Predigt über Lukas 22, 31-34 von Wolfgang Vögele
22,31
Der Predigttext für den Sonntag Invokavit steht Lk 22,31-34:
Christus spricht: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habefür dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder. Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.“
Liebe Gemeinde,
eigentlich reicht es jetzt. Gerade diese Geschichte von Petrus, dem Meisterjünger und der erste Sonntag der Passionszeit haben etwas Verstörendes und Merkwürdiges an sich. Wer ein wenig darüber nachdenkt, kommt schnell ins Grübeln. Kann es ein glaubender Mensch als selbstverständlich hinnehmen, daß sich Passion und Leiden, aber auch die Erinnerung daran, in jedem Jahr wiederholen? Hat es denn nie ein Ende mit Leiden, Verrat, Lüge und Tod? Muß das jedes Jahr neu zur Sprache kommen? Können Christen damit nicht ein für alle Mal abschließen?
Leiden wiederholt sich.
Verrat wiederholt sich.
Lügen wiederholt sich.
Nur der Tod ist einmalig, aber allgegenwärtig.
Menschen leiden, Menschen lügen, Menschen verraten ihre Freunde. Und jedes Jahr im Frühjahr sollen wir dieser Misere neu unsere Aufmerksamkeit zuwenden?
Dieser zwanghafte Blick auf den Schrecken könnte ja auch Symptom einer Krankheit sein wie bei den Mädchen, die sich mit einer Rasierklinge oder Scherbe die Unterarme aufritzen. Die Mädchen wollen sich bestrafen oder die Erleichterung nach dem Schmerz spüren. Ganz unterschiedliche Motive führen in die Passion der Selbstverletzung. Ein Mädchen, das sich in dieser Weise selbst verletzt, verbirgt oft die eigenen Wunden und später die Narben. Wenn Familie und Freunde darüber nichts wissen, können sie auch nicht helfen. Schweigen und Verbergen vergrößert das Leiden. Reden und Gespräche könnten helfen, nicht nur mit dem Arzt oder Therapeuten, auch Gespräche mit den Eltern, den Freunden oder Klassenkameraden.
Es hilft, über das Leiden zu reden, auch wenn das Leid selbst oder die Krankheit manchmal nicht zu heilen ist. In diesem Sinn hilft es auch, über die Passionsgeschichte Jesu nachzudenken, zu meditieren und zu beten.
Wer nicht über das Leiden Jesu spricht, der läuft Gefahr, daß sich das Zerrbild eines grausamen und autoritären Gottes in Kopf und Glauben einnistet und am Ende beides vergiftet. Wer die Mühe auf sich nimmt, über das Leiden zu sprechen, der kann – so paradox das klingt – Glauben und Vertrauen gewinnen.
Das Leiden nicht zu verstehen, aber wenigstens als Teil des Lebens anzunehmen, das macht Mühe. Es macht deshalb Mühe, weil jeder erschrocken und ängstlich zur Kenntnis nimmt, daß er Leiden und Krankheit nicht mit den gebräuchlichen Werkzeugen des Bewußtseins beikommen kann. Vernunft, Gefühl und Alltagsweisheit dringen nur wenig unter die Oberfläche, aber nicht in die Tiefe.
Das kurze Gespräch zwischen Jesus und Petrus ist mit diesen Kategorien nicht zu verrechnen. Logisch und psychologisch ist das nicht verständlich, daß Jesus seinem ersten Jünger vorhersagt, er werde ihn verraten und dann wochenlang weiter mit ihm zusammenlebt. Und noch schlimmer: Dann ereignet sich alles auch so, wie es der Prophet aus Nazareth vorhergesagt hat.
Wochen später, nach diesem kurzen Gespräch, wird der entlarvte Petrus, der unerschütterliche Fels aller Jünger, bittere Tränen vergießen. Der Hahn wird wirklich krähen, nachdem der gebrochene Petrus seinen Meister gegenüber der unbedarften Magd dreimal verleugnet hat. Jesus hat alles schon gewußt oder mindestens geahnt. Und der Hörer fragt sich: Wenn er es gewußt hat, warum hat er dann nichts getan? Warum hat er das Verhängnis, das er kommen sah, nicht verhindert?
