Predigt über Philipper 2, 1-4 von Frank Zeeb
2,1
Liebe Gemeinde,
stellen Sie sich einmal vor, dass in vielen Hundert Jahren eine junge Forscherin an einem Geschichtsbuch arbeitet. Sie hat für ihre Doktorarbeit den Forschungsauftrag bekommen, die Geschichte unserer Kirchengemeinde aufzuarbeiten und darzustellen. Was wird sie wohl in dem Kapitel über das beginnende 21. Jahrhundert schreiben? Was kann sie dann überhaupt noch von uns wissen? Und was von dem, was uns heute wichtig scheint, wird ganz vergessen sein?
Wird ihr Ergebnis etwa lauten: „Diese Kirchengemeinde war eigentlich ganz normal für die damalige Zeit. Sie hat an allen Krisen teilgehabt, die wir auch sonst aus den Quellen für diese Zeit kennen. Sie hat unter der Finanzkrise gelitten, wie ja das Kirchensteuersystem dieser Zeit immer zur Folge hat, dass in wirtschaftlich schweren Zeiten die Menschen aus der Kirche austreten. Sie hat um Ressourcen gerungen. Sie hat sich mit Milieufragen befasst und gefragt, wie sie Gemeinde baut und sich in der postmodernen Wirklichkeit positioniert. Sie hatte Teil an allen Fragen, die die Landeskirche beschäftigt hat und so weiter“. Wenn sie das schreibt, dann wird sie wohl für dieses Kapitel keine Belobigung bekommen, denn das ist kein wirklich neuartiges Ergebnis.
Schön wäre natürlich, wenn sie schreibt: „Diese Kirchengemeinde hat ausweislich aller Quellen eine hervorragende Arbeit geleistet. Sie hat mit viel Schwung, mit ehrenamtlichem Engagement und voller Glaubensmut das Evangelium verkündigt. Sie hat Menschen eingeladen. Sie hat sich einladend und fröhlich präsentiert, ist nicht in ihren Kirchenmauern sitzen geblieben, sondern ist hinaus gegangen in die Welt und hat dort von der Frohen Botschaft und vom dreieinigen Gott erzählt, in Wort und Tat“. Leider wird die fleißige Studentin auch das nicht schreiben können, aber nicht, weil es nicht so war, sondern weil das ihre Quellenlage nicht hergibt. In den Protokollen und Archiven steht ja meistens nicht, was ganz alltäglich und normal gewesen ist. Da steht – ähnlich wie in der Zeitung oder in den Nachrichten – das Außergewöhnliche, das was eben den Alltag unterbricht und genau deshalb überliefernswert ist. Vom Alltag liest man da nicht, sondern von Konflikten und Querelen. Von daher fürchte ich fast, dass da stehen wird: „In regelmäßiger Folge müssen wir lesen, dass es immer wieder Streit gegeben hat. Nicht alle Konflikte ließen sich einmütig lösen. Vielmehr zeigt die Quellenlage, dass es leider auch immer wieder zu Verletzungen kam, die schwer zu heilen waren. Manches Zerwürfnis ist offen geblieben“ . Und dann formuliert sie womöglich resigniert das Gesamtergebnis: „Christen sind nicht konfliktfähig.“
Ich breche das Gedankenexperiment an dieser Stelle ab. Es geht mir darum, dass in den Augen der Geschichte womöglich die mangelnde Konfliktfähigkeit als ein Kennzeichen christlicher Diskussionskultur gelten wird. Die Tatsache, dass Christen nicht immer fair und offen miteinander streiten können. Dass sie es oft nicht aushalten, unterschiedlicher Meinung zu sein. Dass strittige Punkte nicht ausgetragen werden, sondern mit dem Verweis auf die christliche Nächstenliebe unter den Tisch gekehrt werden – und dann irgendwann um so schlimmer zu Tage treten. Ich habe kirchliche Gremien erlebt, wo mit der Bibel in der Hand unser Predigttext zitiert und damit die Diskussion abgewürgt wurde. Ich halte das nicht für gut, weil es dann nicht mehr um die Sache geht, sondern Andersdenkenden ihre Meinungsfreiheit beschnitten wird, indem man ihnen mit dem Hinweis auf unchristliche Haltung und fehlende Demut schlechte Absichten unterstellt oder mindestens ein schlechtes Gewissen macht.
