Predigt über Matthäus 9, 9-13 von Thomas Bautz
9,9
Liebe Gemeinde!
  
  „Meine engen Grenzen,
  meine kurze Sicht bringe ich vor dich.
  Wandle sie in Weite:
  Herr, erbarme dich.
  Wandle sie in Weite:
  Herr, erbarme dich.“
  
  Diesen Text schrieb Eugen Eckert 1981 für das EG (600, Ausgabe RWL): Sozialarbeiter, Texter, Instrumentalist in einer Musikgruppe, Gemeindepfarrer und Studentenpfarrer.
  Ein Mensch mit viel Lebens- und Berufserfahrung: mit sozialen Randgruppen; mit Menschen, die nur von einem Existenzminimum leben, die sozial und wirtschaftlich ausgegrenzt sind.
  
  Als Pfarrer begegnete Eckert vermutlich mehr oder weniger allen gesellschaftlichen Schichten und damit auch den ganz unterschiedlichen Sorgen und Nöten der Menschen, die altersmäßig nochmals erhebliche Unterschiede aufweisen. Freilich begegnet ein Pfarrer auch „ganz normalen“ Bürgern, die das Glück eines recht „geraden“ Lebensweges hatten und haben.
  
  Mit diesen Menschen kann man sich nur freuen, ebenso mit ihren Kindern, deren Eltern sie dann häufig auch taufen lassen. Auch kirchliche Trauungen werden öfter wahrgenommen.
  
  Manchmal ist das „gute“, „ordentliche“ Leben aber nur Fassade oder Makulatur. Nach außen werden scheinbar solide Verhältnisse aufrecht erhalten, innen jedoch sieht es ganz anders aus. Wie unbarmherzig sind unausgesprochene oder gar öffentlich geltende Maßstäbe, die an Menschen herangetragen werden, so dass sich Einzelne oder ganze Familien nicht getrauen, mit ihren Problemen Hilfe zu suchen? Aber es gibt Instanzen, die Unterstützung anbieten, auch in Kirchengemeinden.
  
  Es sind eben keineswegs nur die wirtschaftlichen, materiellen Probleme, die Pfarrer im Leben einzelner Menschen, die sich ihnen anvertrauen, erleben. Oftmals wiegen die seelischen Belastungen weit schwerer, und das Miteinander in der Familie, am Arbeitsplatz oder sogar in der Gemeinde ist für einige Menschen sehr bedrückend.
  
  Versteht sich der Pfarrer als Begleiter, als Seelsorger, wird er auch immer wieder an seine eigenen Grenzen stoßen und sich mitunter ohnmächtig fühlen.
  
  „Meine ganze Ohnmacht,
  was mich beugt und lähmt, bringe ich vor dich.
  Wandle sie in Stärke:
  Herr, erbarme dich.
  Wandle sie in Stärke:
  Herr, erbarme dich.“
  
  Wer helfen will, muss auch helfen können. Wolfgang Schmidbauer hatte mit seinem ersten Bestseller „Die hilflosen Helfer“ auf diese Problematik hingewiesen. Eigene Stärke, Stabilität, Ausgeglichenheit und eine daraus gespeist Motivation sind wichtige Voraussetzungen.
  Professionalität und soziale Kompetenz allein sind nicht ausreichend. Ein Pfarrer in Köln sagte einmal: Wir brauchen „Menschen mit Herzblut“. Wir sprechen auch von Menschen, die „ein Herz für andere“ haben.
  
  Friedrich Nietzsche meinte: „Mitfreude, nicht Mitleiden, macht den Freund.“
   
  Allzu häufig herrschen in unserer Gesellschaft falsches Mitleid und Pseudosolidarität, die niemandem helfen und die Menschen weiterhin einsam dastehen lassen:
  
  Das tut mir wirklich leid (für Sie)! Man muss Mitleid mit diesem Menschen haben!
  