Die kurze Geschichte aus dem Lukasevangelium, die wir als Predigttext gehört haben, nimmt vorweg, was der arme Petrus zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht verstehen kann. Lukas erzählt beides, die Leidensgeschichte Jesu und die Verratsgeschichte des Petrus von ihrem Ende her. Das bittere Ende steht am harmlosen Anfang schon fest.
Genauso führt der erste Passionsonntag Invokavit in jedem Fall, mit einer inneren Notwendigkeit zum Karfreitag sieben Wochen später. Und Jesus weiß das. Passion ist unerwünschtes, unwahrscheinliches Leiden. Niemand kann ihm entkommen. Passion ist eine Zwangsjacke. Dem leidenden, gezwungenen Menschen kräht der Hahn.
Ich vermute: Wenigstens über Hähne wußten Jesus und Petrus gut Bescheid. Hühner, Eier, Küken und Hähne gehörten zu ihrem selbstverständlichen Alltagswissen. Heute kann man das Wissen über Hühnerzucht, das damals jedem zur Verfügung stand, im Internet finden. Wer Hühner halten will, benötigt nicht unbedingt ein männliches Exemplar der Gattung. Hühner legen auch ohne Hahn Eier ins Nest. Das Krähen des Hahns am frühen Morgen könnte die schlafbedürftigen Nachbarn verstören.
Aber ein Hahn, so der kluge Ratgeber im Internet, sorgt für die Hennen. Er bindet sie an sich und bringt Ruhe in die Hühnerschar. Er bewacht und beschützt sie, er schlichtet Streitigkeiten. Je älter er ist, desto mehr Erfahrung bringt er mit. Mindestens sechs Hennen pro Hahn sollten es schon sein.
Früher waren Hühner und Hähne selbstverständlich. Jeder, der aufs Dorf zog, mußte sie als ortsüblich hinnehmen. Kein Nachbar wäre auf die Idee gekommen, sich über einen Hahn zu beschweren, der früh am Morgen regelmäßig und eindringlich kräht.
Das Krähen des Hahns bringt die Passionserzählung an ihren kritischen Wendepunkt. Für den beschämten Petrus wird das Kikeriki nicht das nahende Morgengrauen ankündigen. Für Petrus wird der Hahnenschrei die schäbige Wirklichkeit von Verrat und Verleugnung besiegeln. Aber bevor der Hahnenschrei die Wende dieser Geschichte einläutet, ist noch über anderes zu reden, zuerst über den Teufel.
Den Teufel will man sich ja lieber gar nicht vorstellen. Ich habe gelesen, daß auf der Wartburg, wo Martin Luther 1521 in wenigen Monaten das Neue Testament übersetzte, schon seit über hundert Jahren der Tintenfleck an der Wand seines Arbeitszimmers nicht mehr erneuert wird. Das Tintenfaß, das den Fleck an der Wand nach sich gezogen hat, soll Luther wütend nach dem Teufel geschleudert haben. Die Museumsleute haben nun das Problem, daß Tintenflecke, die indirekt die Existenz des Teufels bezeugen, mit den Jahren verblassen. Aber das Problem ist gelöst: Heute interessieren sich die Menschen nicht mehr dafür, weil das Interesse für den Teufel verblaßt ist.
Genauso wie die Engel keine Männer mit Flügeln sein müssen, sind die Teufel nicht Zähne fletschende Männer mit Dreizack und Hörnern, die ihnen aus dem Kopf sprießen. Der Teufel schüttelt die Menschen wie Weizenkörner in einem Sieb, sagt Jesus. Die, die hindurchfallen, sammelt er ein. Und am liebsten sammelt er die ein, die glauben: die Jünger, die Apostel, die Märtyrerinnen, die Aufrichtigen und die Standhaften, die Barmherzigen und die Glaubenszeugen.
Leiden heißt, von einer fremden Macht, die mich beherrscht, geschüttelt werden. Selbstverständlich kann jemand auch das Leiden, das ihm Schmerzen bereitet, selbst verursacht haben. Aber oft erleben wir Leiden so, daß die Ursachenkette, die dazu geführt hat, nicht durchschaubar ist. So daß wir sagen: Das Leiden kommt über mich. Es kommt von einer fremden Macht. Oder: Das hat mir der Teufel gebracht.
