Predigt über Matthäus 27,33-50 (51-54) von Titus Reinmuth
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Predigt über Matthäus 27,33-50 (51-54) von Titus Reinmuth

Alle sind sie da, liebe Gemeinde:
  alle, die Jesus zu Lebzeiten begleitet haben, sind auch am Ende versammelt und sehen zu, was da geschieht auf Golgatha: das Volk, die Oberen, die römischen Soldaten und die Freude Jesu, die ihm aus Galiläa gefolgt waren, darunter auch die Frauen. Als Predigttext ist uns heute die Fassung des Matthäus vorgeschlagen, er ist der Theologe unter den vier Evangelisten. Wenn er berichtet, dann immer mit einem Seitenblick in seine Bibel. Er blättert zu Mose, den Psalmen, den Propheten, um zu zeigen, wie die Geschichte Jesu sich damit verbindet. Doch wir inszenieren heute eine kleine Konferenzschaltung! Nebenbei schauen wir immer wieder mal herüber zum Kollegen Lukas. Er ist in der Abteilung Gesellschaft und Politik tätig. Ihn interessieren besonders die sozialen Fragen in der Geschichte Jesu. Am Ende fragen wir nach uns. Wie hören wir die Geschichte?
  
  Die Evangelisten erzählen die Geschichte von Jesu Kreuzigung und Tod wie den Schlussakt eines Dramas, in dem noch einmal alle wichtigen Figuren aus dem ganzen Stück auftreten: die Römer, die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten, die Jüngerinnen und Jünger, das Volk. Hinzu treten zwei Verbrecher, die mit Jesus gekreuzigt werden, einer zur Rechten und einer zur Linken.
  
  Doch zunächst zu denen, die wir kennen.
  Der Verurteilte Jesus von Nazareth trägt sein Kreuz auf dem Weg nach Golgatha.
  Er geht seiner Hinrichtung entgegen. Die römischen Soldaten haben ihn gefoltert und verspottet. Haben ihm eine Dornenkrone aufgesetzt und gelacht: Ha, du König der Juden!
  Matthäus erzählt, wie sie ihm jetzt Wein zu trinken geben wollen, mit Galle vermischt. Eine erste Anspielung auf einen Klagepsalm (Ps 69,22). So schildern die Gebete der Armen und Elenden, was die Feinde ihnen antun. Wer sein Gebetbuch kennt, versteht. Ja, hier ist einer seinen Feinden ausgeliefert, ihrem Spott, ihrer Gewalt. Aber Gott wird ihn hören und ihm helfen. So wird es enden. Sehr bewusst streut Matthäus seine Hinweise in seinen Bericht. Er will erzählen: Der hier gefoltert und verspottet wird, der hier leidet und stirbt, ist ein leidender Gerechter, mehr noch: Dies ist der Gottessohn. Die Kreuzigung? Matthäus schildert keine Einzelheiten. „Als sie ihn aber gekreuzigt hatten“, fährt er fort. Rückblickend, in einem Nebensatz, weil man es ja erwähnen muss. So als folge das wichtigste erst noch. Die Soldaten verteilen seine Kleider und werfen das Los darum. Noch einmal: Wer die Psalmen kennt, hört: Ja, so geht es einem leidenden Gerechten (Ps 22,19). Hier wird nicht irgendeine Kreuzigung geschildert, wie es eben unzählige gab. Hier wird nicht ein weiteres Mal ein guter Mensch beseitigt. Was hier geschieht, betrifft den Glauben.
  
  Schalten wir herüber zu Lukas! Fachredakteur für Politik und Soziales. Schon auf dem Weg nach Golgatha wird bei ihm das Volk eigens erwähnt. Dort heißt es: „Es folgte ihm eine große Menge des Volkes und Frauen - die klagten und beweinten ihn.“ Das Volk, das sind bei Lukas all die Menschen, die Jesus aufgesucht hat auf seinem Weg durch Galiläa und nach Jerusalem. Wenn er predigt, ist das Volk versammelt und hört ihm zu. Wo er Menschen heilt, ist das Volk zugegen und lobt Gott. Das Volk geht ihm nach, um ihn zu hören. Denn was er sagt, ist zuerst die frohe Botschaft für die Armen, es ist die Nachricht, dass Gott an der Seite des armen Volkes steht und ihnen Befreiung verspricht; dass Gott an der Seite der Kranken und Ausgestoßenen steht und ihnen Heilung verspricht. Diese kranken und hungernden, diese glaubenden und hoffenden Menschen sind das Volk. Es sind übrigens Menschen, die von den Oberen, den jüdischen Autoritäten in Jerusalem, längst nicht mehr unterschätzt werden. Als Jesus nach Jerusalem kommt und im Tempel die Händler vertreibt, entsteht großer Aufruhr. Lukas erzählt: „Die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten;
  aber sie wussten nicht, wie sie es machen sollten, denn das ganze Volk hing an ihm und hörte auf ihn.“ Und wenn schließlich Pilatus fragt, was denn gegen diesen Jesus vorliege, so lautet der Vorwurf: Er wiegelt das Volk auf. Ja, es scheint eine gewisse aufständische Stimmung in der Luft zu liegen, damals in Jerusalem. Das leidende Volk droht sich zu erheben.
  Doch daraus wird nichts, wie wir wissen. Der Mann, auf den die Hoffnungen sich richten, ist am Ende. Er wird gekreuzigt wie ein Verbrecher. Das Volk steht da und sieht zu, notiert Lukas, es kann nichts mehr tun.
  