  Solche u.ä. Sprüche ersparen in der Regel echtes, wahrhaft bemühtes Einfühlen (Empathie). Leid (mit)tragen; Leid aushalten; mit jemandem in seinem Leid ausharren; Klage zulassen; Schweigen können angesichts von Not, Elend und Ungerechtigkeit, das dem anderen widerfährt, und dabei (vielleicht mit nonverbalen Signalen, Gesten) präsent bleiben; das wäre Gemeinschaft.
  
  Stattdessen werden Menschen durch floskelhaftes Sprachverhalten und durch offensichtliche Distanzierung (nicht präsent bleiben) faktisch ausgegrenzt: Leidende sind eben bedauernswert, bemitleidenswert; deshalb halten wir sie uns vom Leibe.
  
  Offenkundig beklagt Nietzsche (s.o.) das falsche, geheuchelte Mitleid(en).
  Deshalb stimme ich ihm gern zu: Wer sich mit einem Menschen freuen kann, der ist auch bereit, mit ihm/ ihr eine Freundschaft einzugehen.
  
  Wirkliche Freundschaft ist rar. Neid, Missgunst, versteckte Feindseligkeit oder zumindest Konkurrenzdenken beherrschen die Szene in Deutschland.
  
  Zum Glück existieren auch Inseln wahrhaftiger Solidarität, Menschlichkeit und Wärme, wo die anderswo Ausgegrenzten um ihrer selbst willen ernst und angenommen werden.
  
  Oftmals werden allerdings Akzeptanz und Aufnahme in eine Gemeinschaft an gewisse Bedingungen geknüpft, die allesamt etwas mit Anpassung, Einfügen und Übernahme herrschender Anschauungen und Gepflogenheiten zu tun haben.
  
  Unter diesem Blickwinkel versuche ich die Geschichte zu verstehen: Jesus, wie er den „Zöllnern und Sündern“ in Gegenwart der Pharisäer in einem Hause, zu Tische liegend, begegnet. Zöllner waren eine Berufsgruppe, die der damaligen Gesellschaft verhasst war, weil einzelne Zöllner mehr Gebühren verlangten, als es rechtens war. In einem Atemzug sprach man von „Zöllnern und Sündern“, von ruchlosen, kultisch unreinen, moralisch verdächtigen Leuten. Sie wurden ganz selbstverständlich von der übrigen Gesellschaft, auch von den Frommen, z.B. von Pharisäern und Schriftgelehrten, ausgegrenzt.
  
  Deshalb war es wahrhaft ein Affront, dass der Rabbi aus Nazareth mit solchen Leuten zu Tische lag, mit ihnen in Gegenwart seiner Jünger ein Gastmahl und Gemeinschaft teilte. Prompt bekamen Pharisäer davon Wind und fragten die Anhänger Jesu vorwurfsvoll, warum sich ihr Lehrer so verhielte. Jesus wartete die Antwort der Jünger gar nicht erst ab, sondern entgegnete in der ihm eigenen Souveränität:
  
  „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken!“
  
  Wie die Reformatoren bin ich geneigt, diese Aussage als Ironie aufzufassen: Nicht solche, die sich für „gesund“ halten, bedürfen des Arztes, sondern jene, die ihre Schwächen, Gebrechen und Macken kennen. Dasselbe behaupte ich von dem Satz am Schluss der Geschichte:
  
  „Denn ich kam nicht, Gerechte zu berufen, sondern Sünder!“
  
  Wer könnte schon als „gerecht“ gelten? Der Theologe und Schriftsteller Kurt Marti hat in seiner Psalmenübertragung das Wort „Gerechter“ mit „Bewährter“ wiedergegeben. Ich meine, dass trifft es schon eher. Ich kann mir vorstellen, dass weder Psalmdichter noch Jesus ein unrealistisches Menschenbild vertraten.
  
  Deshalb sollte Jesus wohl folgendermaßen verstanden werden: Ich gebe mich nicht dafür her, Menschen zu bestätigen, die sich für „gerecht“ halten; vielmehr will ich für diejenigen da, die genau um ihre Verfehlungen, Defizite, Unterlassungen und ungerechtes Verhalten wissen.
  