Mit einem erleuchtenden griechischen Wort heißt der Teufel auch der Diabolos, der, der alles durcheinander wirft (wie Weizenkörner). Im höllischen Teufel steckt die menschliche Erfahrung, daß Leid einen Menschen schuld- und ursachenlos überfällt und ihn nicht mehr los läßt. Und darin steckt ein Körnchen Wahrheit, auch wenn niemand mehr an einen personalen Teufel mit Dreizack glaubt.
Noch schwerer nachzuvollziehen als der Teufel ist das durch Lukas vermittelte Bild von der gesteuerten und vorbestimmten Gegenwart. Jesus weiß im Voraus, was geschehen wird: Petrus wird zum Verräter werden, und der Hahn wird krähen Es läuft so ab, wie Gott es sich vorher ausgedacht hat. Gott ist der Herr über die Geschichte und über die Leidensgeschichte. Selbst der Teufel ist darin nur ein kleines Rädchen, das am langen Faden von Gott gelenkt wird. Jesus geht mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Leidensgeschichte. Diese Glaubensgewißheit, die zugleich eine Gottesgewißheit ist, sagt ihm: Es muß alles so geschehen. Und es ist richtig, wie es geschehen wird.
Das widerspricht dem Alltagsbewußtsein. Dieses strebt pragmatisch danach, das eigene Leben mit Verstand und Sicherheitsbedürfnis zu planen und sich dabei möglichst immer am Geländer der Gewohnheit festzuhalten. Das Geplante will es in die Tat umsetzen. Allerdings besitzt die eigene Planung keine große Reichweite. Darin ähnelt es dem Wetterbericht: Auch der kann nur das Wetter der nächsten beiden Tage vorhersagen. Deswegen sieht das Alltagsbewußtsein neben der Planung vor allem den blinden Zufall am Werk. Es hofft, daß der Zufall das eigene Leben nicht allzu unglücklich trifft. Denn es rechnet, drittens, damit, daß es mindestens einmal in seinem Leben das große, unbedingte Glück finden wird.
Jesus von Nazareth dagegen interessiert sich als allerletztes für sein eigenes Leben, schon gar nicht für das große Glück. Er weiß über das Leiden und den Verrat Bescheid. Und dennoch unternimmt er nichts dagegen. Oder doch? Ich komme gleich darauf.
Wer sein Leben als Produkt von blindem Zufall und eigener Planung denkt, der schießt wie ein Spielball durchs Leben, der vom Billard-Queue anderer Menschen und Gewalten angestoßen wird. Jesus dagegen verläßt sich auf den Gott, den er seinen Vater nennt. Und genau darin gewinnt er eine andere Sicht auf sein Leiden, auf das Leiden. Petrus begreift am Anfang rein gar nichts.
Am Anfang steht das Gebet für andere. Wo das Alltagsbewußtsein Planung und Vernunft einsetzen würde, sagt der, der auf die Kreuzigung zugeht: Herr, ich bitte dich für meinen Jünger Petrus. Gebet und Planung schließen sich nicht gegenseitig aus. Aber wer für einen anderen betet, überläßt die Entscheidung über das Schicksal dieses anderen dem barmherzigen und menschenfreundlichen Gott. Jesus betet nicht für sich oder für seine eigene Zukunft. Er betet für Petrus. Das ist der Anfang der Glaubensgewißheit. Der Betende befreit sich aus der Abhängigkeit von Zufall und Planung und begibt sich in die fürsorglichen Hände Gottes. Der wird das Leben zum Guten wenden, sagt die Glaubensgewißheit.
Die meisten Menschen können diesen Überlegungen folgen, solange Gott aus ihrer Sicht das tut, was sie von ihm erwarten. Was aber, wenn ein Gebet nicht erhört wird, wie es offensichtlich bei dem Gebet Jesu der Fall war? Denn Petrus wird ja in ein paar Wochen seinen Herrn verraten, obwohl Jesus dafür gebet hat, daß er es nicht tut.