  „Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat anderen geholfen, nun helfe er sich selber, wenn er der Christus ist, der Auserwählte Gottes.“ Ja, die Oberen, sie spotten. Wenn dieser Jesus der Sohn Gottes ist, so soll er sich doch zeigen. Soll er sich doch selber helfen.
  Matthäus schaltet sich ein. Er macht es konkret. Für ihn sind es hier die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und die Ältesten, also die religiöse Elite in Jerusalem, die spotten. Matthäus zitiert auch die Vorwürfe aus der Verhandlung vor dem Hohen Rat. Er habe behauptet, er sei Gottes Sohn. Er habe gesagt, er könne den Tempel abreißen und in drei Tagen wieder aufbauen. Das alles ist Gotteslästerung, nichts anderes.
  
  Ja, die Oberen, die archontes, die Herrschenden, wie es im Griechischen heißt. Lukas belegt sie einfach mit diesem Schlagwort. Bei ihm lässt sich gar nicht so genau sagen, wer das im einzelnen ist. Es scheinen alle gemeint zu sein, die Macht und Ansehen haben, alle, die „oben“ sind, sei es weil sie Haus und Land und Geld haben, sei es weil sie politischen Einfluss üben können in Jerusalem, sei es weil sie den religiös führenden Kreisen angehören. Gelegentlich stehen sie Jesus und dem Volk gegenüber, so beschreibt es Geschichte von den Emmaus-Jüngern.
  Als die drei Tage nach Karfreitag nach Emmaus unterwegs sind und dem  Fremden begegnen, fragen sie ihn verdutzt: „Du weißt nicht, was in diesen Tagen in Jerusalem geschehen ist?“ Und auf die Rückfrage „Was denn?“ erläutern sie: „Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten und Worten vor Gott und vor allem Volk; wie ihn unsere Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.“ Hier ist noch die ganze Spannung zu spüren, die über der Stadt liegt, zwischen Jesus, seinen Jüngerinnen und Jüngern und dem Volk auf der einen Seite, und den Hohenpriestern und Oberen auf der anderen Seite. Die Oberen scheinen sich durchgesetzt zu haben.
  
  Jetzt, da Jesus am Kreuz hängt, spotten sie. „Soll er doch vom Kreuz herabsteigen! Dann wollen wir an ihn glauben!“ Es sind römische Soldaten, die ihn ans Kreuz geschlagen haben. Der Tod Jesu war kein Justizirrtum, auch keine irgendwie außergewöhnliche Hinrichtung. So ist man mit Verbrechern und Aufrührern umgegangen. Führende Kreise, der Hohe Rat in Jerusalem, hatten ihn verurteilt und der römischen Besatzungsmacht in die Hände gespielt. Und jetzt teilt Jesus das Leid der vielen, die vor ihm und nach ihm diesen Foltertod am Kreuz erleiden mussten.
  
  Wie mag jetzt seinen Jüngern zumute gewesen sein, den engsten Freunden und Weggefährtinnen? Sind sie verzweifelt, weil nun alles aus ist? Verängstigt, weil es ihnen als nächstes an den Kragen gehen könnte? Oder haben sie noch Hoffnung bis zur letzten Minute, nach dem Motto: Wer weiß, vielleicht hilft er sich ja selber. Womöglich straft er die Spottenden Lügen und zeigt allen, dass er wirklich der Messias ist, der Sohn Gottes? Ist er es? Oder haben sie ihre Hoffnungen auf den Falschen gesetzt?
  
  Der Erzähler Lukas weiß aus der Nähe zu berichten, wie sich dieser Jesus noch am Kreuz offenbart.
  Wie er sich den Menschen zeigt – denen, die machtlos klagen, und denen, die höhnisch spotten.
  Da ist Jesus im Gespräch mit Gott, den er Vater nennt. Noch am Kreuz bittet er für die, die ihn verfolgt haben: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Spricht so einer, der gescheitert ist? Und dann sind da noch die beiden Verbrecher, rechts und links von ihm.
  Auch diese Episode ist nur bei Lukas erzählt.  Zu dem einen sagt er: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Das kann nur der Sohn Gottes versprechen.
  