Auch Paulus, und das ist der Punkt, an dem Arbeit der Forscherin und der Predigttext vergleichbar werden, hatte immer wieder Konflikte mit seinen Gemeinden. Das war besonders deutlich mit der Gemeinde in Korinth, die ihm vielleicht die meisten Sorgen bereitete. Mit der Gemeinde in Philippi war es nicht so schlimm, da herrschte ein eher herzliches Verhältnis, dennoch blieben Spannungen nicht aus. Und ich wage zu sagen: Verglichen mit dem, was Paulus erlebt, sind die Streitpunkte bei uns in der Gemeinde, in der Landeskirche, in der EKD und zwischen den Konfessionen fast vernachlässigbar. Paulus ist angeschlagen, nicht nur körperlich, auch seelisch. Er sitzt im Gefängnis, muss damit rechnen hingerichtet zu werden. Die Gemeinde in Philippi ist schon immer eine der Gemeinden, die ihm am nächsten ist. seelenverwandt sozusagen. Auf die kann er sich verlassen. Die kleine Gemeinde ist ihm eine große Freude und ein großer Trost in seinen Leiden. Sie steht fest im Glauben, auch in Verfolgung. Und sie hält fest am Evangelium, das er ihr gebracht hat. Wie schön, dass es im Hexenkessel der damaligen Welt so etwas geben darf. Auch ganz konkret erlebt er die Rechtschaffenheit seiner Philipper: Sie unterstützen ihn in seiner Haft, schicken ihm Briefe, auch Geld und Kleider, und was er sonst noch braucht in seiner Zelle und begleiten ihn, so gut sie können, seelsorgerlich. Und doch hat Paulus Konflikte mit seiner Gemeinde. Er muss hören, dass Irrlehrer auftreten, die das Evangelium nicht lauter verkündigen. Sie weichen ab von der guten, reinen Lehre der Rechtfertigung allein aus Gnade. Und die Philipper lassen sich verführen, sie hören zu, sie nehmen das ein oder andere an und unter der Hand ist ein falscher Zungenschlag in der Gemeinde eingekehrt. Der Konflikt ist da – wie damit umgehen? Paulus hat ja als Gefängnisinsasse nur das Mittel des Briefes. Und ein Brief heißt, dass ein Thema verschriftlicht wird, aufbewahrt wird, abgeschrieben. Anders als das flüchtige Wort der mündlichen Unterredung bleibt das geschriebene Wort. Es überwindet Grenzen und Zeiten, wird zur zitierfähigen Quelle. Ob Paulus geahnt hat, dass seine Zeilen nach Philippi das Bild der Gemeinde auf Jahrhunderte hinaus prägen werden? Vermutlich eher nicht. Was wäre aber gewesen, wenn Paulus jetzt seine Konflikte so ausgetragen hätte, wie wir es vermutlich getan hätten – mit Unterstellungen, mit dem Appell an das schlechte Gewissen, mit Vorwürfen und Beschimpfungen, wenn er Verletzungen und Zerwürfnisse in Kauf genommen hätte. Wie würde die Gemeinde in Philippi heute in den Augen der Christenheit dastehen?.
Lassen Sie uns die Konfliktbewältigungsstrategie des Paulus einmal genau anschauen. Zunächst einmal nennt er die kritischen Gemeinde gar nicht, sondern er lobt seine Leserinnen und Leser. Er stellt erst fest, was alles gut ist. Diese Feststellung ist nicht fordernd, sondern er stellt wirklich einfach fest, was ist: Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit. Das ist nun gerade keine fromme Floskel und schon gar keine Frage oder Vermutung, wie der Luthertext nahelegen könnte. Ein Blick ins Griechische zeigt, dass Paulus hier von Gaben spricht, mit denen Christus die Gemeinde begabt hat: Das Wort für „Ermahnung“ heißt so etwas wie „tröstendes Aufrütteln“ in der Nachfolge Christi, der Trost der Liebe meint die tröstende Nächstenliebe, die sich aus der Liebe Christi speist, die Gemeinschaft des Geistes ist die Gemeinschaft derer, die sich unter dem Wort versammeln, weil der Heilige Geist sie beruft, die Liebe und Barmherzigkeit sind die Gaben, die Gott schenkt. Alles das herrscht in der Gemeinde, weil sie Gemeinde Christi ist. Paulus stellt das ganz nüchtern voran. Das sind die Voraussetzungen, von denen aus die strittigen Punkte miteinander diskutiert werden. Alle beteiligten Personen können in einen freien Dialog eintreten, jeder kann seine Meinung laut und offen sagen, weil -- darf ich es mit einem anderen Pauluswort sagen – in der Gemeinde der Friede Christi, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes herrschen. Weil jeder einzelne von Christus selber mit diesen Gnadengaben beschenkt ist, kann er auch den Andersdenkenden als ein beschenktes Gottesdienst anerkennen, gerade auch in seiner Andersheit und in seiner abweichenden Meinung.