Es lohnt noch einmal ein Blick auf die Bitte. Denn Jesus hat Gott ja nicht um Bewahrung vor dem Verrat gebeten, sondern darum, daß der Glaube des Petrus nicht aufhöre. Aber auch der Glaube des Petrus wird beim Verrat gegenüber der Magd eine gewaltige Delle erhalten.
Wichtig erscheint: Jesus betet für einen anderen. Er hilft ihm nicht unmittelbar, obwohl er bestimmt hätte helfen können. Er setzt sich für ihn bei Gott ein. Das ist das Wichtigste, was uns in der ersten Woche der Passionszeit zum Nachdenken und Meditieren aufgegeben wird.
Das Passionsgebet besitzt eine doppelte Zielrichtung. Zum einen setzt es die Entscheidung Gottes an die Stelle des eigenen Aktivismus. Zum anderen verliert es sich nicht im Eigeninteresse, in den Wünschen und Begierden des eigenen sündigenden Lebens. Beten heißt: sich bei Gott und mit Gott um einen anderen Menschen kümmern, besonders dann, wenn es ihm schlecht geht, wenn er unter Demenz oder einem Tumor leidet, wenn er eine Chemotherapie durchmachen muß oder wenn ein guter Freund gestorben ist.
Am Ende kräht dann doch der Hahn. Ich habe gesagt, der Schrei des Hahns sei das Zeichen für den anbrechenden Morgen, für Petrus das Zeichen für seinen schmählichen Verrat am Lagerfeuer. Und es kommt noch ein drittes hinzu. Der Schrei des Hahns ist auch ein Zeichen für die Verwandlung des Leidens. Aus dem Kreuz heraus wird Gott das Licht der Auferstehung schaffen. Aus dem Verrat des Petrus und seiner folgenden Flucht nach Galiläa wird der Glaube an den lebendigen Christus entstehen. Aus der Notwendigkeit und dem Zwang des Verrats ist die Herrlichkeit und Freiheit Gottes geworden. So erfüllt sich schließlich doch noch das Gebet Jesu: Dein Glaube soll nicht aufhören.
Passion ist nicht unablässiges Leiden. Passion heißt: Gott verwandelt den Schmerz in Freiheit. Amen.
Christus spricht: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habefür dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder. Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.“
Liebe Gemeinde,
eigentlich reicht es jetzt. Gerade diese Geschichte von Petrus, dem Meisterjünger und der erste Sonntag der Passionszeit haben etwas Verstörendes und Merkwürdiges an sich. Wer ein wenig darüber nachdenkt, kommt schnell ins Grübeln. Kann es ein glaubender Mensch als selbstverständlich hinnehmen, daß sich Passion und Leiden, aber auch die Erinnerung daran, in jedem Jahr wiederholen? Hat es denn nie ein Ende mit Leiden, Verrat, Lüge und Tod? Muß das jedes Jahr neu zur Sprache kommen? Können Christen damit nicht ein für alle Mal abschließen?
Leiden wiederholt sich.
Verrat wiederholt sich.
Lügen wiederholt sich.
Nur der Tod ist einmalig, aber allgegenwärtig.
Menschen leiden, Menschen lügen, Menschen verraten ihre Freunde. Und jedes Jahr im Frühjahr sollen wir dieser Misere neu unsere Aufmerksamkeit zuwenden?
Dieser zwanghafte Blick auf den Schrecken könnte ja auch Symptom einer Krankheit sein wie bei den Mädchen, die sich mit einer Rasierklinge oder Scherbe die Unterarme aufritzen. Die Mädchen wollen sich bestrafen oder die Erleichterung nach dem Schmerz spüren. Ganz unterschiedliche Motive führen in die Passion der Selbstverletzung. Ein Mädchen, das sich in dieser Weise selbst verletzt, verbirgt oft die eigenen Wunden und später die Narben. Wenn Familie und Freunde darüber nichts wissen, können sie auch nicht helfen. Schweigen und Verbergen vergrößert das Leiden. Reden und Gespräche könnten helfen, nicht nur mit dem Arzt oder Therapeuten, auch Gespräche mit den Eltern, den Freunden oder Klassenkameraden.
