Predigt über Offenbarung 3, 14-22 von Eberhard Schwarz
3,14
14 Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes:
15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest!
16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.
17 Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.
18 Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest.
19 Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!
20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.
21 Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron.
22 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Liebe Gemeinde an diesem Buß-und Bettag 2012,
„Im Morgengraun trampeln die Menschenmassen unsern stillen Planeten in Gang.
Wir sind alle an Bord der Straße, es herrscht Gedränge wie auf dem Deck einer Fähre.
Wohin sind wir unterwegs? Reichen die Teebecher? Wir können uns glücklich schätzen, an Bord dieser Straße gekommen zu sein! Es ist tausend Jahre vor der Geburt der Klaustrophobie.
Hinter jedem, der hier geht, schwebt ein Kreuz, das uns überholen, an uns vorbeigehn, sich mit uns vereinigen will.
Etwas, das sich von hinten an uns heranschleichen und uns die Augen zuhalten und flüstern will: „Rat mal, wer da ist!“
Wir sehen fast glücklich aus in der Sonne, während wir verbluten aus Wunden, von denen wir nicht wissen.“
So, liebe Gemeinde, endet eines der großen Gedichte des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Thomas Tranströmer. "Straßen in Shanghai", der Titel. Shanghai, das ist darin mehr als die Hafen - und Wirtschaftsmetropole an der Mündung des Jangtsekiang: 23 Millionen Einwohner, der größte Containerhafen der Welt, Hochschulen, Handel, Kultur, eine unendliche Verdichtung von Unruhe und Aktivität und Leben. Shanghai, das ist eine Realsymbolie, ein Gleichnis für diese Welt: die Menschenmassen, die, gesteuert von wem auch immer, jeden Augenblick diesen stillen Planeten in Gang trampeln - getrieben, wodurch auch immer. Und wir mittendrin: unterwegs auf einer Straße, die eher einer Fähre über einem abgründigen Ozean gleicht als einem festen Weg. Wohin geht die Reise? Kulturell? Ökonomisch? Politisch? Reichen die Teebecher? Gott sei Dank: wir sind noch an Bord! Wir sind noch im Gewühle! Wenigstens das! Aber hinter uns, hinter jedem: dieses Kreuz ... und diese tückische Frage, die niemand hören will: "Rat mal, wer da ist!" Ja, wer denn? Und wir, Närrinnen und Narren, wir sehen fast glücklich aus, während wir an unseren unbekannten, nicht gesehenen, verdrängten Herzens- und Seelenwunden verbluten.
Heute ist Buß- und Bettag. Heute sind wir nicht in Shanghai, für eine Stunde nicht auf der Schnellstraße, im High-Speed-Internet, nicht an den Hochfrequenzbörsen, nicht in den Rating-Aktionen der Banken, Unternehmen, Hochschulen oder sogar unserer Kirchen. Wir sind gelandet auf einer Insel, auf dem Eiland, das Patmos heißt. In der erzwungenen Stille eines Verbannten. Und wir hören, was, vom Geist ergriffen am Tag des Herrn, dieser gesellschaftlich ausgesetzte Seher Johannes an eine der sieben Gemeinden, nach Laodizea schreibt.
An diese junge Kirche in Laodizea am Lykos in der heutigen Türkei! Auch das: ein Shanghai. „Laodizea, das sind wir“, hat Helmut Gollwitzer vor vielen Jahren schon geschrieben. Jetzt gilt es mehr denn je. Diese große antike Stadt war reich! Sie hatte die besten Karten im Monopoly des Imperium Romanum: Finanzzentren, Handelsfirmen, Textilfabriken. Es gab dort pharmazeutische Industrien, die ihr phrygisches Pulver zur Behandlung von Augenkrankheiten exportierten, eine medizinische Hochschule mit effizienten Forschungseinrichtungen, ökonomische und wissenschaftliche Eliten. Alles war da. Und auch wenn es nicht ohne Konflikte zuging – es ist die Ära des Christenverfolgers Domitan: die Christen, die Gemeinde Jesu Christi, sie konnte wenigstens leben. „Wir sehen fast glücklich aus in der Sonne, während wir verbluten aus Wunden, von denen wir nicht wissen.“
Es ist eine bittere Botschaft, ein bedrückendes Schreiben. „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.“
Wissen wir in dem Taumel, in dem wir leben, wer wir sind? Was wir sind? Arm oder reich? Kalt oder lau oder warm?