Nun wäre es flach, wenn durch diese Erinnerung die Diskussion abgebogen würde. Das wäre nichts anderes als ein rhetorischer Trick und ein unlauterer noch dazu, denn wer wollte denn dem widersprechen, dass Christen ungeachtet ihrer Meinungsverschiedenheit mit Gottes reichen Gaben beschenkt sind. Deshalb fährt Paulus fort und mahnt zu einer Diskussionskultur. Mir ist aufgefallen, dass das Zahlwort „eins“ im deutschen dreimal vorkommt: eines Sinnes, ein-mütig, ein-trächtig. Im Griechischen ist das sogar noch deutlicher, da wird die Wortwurzel für „Sinn“ mehrfach wiederholt. Aber noch einmal: Es geht nicht darum, dass Christen alle dieselbe Meinung haben, es geht darum, dass sie dieselbe Geisteshaltung haben. Im Grunde ist das ein urprotestantisches Prinzip: Anders als in anderen Kirchen und religiösen Gruppen gibt es kein verbindlich formuliertes Dogma, das Rechtgläubigkeit und Abweichlerei voneinander scheidet. Alle Christenmenschen sind aufgefordert, sich ein eigenes Bild zu machen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Aber sie tun das nicht aufgrund von irgendwelchen persönlichen Vorlieben, sondern es gibt klare Vorgaben: Die Liebe Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes nennt Paulus als die meinungsbildenden Faktoren. Das sind die Voraussetzungen, an denen sich jede Einzelmeinung messen lassen muss, oder in unserer theologischen Sprache: Das Evangelium von Jesus Christus und das Bekenntnis dazu, dass der Heilige Geist den Glauben wirkt, wann und wo es Gottes Wille, das macht uns frei, vom Glauben zu sprechen, uns unsere Meinung zu bilden und diese in die Gemeinschaft der Christenmenschen einzubringen. Wo man sich über diese Basis einig ist, eines Sinnes, so in den Konflikt zu gehen, bereit, einträchtig und einmütig an der besten, evangelischen Lösung miteinander zu arbeiten, da kann Konfliktbewältigung gelingen. Also nicht: stets dasselbe im Sinn haben, sondern auf unterschiedlichen Wegen auf dasselbe sinnen, nämlich auf das Evangelium.
In dieser Haltung drohen Konflikte nicht zu spalten, sondern sie entwickeln ein stabilisierendes, ja geradezu vorwärtstreibendes Potential. Sie werden dann nämlich nicht aus Machtgründen ausgetragen – was manchmal offensichtlich, wenn die Demut wie eine Fahne vor der Diskussion hergetragen wird. Sie werden vielmehr ausgetragen, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Um den, der von sich sagt, ich bin die Wahrheit, neu zu bezeugen, in unterschiedliche Lebensbezüge hinein. Diese Bezeugung bewahrheitet sich dann nicht nur im Konfliktfall, sondern auch in den regelmäßigen Vollzügen christlichen Lebens, im diakonischen Handeln, in missionarischen Kontexten, in der Feier des Gottesdienstes, in den Gruppen und Kreisen, überall, wo Christen Salz der Erde sind.
Ich komme also zurück auf unsere Doktorandin mit ihrer Forschungsarbeit. „Christen sind nicht konfliktfähig“ hat sie als Ergebnis formuliert. Falsch, liebe Kollegin. Christen sind in einem guten Sinn konfliktfähig, wenn sie so handeln und so streiten, wie Paulus es hier vorgemacht macht. Sie bringen die Diskussion voran, weil sie von ihren Gaben her leben und auf das Reich Gottes ausgerichtet sind. Schade nur, dass an unsere Gemeinde kein solcher Brief geschrieben wurde wie der nach Philippi. Das ist aber nicht schlimm, denn wir selbst sind der Brief Christi, den Gott unserer Zeit schreiben lässt. Amen.
stellen Sie sich einmal vor, dass in vielen Hundert Jahren eine junge Forscherin an einem Geschichtsbuch arbeitet. Sie hat für ihre Doktorarbeit den Forschungsauftrag bekommen, die Geschichte unserer Kirchengemeinde aufzuarbeiten und darzustellen. Was wird sie wohl in dem Kapitel über das beginnende 21. Jahrhundert schreiben? Was kann sie dann überhaupt noch von uns wissen? Und was von dem, was uns heute wichtig scheint, wird ganz vergessen sein?
