgang der Erzählung überrascht, denn nun ist es einmal Zachäus, der spricht. Und seine Worte lassen einen Mann erkennen, der zum einen ehrlich ist und zum anderen ist er realistisch und ökonomisch versiert. Die Hälfte seines Besitzes wolle er den Armen geben. Und wenn er jemanden betrogen habe, so wolle er es vierfach zurückgeben, wenn … Zachäus ist sich sicher, so führt Gert Theißen aus, „dass er die Hälfte seines Besitzes ehrlich erworben hat. … Auch die andere Hälfte ist keineswegs nur unehrlich erworben. Denn Zachäus muss sich sicher sein, dass er nicht die ganzen verbliebenen 50% zu Wiedergutmachungszwecken aufwenden muss. Schließlich muss er leben. Dazu Jesus versorgen – einschließlich dessen  Tross, die zwölf Jünger und einen Bettler von Jericho und viele andere.“[2]  So viel, wie die anderen wohl vermuten, kann nach Ansicht des Zachäus nicht auf krummen Wegen zustande gekommen sein. Was Zachäus zu diesem Eingeständnis veranlasst hat, wir erfahren es nicht. Aber vielleicht dürfen wir es so interpretieren: Der Mensch, der Anerkennung erfährt, der erlebt, dass zu ihm gesagt wird: Du wirst gebraucht, so wie du bist, mit deinen Möglichkeiten und mit deinen Schwächen, - dieser Mensch ist dann befähigt, offen zu seinen Schwächen und zu seinen Stärken zu stehen; er erhält den Raum, sich zu ändern. Zachäus erfährt das, was wir mit dem Begriff Rehabilitierung beschreiben; er erlangt die Gemeinschaftsfähigkeit. Und indem er einen Teil seines Besitzes Armen und Bedürftigen und dadurch von der Gesellschaft ausgegrenzten Menschen zukommen lässt, wird etwas Weiteres deutlich. Was er, Zachäus, selbst erfahren hat, er kann es jetzt auch anderen ermöglichen – nämlich zur Gemeinschaftsfähigkeit zurück zu gelangen.
Wie es mit Zachäus weiter geht, davon erfahren wir nichts. Es ist wie auch bei den anderen Menschen, von denen wir in den Evangelien lesen, die die Begegnung mit Jesus als ein ihr Leben veränderndes Ereignis erfahren haben: Vorgeschichte und Begegnung erscheinen wie von einem Scheinwerfer in ein Licht gesetzt, das dann wieder erlischt. Aber das Bild verblasst nicht einfach, es drückt sich ein in das Lebensgefühl. Es verweist darauf, dass das Jesuswort: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, dass dieses Jesuswort sich mit solchen Erfahrungen in die Wirklichkeit von Menschen einschreibt.
Es ist schön, dass diese anschauliche Erzählung von Zachäus vielen Menschen so präsent ist. Da sind die Spannungsmomente der Erzählung, in der es um oben und unten, um reich und weniger reich geht, um drinnen und draußen, auch um Sehen-Können und um ein Gesehen-Werden, um Schweigen und um Angesprochen-Werden, um Isolation und um Gemeinschaft. Manches von den darin aufgehobenen Erfahrungen gehört auch zu meinem Leben dazu. Und vielleicht entdeckt jede bzw. jeder von uns etwas Ähnliches. Die biblische Erzählung lenkt unseren Blick auf Zachäus, auf das, was er tut, auf das, was ihm widerfährt. Und sie weist uns so hin auf den Grund der Zuversicht und der Hoffnung, die wir haben können.

  
  
    [1] Tomas Halik, Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute, 2012(5. Aufl.), 21.
  
  
    [2] Vgl. Gerd Theißen, Der ehrliche Zachäus, in: Ders.:, Lebenszeichen. Predigten und Meditationen, 1998, 129-136.
Perikope
16.06.2013
19,1