Das Sendschreiben nach Laodizea ist, um es präziser zu sagen, keine Botschaft an die Zivilisation überhaupt. Es ist kein Brief an die allgemeine Kultur, an die römische Gesellschaft, an eine Welt im Taumel.
Diese Botschaft ist ein Schreiben an eine christliche Gemeinde. Ein Brief an die Kirche. Und wir hören sie sehr zu Recht heute, am Buß- und Bettag. Denn der Buß- und Bettag ist nicht mehr der staatlich verordnete Feiertag für eine christliche Zivilisation. Seit seiner Abschaffung als staatlicher Feiertag ist er ein Moment der Selbstreflexion von Kirche. Eine Anfrage an unseren Lebensstil in dieser Welt. Und die eigentliche, zentrale Frage, die darin gestellt wird, ist:
Vor welchem Horizont handeln, leben, entscheiden wir als Kirche, als Christinnen und Christen? Und der Vorwurf und das sehr harte Urteil, das nach Laodizea gesandt wird, ist: Ihr lebt nicht christlich; ihr lebt in Wirklichkeit nachchristlich! Ihr lebt und handelt und verhaltet euch so, als wären die Spielregeln eures Lebens längst nicht mehr durch den österlichen Horizont der Gottesankunft und des neuen Lebens bestimmt.
Aber das ist falsch! Ihr habt - wir haben! - Christus nicht hinter uns. Wir haben ihn vor uns! Immer wieder stehen wir mit ihm am Anfang. Wir mit ihm und er mit uns. Das ist die Botschaft! An eine Kirche, die sich postchristlich versteht. Die ihre Horizonte verloren hat und darum lau ist. Postchristlich, das ist eine Kirche, die es nicht mehr zulässt oder vielleicht nicht mehr aushält, ihn einzulassen, ihn in ihre Lebensvollzüge hinein zu nehmen. Eine Kirche, die nichts mehr erwartet oder sich steuern lässt von den dumpfen Kräften, die unseren Planeten Tag für Tag in Gang trampeln. Es ist eine Kirche, die glaubt, ihn hinter sich zu haben und die aus der Vergangenheit lebt.
Aber Er: Er steht vor der Tür und lädt ein in seine Lebendigkeit, an seinen Tisch, diese andere Realsymbolie, die nicht Shanghai oder Laodizea ist, sondern der Tisch, der Himmel und Erde im Raum des geteilten Brotes und Weines zusammenbindet.
Haben wir ihn tatsächlich vor uns? Manche auch in unseren Gemeinden sind sich nicht mehr so sicher. Längst ist das Wort von der nachchristlichen Zeit auch in unseren Kirchen zum gängigen Topos geworden. Und der Buß- und Bettag als der einmal staatliche und nun schon lange „nur noch“ kirchliche Feiertag scheint dafür beispielhaft zu stehen.
Vor welchem Horizont handeln und leben wir als Kirche?
Noch einmal: Wir sind in einem besonderen Sinn vorchristlich! Das kst die Botschaft nach Laodizea, nach Shanghai oder wohin auch immer. Immer, alle Tage steht er vor uns, sucht uns als Gegenüber mitten im Leben, sucht unsere Wahrheit, sucht unser Gesicht, sucht unsere ethischen Entscheidungen inmitten aller Zwangsläufigkeiten der Welt, sucht uns, um uns zur Wahrheit und zur Freiheit zu rufen, sucht uns, um uns zu stärken: Er, der Amen sagt, der sogar Amen heißt: So ist es, so soll es geschehen. Der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes. Er steht vor unserer Lebenstür.
Immer wieder steht er vor uns armseligen Reichen wie ein Kaufmann, wie ein Händler voller Gaben: sein Gold, seine Kleider, seine Augensalbe, die uns anders, auf andere Art, reich machen, die uns anders sehen lehren, die unsere Nacktheit und Schutzlosigkeit anders bergen: Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest.