  Man könnte auch sagen, Jesus gebe sich nicht gern mit selbstgefälligen, moralisierenden Leuten ab, sondern lieber mit „handfesten Sündern“, die aber bereit sind, ihre jeweilige Schuld zu bekennen und zu bereuen.
  
  Der Nazarener zog also auf seine Weise Grenzen, die man als ungewöhnlich erachten musste.
  Im Grunde kehrte er die herrschenden Verhältnisse und Wertvorstellungen im Sozialen um.
  
  Das Motiv des Rabbi Jesus für die nahezu vorbehaltlose Menschenliebe war Barmherzigkeit. Nicht zufällig wird in den Evangelien immer wieder erwähnt, wie ihn bei Begegnungen mit Kranken diese ansprachen: „Erbarme Dich mein. Erbarme Dich unser.“
  
  Am Ende eines Gottesdienstes bevorzuge ich den Segen: „Es segne und behüte uns der gnädige und barmherzige Gott!“
  
  Das Wort „barmherzig“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch äußerst selten geworden. Ein namhafter Prediger äußerte einmal anlässlich eines feierlichen Gottesdienst im Altenburger Dom (bei Köln): „In der Gesellschaft ist die Barmherzigkeit der öffentlichen Meinung gewichen, und die ist allemal unbarmherzig.“
  
  Auf unbarmherzige Weise werden Menschen aus dem öffentlichen Leben an den Pranger gestellt. Der Möglichkeiten sind viele: voreilig geäußerte Mutmaßungen, falsche Behauptungen, üble Nachrede, Verleumdungen, Rufmord. Manchmal genügt auch die einfache „Wahrheit“. All das kennen wir gewiss auch in anderen Bereichen der Gesellschaft: unter Nachbarn, am Arbeits- oder Ausbildungsplatz, in der Familie und leider auch in der Kirche. A propos „Wahrheit“: Ich kann die reine Wahrheit über einen Menschen sagen, aber wenn meine Motive dabei unwahrhaftig, heuchlerisch, eigennützig und vor allem ohne Liebe sind, kollidiere ich mit Jesu Gebot, barmherzig zu sein.
  
  Aus einem anderen Blickwinkel komme ich noch einmal auf das Problem der Ausgrenzung zu sprechen. Ich fürchte, dass ein Aspekt des Ausgrenzens innerhalb der Kirchen von diesen kaum oder gar nicht erkannt wird. Ich rede von der Verwendung uralter formelhafter Sprache in Gottesdiensten und bei Amtshandlungen, die regelmäßigen Besuchern offenbar so sehr ans Herz gewachsen und unentbehrlich geworden ist.
  
  Wie aber können sich Menschen dazu verhalten, die nur sehr selten mit dieser Kirchensprache konfrontiert werden? Die absolute Mehrheit der Gesellschaft gehört zu den Außenstehenden. Wenn ich recht informiert bin, kommen der große Anteil der Arbeiter und Angestellten, aber auch zunehmend Teile der Mittelschicht in der Regel in Gottesdiensten nicht vor.
  Das sog. Bildungsbürgertum wird die liturgischen Formeln: trinitarisch, christologisch, mariologisch und auch das Apostolische Glaubensbekenntnis noch kennen. Ich wage allerdings zu bezweifeln, ob jemand in der Lage wäre, das so zu übersetzen, dass es verständlich und nachvollziehbar würde.
  
  Der Schriftsteller Martin Walser drückt das aus, was vermutlich viele Außenstehende denken:
  
  „Ich kann mich nicht mehr so verrenken. Ich habe Gott mit diesen Formeln geerbt, jetzt verliere ich ihn durch diese Formeln.“
  
  Die Dogmen, die in den ersten fünf Jahrhunderten der Kirchengeschichte entstanden, prägen bis heute die Grundfeste liturgischer Sprache. Dies gilt verstärkt für die römisch-katholische, leider aber auch für protestantische Kirchen. In den Kirchen heißt es „Ich glaube an ...“, weniger „Ich vertraue auf ...“ oder „Ich vertraue ...“. Bekenntnissätze kann man doch nur für wahr oder falsch halten (etwa wie Aussagesätze in der Logik), aber wer vermag ihnen zu vertrauen und warum?
  