Es hilft, über das Leiden zu reden, auch wenn das Leid selbst oder die Krankheit manchmal nicht zu heilen ist. In diesem Sinn hilft es auch, über die Passionsgeschichte Jesu nachzudenken, zu meditieren und zu beten.
Wer nicht über das Leiden Jesu spricht, der läuft Gefahr, daß sich das Zerrbild eines grausamen und autoritären Gottes in Kopf und Glauben einnistet und am Ende beides vergiftet. Wer die Mühe auf sich nimmt, über das Leiden zu sprechen, der kann – so paradox das klingt – Glauben und Vertrauen gewinnen.
Das Leiden nicht zu verstehen, aber wenigstens als Teil des Lebens anzunehmen, das macht Mühe. Es macht deshalb Mühe, weil jeder erschrocken und ängstlich zur Kenntnis nimmt, daß er Leiden und Krankheit nicht mit den gebräuchlichen Werkzeugen des Bewußtseins beikommen kann. Vernunft, Gefühl und Alltagsweisheit dringen nur wenig unter die Oberfläche, aber nicht in die Tiefe.
Das kurze Gespräch zwischen Jesus und Petrus ist mit diesen Kategorien nicht zu verrechnen. Logisch und psychologisch ist das nicht verständlich, daß Jesus seinem ersten Jünger vorhersagt, er werde ihn verraten und dann wochenlang weiter mit ihm zusammenlebt. Und noch schlimmer: Dann ereignet sich alles auch so, wie es der Prophet aus Nazareth vorhergesagt hat.
Wochen später, nach diesem kurzen Gespräch, wird der entlarvte Petrus, der unerschütterliche Fels aller Jünger, bittere Tränen vergießen. Der Hahn wird wirklich krähen, nachdem der gebrochene Petrus seinen Meister gegenüber der unbedarften Magd dreimal verleugnet hat. Jesus hat alles schon gewußt oder mindestens geahnt. Und der Hörer fragt sich: Wenn er es gewußt hat, warum hat er dann nichts getan? Warum hat er das Verhängnis, das er kommen sah, nicht verhindert?
Die kurze Geschichte aus dem Lukasevangelium, die wir als Predigttext gehört haben, nimmt vorweg, was der arme Petrus zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht verstehen kann. Lukas erzählt beides, die Leidensgeschichte Jesu und die Verratsgeschichte des Petrus von ihrem Ende her. Das bittere Ende steht am harmlosen Anfang schon fest.
Genauso führt der erste Passionsonntag Invokavit in jedem Fall, mit einer inneren Notwendigkeit zum Karfreitag sieben Wochen später. Und Jesus weiß das. Passion ist unerwünschtes, unwahrscheinliches Leiden. Niemand kann ihm entkommen. Passion ist eine Zwangsjacke. Dem leidenden, gezwungenen Menschen kräht der Hahn.
Ich vermute: Wenigstens über Hähne wußten Jesus und Petrus gut Bescheid. Hühner, Eier, Küken und Hähne gehörten zu ihrem selbstverständlichen Alltagswissen. Heute kann man das Wissen über Hühnerzucht, das damals jedem zur Verfügung stand, im Internet finden. Wer Hühner halten will, benötigt nicht unbedingt ein männliches Exemplar der Gattung. Hühner legen auch ohne Hahn Eier ins Nest. Das Krähen des Hahns am frühen Morgen könnte die schlafbedürftigen Nachbarn verstören.
Aber ein Hahn, so der kluge Ratgeber im Internet, sorgt für die Hennen. Er bindet sie an sich und bringt Ruhe in die Hühnerschar. Er bewacht und beschützt sie, er schlichtet Streitigkeiten. Je älter er ist, desto mehr Erfahrung bringt er mit. Mindestens sechs Hennen pro Hahn sollten es schon sein.
Früher waren Hühner und Hähne selbstverständlich. Jeder, der aufs Dorf zog, mußte sie als ortsüblich hinnehmen. Kein Nachbar wäre auf die Idee gekommen, sich über einen Hahn zu beschweren, der früh am Morgen regelmäßig und eindringlich kräht.