Liebe Gemeinde, es waren die "großen Alten" unter den bekennenden Theologinnen und Theologen des letzten Jahrhunderts, die sehr viel deutlicher gesehen haben, dass jedes so genannte nachchristliche Zeitalter in Wahrheit eine vorchristliche Zeit ist. Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer, um nur zwei zu nennen. Die Idee eines Finis Christianismi – eines Endes des Christentums - das ist für sie sicherlich das Ende einer bestimmten Gestalt von Welt und Kultur und Religion, wie man bisher im Abendland gekannt hat. Aber es ist nicht das Ende des Christentums. Und es ist nicht der Abgesang seiner Zukunft und seiner Lebendigkeit. Im Gegenteil: Es ist so etwas wie der neu ergehende Aufruf zur Begegnung mit Christus. Der Ruf, ihn in unsere Lebensbezüge eintreten zu lassen.
Heute ist Buß- und Bettag. Ein Tag, an dem wir als christliche Kirche mitten in der Woche Gottesdienst feiern. Wir besinnen uns auf unsere eigene Lebensgestalt. Wir versammeln uns im Namen Jesu Christi, des Herrn der Kirche, des wahrhaften Zeugen, des Anfangs der Schöpfung Gottes. Es ist ein Tag, an dem wir nicht nach Shanghai und nach Laodizea sehen, sondern nach Patmos; ein Tag, an dem wir uns das zusagen lassen, was die Übersetzung Luthers mit nicht immer guten Folgewirkungen so sagt: „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich.“ Gemeint ist: Welche ich liebe, deren Verhalten bringe ich zutage und die lehre ich Gutes.
Die lehre ich sehen, dass sie selber in den Mechanismen von Druck und Gegendruck dieser Welt stecken, dass alle ihre persönlichen Lebenskämpfe haben; dass niemand ohne Schuld ist; niemand nur Opfer und niemand nur Täter; dass auch wir verletzen und kränken – und sei es nur in unseren Gedanken, und dass wir verletzt und gekränkt werden, dass wir Unrecht sehen und hinnehmen – und nur manchmal etwas dagegen tun. Die heile ich von ihren Sehstörungen – und nehme sie hinein aus der vorchristlichen in die Christuszeit und erlöse sie aus einem Dasein, das weder heiß noch kalt ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest!
16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.
17 Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.
18 Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest.
19 Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!
20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.
21 Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron.
22 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Liebe Gemeinde an diesem Buß-und Bettag 2012,
„Im Morgengraun trampeln die Menschenmassen unsern stillen Planeten in Gang.
Wir sind alle an Bord der Straße, es herrscht Gedränge wie auf dem Deck einer Fähre.
Wohin sind wir unterwegs? Reichen die Teebecher? Wir können uns glücklich schätzen, an Bord dieser Straße gekommen zu sein! Es ist tausend Jahre vor der Geburt der Klaustrophobie.
Hinter jedem, der hier geht, schwebt ein Kreuz, das uns überholen, an uns vorbeigehn, sich mit uns vereinigen will.
Etwas, das sich von hinten an uns heranschleichen und uns die Augen zuhalten und flüstern will: „Rat mal, wer da ist!“
Wir sehen fast glücklich aus in der Sonne, während wir verbluten aus Wunden, von denen wir nicht wissen.“
So, liebe Gemeinde, endet eines der großen Gedichte des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Thomas Tranströmer. "Straßen in Shanghai", der Titel. Shanghai, das ist darin mehr als die Hafen - und Wirtschaftsmetropole an der Mündung des Jangtsekiang: 23 Millionen Einwohner, der größte Containerhafen der Welt, Hochschulen, Handel, Kultur, eine unendliche Verdichtung von Unruhe und Aktivität und Leben. Shanghai, das ist eine Realsymbolie, ein Gleichnis für diese Welt: die Menschenmassen, die, gesteuert von wem auch immer, jeden Augenblick diesen stillen Planeten in Gang trampeln - getrieben, wodurch auch immer. Und wir mittendrin: unterwegs auf einer Straße, die eher einer Fähre über einem abgründigen Ozean gleicht als einem festen Weg. Wohin geht die Reise? Kulturell? Ökonomisch? Politisch? Reichen die Teebecher? Gott sei Dank: wir sind noch an Bord! Wir sind noch im Gewühle! Wenigstens das! Aber hinter uns, hinter jedem: dieses Kreuz ... und diese tückische Frage, die niemand hören will: "Rat mal, wer da ist!" Ja, wer denn? Und wir, Närrinnen und Narren, wir sehen fast glücklich aus, während wir an unseren unbekannten, nicht gesehenen, verdrängten Herzens- und Seelenwunden verbluten.