  Sollte liturgische Sprache einen inhaltlichen Bezug zur Frohbotschaft, zum Evangelium von der Barmherzigkeit Gottes haben, sollte sie dann nicht aus nachvollziehbarer sein, gerade auch für Außenstehende? Außenstehende werden allzu leicht zu Ausgegrenzten. Kirchen bedürfen einer immensen Selbstkritik und sprachlicher Umkehr.
  
  Stattdessen ist die bilderreiche Verkündigung Jesu und sein zentraler Gedanke des Reiches Gottes oder des Reiches der Himmel arg in den Hintergrund geraten. Den Evangelien nach hat es Jesus glänzend verstanden, gerade auch die Bevölkerung des Landes, die einfachen Leute, anzusprechen. Und er rief sie in seine Nachfolge: u.a. Fischer und Zöllner.
  
  Provozierend könnte man unterstellen, die Kirchen folgen nicht dem Rabbi aus Nazareth, sondern dem Konstrukt ihres selbst erdachten „Christus“. Jedenfalls fällt mir immer wieder auf, dass der Jesus der Evangelien mit dem Christus christologischer Dogmen sehr wenig gemein hat. Man hatte ja bereits bei der Komposition und Redaktion der Evangelien an manchen Stellen „christologisch“ nachgebessert bzw. manipuliert. Doch scheinen die Evangelien insgesamt das jesuanische Erbe relativ treu bewahrt zu haben.
  
  Jesus setzte sich schon über das Sprachverhalten in seiner Gesellschaft hinweg, indem er die gängige Klassifizierung „Zöllner und Sünder“ nicht akzeptierte und obendrein mit den Ausgegrenzten selbstverständlich das Gastmahl pflegte. Er unterschied faktisch nicht zwischen seinen Anhängern (Jüngern) und den Ausgegrenzten. Jesu Verhalten galt als barmherzig, und dies ist bis heute ganz positiv zu verstehen.
  
  Das Wort ist heute m.E. etwas schillernd. Sich jemandes „erbarmen“, „Barmherzigkeit üben“ usw. kann auch aus einer Haltung „von oben herab“ erfolgen. Am ehesten wird derjenige, dem Barmherzigkeit zuteil wird, beurteilen können, ob sie aus reinen Motiven erfolgt.
  
  Vielleicht ist das Wort aufgrund eben dieser Zweideutigkeit aus dem allgemeinen Sprachgebrauch weitgehend gewichen, wie auch andere Worte der Kirchensprache: „sündigen“, „Sünder“, „Buße tun“, „büßen“, „Gott fürchten“ kaum noch vorkommen oder in ziemlich abgewandelter Bedeutung.
  
  Eine grundlegende Reform der Kirchensprache bedeutet freilich nicht, dass alle „alten“ Wörter ausgemerzt würden, nein, insbesondere die trotz allem noch bewährten Wörter sollten erhalten bleiben und gepflegt werden. Die Sprachepflege sollte allerdings so erfolgen, dass die Bedeutung des einzelnen Wortes bei gegebenen Anlässen, auch in Gottesdiensten, erklärt wird. Für das Wort „barmherzig“ z.B., das hat die Geschichte heute hinreichend gezeigt, ist die Erhaltung dringend notwendig.
  
  Es segne und behüte uns der gnädige und der barmherzige Gott. Amen.
  
  Ulrich Luz: EKK I/2: Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17) (1990), 40-45.
  Hubertus Halbfas: Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss (4. Aufl. 2012): (IV) Die Sprache des Glaubens verhindert den Glauben, 31ff (Zitat: Walser, Halbzeit).
Perikope