Das Krähen des Hahns bringt die Passionserzählung an ihren kritischen Wendepunkt. Für den beschämten Petrus wird das Kikeriki nicht das nahende Morgengrauen ankündigen. Für Petrus wird der Hahnenschrei die schäbige Wirklichkeit von Verrat und Verleugnung besiegeln. Aber bevor der Hahnenschrei die Wende dieser Geschichte einläutet, ist noch über anderes zu reden, zuerst über den Teufel.
Den Teufel will man sich ja lieber gar nicht vorstellen. Ich habe gelesen, daß auf der Wartburg, wo Martin Luther 1521 in wenigen Monaten das Neue Testament übersetzte, schon seit über hundert Jahren der Tintenfleck an der Wand seines Arbeitszimmers nicht mehr erneuert wird. Das Tintenfaß, das den Fleck an der Wand nach sich gezogen hat, soll Luther wütend nach dem Teufel geschleudert haben. Die Museumsleute haben nun das Problem, daß Tintenflecke, die indirekt die Existenz des Teufels bezeugen, mit den Jahren verblassen. Aber das Problem ist gelöst: Heute interessieren sich die Menschen nicht mehr dafür, weil das Interesse für den Teufel verblaßt ist.
Genauso wie die Engel keine Männer mit Flügeln sein müssen, sind die Teufel nicht Zähne fletschende Männer mit Dreizack und Hörnern, die ihnen aus dem Kopf sprießen. Der Teufel schüttelt die Menschen wie Weizenkörner in einem Sieb, sagt Jesus. Die, die hindurchfallen, sammelt er ein. Und am liebsten sammelt er die ein, die glauben: die Jünger, die Apostel, die Märtyrerinnen, die Aufrichtigen und die Standhaften, die Barmherzigen und die Glaubenszeugen.
Leiden heißt, von einer fremden Macht, die mich beherrscht, geschüttelt werden. Selbstverständlich kann jemand auch das Leiden, das ihm Schmerzen bereitet, selbst verursacht haben. Aber oft erleben wir Leiden so, daß die Ursachenkette, die dazu geführt hat, nicht durchschaubar ist. So daß wir sagen: Das Leiden kommt über mich. Es kommt von einer fremden Macht. Oder: Das hat mir der Teufel gebracht.
Mit einem erleuchtenden griechischen Wort heißt der Teufel auch der Diabolos, der, der alles durcheinander wirft (wie Weizenkörner). Im höllischen Teufel steckt die menschliche Erfahrung, daß Leid einen Menschen schuld- und ursachenlos überfällt und ihn nicht mehr los läßt. Und darin steckt ein Körnchen Wahrheit, auch wenn niemand mehr an einen personalen Teufel mit Dreizack glaubt.
Noch schwerer nachzuvollziehen als der Teufel ist das durch Lukas vermittelte Bild von der gesteuerten und vorbestimmten Gegenwart. Jesus weiß im Voraus, was geschehen wird: Petrus wird zum Verräter werden, und der Hahn wird krähen Es läuft so ab, wie Gott es sich vorher ausgedacht hat. Gott ist der Herr über die Geschichte und über die Leidensgeschichte. Selbst der Teufel ist darin nur ein kleines Rädchen, das am langen Faden von Gott gelenkt wird. Jesus geht mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Leidensgeschichte. Diese Glaubensgewißheit, die zugleich eine Gottesgewißheit ist, sagt ihm: Es muß alles so geschehen. Und es ist richtig, wie es geschehen wird.
Das widerspricht dem Alltagsbewußtsein. Dieses strebt pragmatisch danach, das eigene Leben mit Verstand und Sicherheitsbedürfnis zu planen und sich dabei möglichst immer am Geländer der Gewohnheit festzuhalten. Das Geplante will es in die Tat umsetzen. Allerdings besitzt die eigene Planung keine große Reichweite. Darin ähnelt es dem Wetterbericht: Auch der kann nur das Wetter der nächsten beiden Tage vorhersagen. Deswegen sieht das Alltagsbewußtsein neben der Planung vor allem den blinden Zufall am Werk. Es hofft, daß der Zufall das eigene Leben nicht allzu unglücklich trifft. Denn es rechnet, drittens, damit, daß es mindestens einmal in seinem Leben das große, unbedingte Glück finden wird.