Heute ist Buß- und Bettag. Heute sind wir nicht in Shanghai, für eine Stunde nicht auf der Schnellstraße, im High-Speed-Internet, nicht an den Hochfrequenzbörsen, nicht in den Rating-Aktionen der Banken, Unternehmen, Hochschulen oder sogar unserer Kirchen. Wir sind gelandet auf einer Insel, auf dem Eiland, das Patmos heißt. In der erzwungenen Stille eines Verbannten. Und wir hören, was, vom Geist ergriffen am Tag des Herrn, dieser gesellschaftlich ausgesetzte Seher Johannes an eine der sieben Gemeinden, nach Laodizea schreibt.
An diese junge Kirche in Laodizea am Lykos in der heutigen Türkei! Auch das: ein Shanghai. „Laodizea, das sind wir“, hat Helmut Gollwitzer vor vielen Jahren schon geschrieben. Jetzt gilt es mehr denn je. Diese große antike Stadt war reich! Sie hatte die besten Karten im Monopoly des Imperium Romanum: Finanzzentren, Handelsfirmen, Textilfabriken. Es gab dort pharmazeutische Industrien, die ihr phrygisches Pulver zur Behandlung von Augenkrankheiten exportierten, eine medizinische Hochschule mit effizienten Forschungseinrichtungen, ökonomische und wissenschaftliche Eliten. Alles war da. Und auch wenn es nicht ohne Konflikte zuging – es ist die Ära des Christenverfolgers Domitan: die Christen, die Gemeinde Jesu Christi, sie konnte wenigstens leben. „Wir sehen fast glücklich aus in der Sonne, während wir verbluten aus Wunden, von denen wir nicht wissen.“
Es ist eine bittere Botschaft, ein bedrückendes Schreiben. „Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.“
Wissen wir in dem Taumel, in dem wir leben, wer wir sind? Was wir sind? Arm oder reich? Kalt oder lau oder warm?
Das Sendschreiben nach Laodizea ist, um es präziser zu sagen, keine Botschaft an die Zivilisation überhaupt. Es ist kein Brief an die allgemeine Kultur, an die römische Gesellschaft, an eine Welt im Taumel.
Diese Botschaft ist ein Schreiben an eine christliche Gemeinde. Ein Brief an die Kirche. Und wir hören sie sehr zu Recht heute, am Buß- und Bettag. Denn der Buß- und Bettag ist nicht mehr der staatlich verordnete Feiertag für eine christliche Zivilisation. Seit seiner Abschaffung als staatlicher Feiertag ist er ein Moment der Selbstreflexion von Kirche. Eine Anfrage an unseren Lebensstil in dieser Welt. Und die eigentliche, zentrale Frage, die darin gestellt wird, ist:
Vor welchem Horizont handeln, leben, entscheiden wir als Kirche, als Christinnen und Christen? Und der Vorwurf und das sehr harte Urteil, das nach Laodizea gesandt wird, ist: Ihr lebt nicht christlich; ihr lebt in Wirklichkeit nachchristlich! Ihr lebt und handelt und verhaltet euch so, als wären die Spielregeln eures Lebens längst nicht mehr durch den österlichen Horizont der Gottesankunft und des neuen Lebens bestimmt.
Aber das ist falsch! Ihr habt - wir haben! - Christus nicht hinter uns. Wir haben ihn vor uns! Immer wieder stehen wir mit ihm am Anfang. Wir mit ihm und er mit uns. Das ist die Botschaft! An eine Kirche, die sich postchristlich versteht. Die ihre Horizonte verloren hat und darum lau ist. Postchristlich, das ist eine Kirche, die es nicht mehr zulässt oder vielleicht nicht mehr aushält, ihn einzulassen, ihn in ihre Lebensvollzüge hinein zu nehmen. Eine Kirche, die nichts mehr erwartet oder sich steuern lässt von den dumpfen Kräften, die unseren Planeten Tag für Tag in Gang trampeln. Es ist eine Kirche, die glaubt, ihn hinter sich zu haben und die aus der Vergangenheit lebt.