  Matthäus bleibt ganz Theologe, er ist selbst ein Gelehrter, einer, der sich in der Schrift auskennt und aus der Schrift zitiert. Jesus bleibt der Leidende. Psalm 22 ist sein Klagepsalm am Kreuz. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, so ruft er. „Eli, Eli, lama asabtani?“ Manche hören etwas von Elia. Aber auch Elia, der große Prophet vergangener Tage, auch Elia kommt nicht, um Jesus zu helfen. Jesus schreit noch einmal laut und stirbt.
  
  So berichten es die Evangelisten. So hören wir es am Karfreitag. Wo alle fragen: Kann dieser Jesus, so wie er gekreuzigt wird, der Christus sein?, da deutet sich schon eine Antwort an: Weiler diesen Tod stirbt, kann er der Christus sein. Er, der den Tod überwinden wird, nur er kann Menschen in sein Reich rufen und sagen: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
  Schon jetzt am Karfreitag, schon hier am Kreuz, nimmt Jesus, der Christus, Menschen für sich ein.
  Zuerst den Verbrecher an seiner Seite und später den römischen Hauptmann, der das alles sieht und hört und am Ende nur sagen kann: „Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!“. So sagt es Lukas. Natürlich geht Matthäus noch weiter. Bei ihm sagt der Hauptmann: „Fürwahr, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ So ist das an Karfreitag. Die einen spotten. Die andern schauen von Ferne und wissen noch nicht, wie sie all das deuten sollen. Aber im Augenblick der scheinbaren Niederlage bekennen sich schon zwei zu ihm. Eine Andeutung von Ostern, mehr noch nicht.
  
  Wesentliches hat sich gezeigt in diesem Kreuzestod, es bleibt prägend bis heute: Der Sohn Gottes geht dem Leiden nicht aus dem Weg. Er zieht den Hals nicht aus der Schlinge, nein, er steigt nicht vom Kreuz, um den Schmerzen zu entgehen – oder „sich selber zu helfen“, wie die Mächtigen spotten. Er verzichtet auf Zeichen von Macht und Stärke, mit denen andere Götter, etwa die der Römer, sich schmücken. Stattdessen macht er sich gleich mit den Schwachen und Ohnmächtigen, er leidet ihr Leiden und stirbt ihren Tod. Hier zeigt sich kein Gott, der dem Leben entrückt ist,
  sondern einer, der das Leben kennt. Diese Empfindsamkeit für das Leiden zeigt, wie er ist und wer er ist.
  
  Was sollten wir auch mit einem starken und mächtigen Gott? Was nützt der uns, wenn wir leiden, oder das Leid anderer erleben? Wenn wir die Bilder aus Syrien sehen oder wenn einer von uns plötzlich und ernstlich krank wird ... was nützte uns ein ferner und mächtiger Gott, den wir anrufen könnten, er möge doch bitte helfen? Ob es diesen Gott überhaupt gibt?
  Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott, der sich in den Klagepsalmen anrufen ließ, der Gott, der sich durch seine Propheten auf die Seite der Armen stellte, der Gott, der in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist, der kommt uns nah. Er kann Not lindern, wo Menschen leiden.
  Er kann mitgehen, etwas mit tragen, so dass Menschen ihr Leid bestehen können, auch wenn es manchmal nicht zu verstehen ist. Kann sein, dass jemand schwer krank wird und nur noch rufen möchte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Kann sein, dass jemand die Tagesschaubilder sieht und nur noch klagen will: „Warum Gott und wie lange noch soll das so gehen?“
  
  Aber zu diesem Gott, dem Vater Jesu Christi, lässt sich nur so klagen, mit diesem Gott lässt sich nur so ringen, weil er uns so nahe gekommen ist, weil er so empfindsam ist für das Leiden, weil er uns wirklich begegnet. Auch manches Leid, von dem die Evangelisten berichten, erkennen wir wieder.
  Es gibt sie ja immer noch: die Oberen, die Soldaten, das Volk. Der Evangelist Lukas erzählt die Geschichte ganz eindeutig. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, auf wessen Seite Gott steht. Für wen Gott Partei ergreift in diesem Menschen Jesus. Mit wem er sich gleich macht.
  Es gibt sie bis heute: die Oberen, die Soldaten, das Volk. Für Christinnen und Christen beginnt Ostern immer mitten unter dem Kreuz. Wir selbst werden empfindlich für die Not anderer. Wir selbst finden uns wieder an die Seite derer, die leiden. Wir selbst wissen, für wen wir Partei ergreifen. Mit denen, die unten sind, dürfen wir glauben und lieben und hoffen – denn dieser Mensch, von dem heute die Rede war, dieser Mensch ist Gottes Sohn.
  
  Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
  der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
  Amen.