Wird ihr Ergebnis etwa lauten: „Diese Kirchengemeinde war eigentlich ganz normal für die damalige Zeit. Sie hat an allen Krisen teilgehabt, die wir auch sonst aus den Quellen für diese Zeit kennen. Sie hat unter der Finanzkrise gelitten, wie ja das Kirchensteuersystem dieser Zeit immer zur Folge hat, dass in wirtschaftlich schweren Zeiten die Menschen aus der Kirche austreten. Sie hat um Ressourcen gerungen. Sie hat sich mit Milieufragen befasst und gefragt, wie sie Gemeinde baut und sich in der postmodernen Wirklichkeit positioniert. Sie hatte Teil an allen Fragen, die die Landeskirche beschäftigt hat und so weiter“. Wenn sie das schreibt, dann wird sie wohl für dieses Kapitel keine Belobigung bekommen, denn das ist kein wirklich neuartiges Ergebnis.
Schön wäre natürlich, wenn sie schreibt: „Diese Kirchengemeinde hat ausweislich aller Quellen eine hervorragende Arbeit geleistet. Sie hat mit viel Schwung, mit ehrenamtlichem Engagement und voller Glaubensmut das Evangelium verkündigt. Sie hat Menschen eingeladen. Sie hat sich einladend und fröhlich präsentiert, ist nicht in ihren Kirchenmauern sitzen geblieben, sondern ist hinaus gegangen in die Welt und hat dort von der Frohen Botschaft und vom dreieinigen Gott erzählt, in Wort und Tat“. Leider wird die fleißige Studentin auch das nicht schreiben können, aber nicht, weil es nicht so war, sondern weil das ihre Quellenlage nicht hergibt. In den Protokollen und Archiven steht ja meistens nicht, was ganz alltäglich und normal gewesen ist. Da steht – ähnlich wie in der Zeitung oder in den Nachrichten – das Außergewöhnliche, das was eben den Alltag unterbricht und genau deshalb überliefernswert ist. Vom Alltag liest man da nicht, sondern von Konflikten und Querelen. Von daher fürchte ich fast, dass da stehen wird: „In regelmäßiger Folge müssen wir lesen, dass es immer wieder Streit gegeben hat. Nicht alle Konflikte ließen sich einmütig lösen. Vielmehr zeigt die Quellenlage, dass es leider auch immer wieder zu Verletzungen kam, die schwer zu heilen waren. Manches Zerwürfnis ist offen geblieben“ . Und dann formuliert sie womöglich resigniert das Gesamtergebnis: „Christen sind nicht konfliktfähig.“
Ich breche das Gedankenexperiment an dieser Stelle ab. Es geht mir darum, dass in den Augen der Geschichte womöglich die mangelnde Konfliktfähigkeit als ein Kennzeichen christlicher Diskussionskultur gelten wird. Die Tatsache, dass Christen nicht immer fair und offen miteinander streiten können. Dass sie es oft nicht aushalten, unterschiedlicher Meinung zu sein. Dass strittige Punkte nicht ausgetragen werden, sondern mit dem Verweis auf die christliche Nächstenliebe unter den Tisch gekehrt werden – und dann irgendwann um so schlimmer zu Tage treten. Ich habe kirchliche Gremien erlebt, wo mit der Bibel in der Hand unser Predigttext zitiert und damit die Diskussion abgewürgt wurde. Ich halte das nicht für gut, weil es dann nicht mehr um die Sache geht, sondern Andersdenkenden ihre Meinungsfreiheit beschnitten wird, indem man ihnen mit dem Hinweis auf unchristliche Haltung und fehlende Demut schlechte Absichten unterstellt oder mindestens ein schlechtes Gewissen macht.