Aber Er: Er steht vor der Tür und lädt ein in seine Lebendigkeit, an seinen Tisch, diese andere Realsymbolie, die nicht Shanghai oder Laodizea ist, sondern der Tisch, der Himmel und Erde im Raum des geteilten Brotes und Weines zusammenbindet.
Haben wir ihn tatsächlich vor uns? Manche auch in unseren Gemeinden sind sich nicht mehr so sicher. Längst ist das Wort von der nachchristlichen Zeit auch in unseren Kirchen zum gängigen Topos geworden. Und der Buß- und Bettag als der einmal staatliche und nun schon lange „nur noch“ kirchliche Feiertag scheint dafür beispielhaft zu stehen.
Vor welchem Horizont handeln und leben wir als Kirche?
Noch einmal: Wir sind in einem besonderen Sinn vorchristlich! Das kst die Botschaft nach Laodizea, nach Shanghai oder wohin auch immer. Immer, alle Tage steht er vor uns, sucht uns als Gegenüber mitten im Leben, sucht unsere Wahrheit, sucht unser Gesicht, sucht unsere ethischen Entscheidungen inmitten aller Zwangsläufigkeiten der Welt, sucht uns, um uns zur Wahrheit und zur Freiheit zu rufen, sucht uns, um uns zu stärken: Er, der Amen sagt, der sogar Amen heißt: So ist es, so soll es geschehen. Der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes. Er steht vor unserer Lebenstür.
Immer wieder steht er vor uns armseligen Reichen wie ein Kaufmann, wie ein Händler voller Gaben: sein Gold, seine Kleider, seine Augensalbe, die uns anders, auf andere Art, reich machen, die uns anders sehen lehren, die unsere Nacktheit und Schutzlosigkeit anders bergen: Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest.
Liebe Gemeinde, es waren die "großen Alten" unter den bekennenden Theologinnen und Theologen des letzten Jahrhunderts, die sehr viel deutlicher gesehen haben, dass jedes so genannte nachchristliche Zeitalter in Wahrheit eine vorchristliche Zeit ist. Karl Barth oder Dietrich Bonhoeffer, um nur zwei zu nennen. Die Idee eines Finis Christianismi – eines Endes des Christentums - das ist für sie sicherlich das Ende einer bestimmten Gestalt von Welt und Kultur und Religion, wie man bisher im Abendland gekannt hat. Aber es ist nicht das Ende des Christentums. Und es ist nicht der Abgesang seiner Zukunft und seiner Lebendigkeit. Im Gegenteil: Es ist so etwas wie der neu ergehende Aufruf zur Begegnung mit Christus. Der Ruf, ihn in unsere Lebensbezüge eintreten zu lassen.
Heute ist Buß- und Bettag. Ein Tag, an dem wir als christliche Kirche mitten in der Woche Gottesdienst feiern. Wir besinnen uns auf unsere eigene Lebensgestalt. Wir versammeln uns im Namen Jesu Christi, des Herrn der Kirche, des wahrhaften Zeugen, des Anfangs der Schöpfung Gottes. Es ist ein Tag, an dem wir nicht nach Shanghai und nach Laodizea sehen, sondern nach Patmos; ein Tag, an dem wir uns das zusagen lassen, was die Übersetzung Luthers mit nicht immer guten Folgewirkungen so sagt: „Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich.“ Gemeint ist: Welche ich liebe, deren Verhalten bringe ich zutage und die lehre ich Gutes.
Die lehre ich sehen, dass sie selber in den Mechanismen von Druck und Gegendruck dieser Welt stecken, dass alle ihre persönlichen Lebenskämpfe haben; dass niemand ohne Schuld ist; niemand nur Opfer und niemand nur Täter; dass auch wir verletzen und kränken – und sei es nur in unseren Gedanken, und dass wir verletzt und gekränkt werden, dass wir Unrecht sehen und hinnehmen – und nur manchmal etwas dagegen tun. Die heile ich von ihren Sehstörungen – und nehme sie hinein aus der vorchristlichen in die Christuszeit und erlöse sie aus einem Dasein, das weder heiß noch kalt ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Perikope