Jesus von Nazareth dagegen interessiert sich als allerletztes für sein eigenes Leben, schon gar nicht für das große Glück. Er weiß über das Leiden und den Verrat Bescheid. Und dennoch unternimmt er nichts dagegen. Oder doch? Ich komme gleich darauf.
Wer sein Leben als Produkt von blindem Zufall und eigener Planung denkt, der schießt wie ein Spielball durchs Leben, der vom Billard-Queue anderer Menschen und Gewalten angestoßen wird. Jesus dagegen verläßt sich auf den Gott, den er seinen Vater nennt. Und genau darin gewinnt er eine andere Sicht auf sein Leiden, auf das Leiden. Petrus begreift am Anfang rein gar nichts.
Am Anfang steht das Gebet für andere. Wo das Alltagsbewußtsein Planung und Vernunft einsetzen würde, sagt der, der auf die Kreuzigung zugeht: Herr, ich bitte dich für meinen Jünger Petrus. Gebet und Planung schließen sich nicht gegenseitig aus. Aber wer für einen anderen betet, überläßt die Entscheidung über das Schicksal dieses anderen dem barmherzigen und menschenfreundlichen Gott. Jesus betet nicht für sich oder für seine eigene Zukunft. Er betet für Petrus. Das ist der Anfang der Glaubensgewißheit. Der Betende befreit sich aus der Abhängigkeit von Zufall und Planung und begibt sich in die fürsorglichen Hände Gottes. Der wird das Leben zum Guten wenden, sagt die Glaubensgewißheit.
Die meisten Menschen können diesen Überlegungen folgen, solange Gott aus ihrer Sicht das tut, was sie von ihm erwarten. Was aber, wenn ein Gebet nicht erhört wird, wie es offensichtlich bei dem Gebet Jesu der Fall war? Denn Petrus wird ja in ein paar Wochen seinen Herrn verraten, obwohl Jesus dafür gebet hat, daß er es nicht tut.
Es lohnt noch einmal ein Blick auf die Bitte. Denn Jesus hat Gott ja nicht um Bewahrung vor dem Verrat gebeten, sondern darum, daß der Glaube des Petrus nicht aufhöre. Aber auch der Glaube des Petrus wird beim Verrat gegenüber der Magd eine gewaltige Delle erhalten.
Wichtig erscheint: Jesus betet für einen anderen. Er hilft ihm nicht unmittelbar, obwohl er bestimmt hätte helfen können. Er setzt sich für ihn bei Gott ein. Das ist das Wichtigste, was uns in der ersten Woche der Passionszeit zum Nachdenken und Meditieren aufgegeben wird.
Das Passionsgebet besitzt eine doppelte Zielrichtung. Zum einen setzt es die Entscheidung Gottes an die Stelle des eigenen Aktivismus. Zum anderen verliert es sich nicht im Eigeninteresse, in den Wünschen und Begierden des eigenen sündigenden Lebens. Beten heißt: sich bei Gott und mit Gott um einen anderen Menschen kümmern, besonders dann, wenn es ihm schlecht geht, wenn er unter Demenz oder einem Tumor leidet, wenn er eine Chemotherapie durchmachen muß oder wenn ein guter Freund gestorben ist.
Am Ende kräht dann doch der Hahn. Ich habe gesagt, der Schrei des Hahns sei das Zeichen für den anbrechenden Morgen, für Petrus das Zeichen für seinen schmählichen Verrat am Lagerfeuer. Und es kommt noch ein drittes hinzu. Der Schrei des Hahns ist auch ein Zeichen für die Verwandlung des Leidens. Aus dem Kreuz heraus wird Gott das Licht der Auferstehung schaffen. Aus dem Verrat des Petrus und seiner folgenden Flucht nach Galiläa wird der Glaube an den lebendigen Christus entstehen. Aus der Notwendigkeit und dem Zwang des Verrats ist die Herrlichkeit und Freiheit Gottes geworden. So erfüllt sich schließlich doch noch das Gebet Jesu: Dein Glaube soll nicht aufhören.
Passion ist nicht unablässiges Leiden. Passion heißt: Gott verwandelt den Schmerz in Freiheit. Amen.
Perikope