Auch Paulus, und das ist der Punkt, an dem Arbeit der Forscherin und der Predigttext vergleichbar werden, hatte immer wieder Konflikte mit seinen Gemeinden. Das war besonders deutlich mit der Gemeinde in Korinth, die ihm vielleicht die meisten Sorgen bereitete. Mit der Gemeinde in Philippi war es nicht so schlimm, da herrschte ein eher herzliches Verhältnis, dennoch blieben Spannungen nicht aus. Und ich wage zu sagen: Verglichen mit dem, was Paulus erlebt, sind die Streitpunkte bei uns in der Gemeinde, in der Landeskirche, in der EKD und zwischen den Konfessionen fast vernachlässigbar. Paulus ist angeschlagen, nicht nur körperlich, auch seelisch. Er sitzt im Gefängnis, muss damit rechnen hingerichtet zu werden. Die Gemeinde in Philippi ist schon immer eine der Gemeinden, die ihm am nächsten ist. seelenverwandt sozusagen. Auf die kann er sich verlassen. Die kleine Gemeinde ist ihm eine große Freude und ein großer Trost in seinen Leiden. Sie steht fest im Glauben, auch in Verfolgung. Und sie hält fest am Evangelium, das er ihr gebracht hat. Wie schön, dass es im Hexenkessel der damaligen Welt so etwas geben darf. Auch ganz konkret erlebt er die Rechtschaffenheit seiner Philipper: Sie unterstützen ihn in seiner Haft, schicken ihm Briefe, auch Geld und Kleider, und was er sonst noch braucht in seiner Zelle und begleiten ihn, so gut sie können, seelsorgerlich. Und doch hat Paulus Konflikte mit seiner Gemeinde. Er muss hören, dass Irrlehrer auftreten, die das Evangelium nicht lauter verkündigen. Sie weichen ab von der guten, reinen Lehre der Rechtfertigung allein aus Gnade. Und die Philipper lassen sich verführen, sie hören zu, sie nehmen das ein oder andere an und unter der Hand ist ein falscher Zungenschlag in der Gemeinde eingekehrt. Der Konflikt ist da – wie damit umgehen? Paulus hat ja als Gefängnisinsasse nur das Mittel des Briefes. Und ein Brief heißt, dass ein Thema verschriftlicht wird, aufbewahrt wird, abgeschrieben. Anders als das flüchtige Wort der mündlichen Unterredung bleibt das geschriebene Wort. Es überwindet Grenzen und Zeiten, wird zur zitierfähigen Quelle. Ob Paulus geahnt hat, dass seine Zeilen nach Philippi das Bild der Gemeinde auf Jahrhunderte hinaus prägen werden? Vermutlich eher nicht. Was wäre aber gewesen, wenn Paulus jetzt seine Konflikte so ausgetragen hätte, wie wir es vermutlich getan hätten – mit Unterstellungen, mit dem Appell an das schlechte Gewissen, mit Vorwürfen und Beschimpfungen, wenn er Verletzungen und Zerwürfnisse in Kauf genommen hätte. Wie würde die Gemeinde in Philippi heute in den Augen der Christenheit dastehen?.
Lassen Sie uns die Konfliktbewältigungsstrategie des Paulus einmal genau anschauen. Zunächst einmal nennt er die kritischen Gemeinde gar nicht, sondern er lobt seine Leserinnen und Leser. Er stellt erst fest, was alles gut ist. Diese Feststellung ist nicht fordernd, sondern er stellt wirklich einfach fest, was ist: Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit. Das ist nun gerade keine fromme Floskel und schon gar keine Frage oder Vermutung, wie der Luthertext nahelegen könnte. Ein Blick ins Griechische zeigt, dass Paulus hier von Gaben spricht, mit denen Christus die Gemeinde begabt hat: Das Wort für „Ermahnung“ heißt so etwas wie „tröstendes Aufrütteln“ in der Nachfolge Christi, der Trost der Liebe meint die tröstende Nächstenliebe, die sich aus der Liebe Christi speist, die Gemeinschaft des Geistes ist die Gemeinschaft derer, die sich unter dem Wort versammeln, weil der Heilige Geist sie beruft, die Liebe und Barmherzigkeit sind die Gaben, die Gott schenkt. Alles das herrscht in der Gemeinde, weil sie Gemeinde Christi ist. Paulus stellt das ganz nüchtern voran. Das sind die Voraussetzungen, von denen aus die strittigen Punkte miteinander diskutiert werden. Alle beteiligten Personen können in einen freien Dialog eintreten, jeder kann seine Meinung laut und offen sagen, weil -- darf ich es mit einem anderen Pauluswort sagen – in der Gemeinde der Friede Christi, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes herrschen. Weil jeder einzelne von Christus selber mit diesen Gnadengaben beschenkt ist, kann er auch den Andersdenkenden als ein beschenktes Gottesdienst anerkennen, gerade auch in seiner Andersheit und in seiner abweichenden Meinung.
Nun wäre es flach, wenn durch diese Erinnerung die Diskussion abgebogen würde. Das wäre nichts anderes als ein rhetorischer Trick und ein unlauterer noch dazu, denn wer wollte denn dem widersprechen, dass Christen ungeachtet ihrer Meinungsverschiedenheit mit Gottes reichen Gaben beschenkt sind. Deshalb fährt Paulus fort und mahnt zu einer Diskussionskultur. Mir ist aufgefallen, dass das Zahlwort „eins“ im deutschen dreimal vorkommt: eines Sinnes, ein-mütig, ein-trächtig. Im Griechischen ist das sogar noch deutlicher, da wird die Wortwurzel für „Sinn“ mehrfach wiederholt. Aber noch einmal: Es geht nicht darum, dass Christen alle dieselbe Meinung haben, es geht darum, dass sie dieselbe Geisteshaltung haben. Im Grunde ist das ein urprotestantisches Prinzip: Anders als in anderen Kirchen und religiösen Gruppen gibt es kein verbindlich formuliertes Dogma, das Rechtgläubigkeit und Abweichlerei voneinander scheidet. Alle Christenmenschen sind aufgefordert, sich ein eigenes Bild zu machen, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Aber sie tun das nicht aufgrund von irgendwelchen persönlichen Vorlieben, sondern es gibt klare Vorgaben: Die Liebe Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes nennt Paulus als die meinungsbildenden Faktoren. Das sind die Voraussetzungen, an denen sich jede Einzelmeinung messen lassen muss, oder in unserer theologischen Sprache: Das Evangelium von Jesus Christus und das Bekenntnis dazu, dass der Heilige Geist den Glauben wirkt, wann und wo es Gottes Wille, das macht uns frei, vom Glauben zu sprechen, uns unsere Meinung zu bilden und diese in die Gemeinschaft der Christenmenschen einzubringen. Wo man sich über diese Basis einig ist, eines Sinnes, so in den Konflikt zu gehen, bereit, einträchtig und einmütig an der besten, evangelischen Lösung miteinander zu arbeiten, da kann Konfliktbewältigung gelingen. Also nicht: stets dasselbe im Sinn haben, sondern auf unterschiedlichen Wegen auf dasselbe sinnen, nämlich auf das Evangelium.
In dieser Haltung drohen Konflikte nicht zu spalten, sondern sie entwickeln ein stabilisierendes, ja geradezu vorwärtstreibendes Potential. Sie werden dann nämlich nicht aus Machtgründen ausgetragen – was manchmal offensichtlich, wenn die Demut wie eine Fahne vor der Diskussion hergetragen wird. Sie werden vielmehr ausgetragen, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Um den, der von sich sagt, ich bin die Wahrheit, neu zu bezeugen, in unterschiedliche Lebensbezüge hinein. Diese Bezeugung bewahrheitet sich dann nicht nur im Konfliktfall, sondern auch in den regelmäßigen Vollzügen christlichen Lebens, im diakonischen Handeln, in missionarischen Kontexten, in der Feier des Gottesdienstes, in den Gruppen und Kreisen, überall, wo Christen Salz der Erde sind.
Ich komme also zurück auf unsere Doktorandin mit ihrer Forschungsarbeit. „Christen sind nicht konfliktfähig“ hat sie als Ergebnis formuliert. Falsch, liebe Kollegin. Christen sind in einem guten Sinn konfliktfähig, wenn sie so handeln und so streiten, wie Paulus es hier vorgemacht macht. Sie bringen die Diskussion voran, weil sie von ihren Gaben her leben und auf das Reich Gottes ausgerichtet sind. Schade nur, dass an unsere Gemeinde kein solcher Brief geschrieben wurde wie der nach Philippi. Das ist aber nicht schlimm, denn wir selbst sind der Brief Christi, den Gott unserer Zeit schreiben lässt. Amen.
Perikope