Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,
immer, wenn Erzähltexte der Bibel Predigttexte sind, wird uns die Grundfrage aufgegeben, ob sie überhaupt gepredigt werden können, und wenn ja, in welcher Weise. Diese grundlegende Herausforderung gilt auch und gerade angesichts dieses Berichts über Elija.[1] Uns wird heute der wesentliche Teil des 19. Kapitels des 1. Königebuches vorgelegt. Aber darüber hinaus habe ich den Eindruck, dass es nur verstanden werden kann, wenn auch das 18. Kapitel hinzugenommen wird. Eine Predigt braucht diesen großen Horizont!
Denn die Flucht, auf der wir Elija beim Hören und Lesen des Predigttextes begegnen, ist ja nur verständlich, wenn wir wenigstens in Grundzügen wissen, was vorher geschehen ist. Da steht also zuerst das Wirken des Elija am Karmel, durch das überzeugend und überwältigend die Macht des Gottes Jahwe gegenüber dem Gott Ba’al – so die Begrifflichkeit in der Bibel – zum Ausdruck kommt. Vor großem Forum, angesichts des ganzen Volkes erweist sich Jahwe mit einem Naturwunder, das völlig unerwartet kommt, als der eigentlich mächtige Gott.
Nun aber, im Rahmen dieser Fluchtgeschichte, wird am Ende die Macht des Gottes Jahwe in „einem stillen, sanften Sausen“ – wie Luther übersetzt – spürbar, gar nicht überzeugend und überwältigend! Nicht vor großem Forum, sondern nur für eine einzelne Person – und dann noch ganz behutsam, kaum merklich zeigt sich Gott.
Die Wahrheit liegt also – das wird mir schon bei diesen wenigen Beobachtungen deutlich – im Gesamtzusammenhang, in der Spannung zwischen beiden Erzählungen, zwischen den jeweiligen entscheidenden Aussagen und Erkenntnissen!
Und die Problemstellung, die wir vor uns haben, wird noch radikalisiert durch die direkte Voraussetzung für die Flucht des Elija – nämlich die Gewaltausbrüche im Zusammenhang mit Religion und Glauben, die die Erzählung in 1. Könige 18 andeutet: So habe Isebel die Propheten Jahwes „ausgerottet“. So habe Elija in einem Gewaltrausch 450 Propheten Ba’als eigenhändig am Bach Kischon „geschlachtet“ – hier steht das Fachwort für „schächten“. Diese terroristischen Taten – egal für welche Gottheit sie begangen werden – sind für mich nur eines: nämlich unerträglich. Und wie soll ich da eine Geschichte predigen, die mit solchen Taten in einem Zusammenhang steht?
Trotz dieser Zweifel will ich mich der Aufgabe stellen – liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserinnen und Leser –. Zwei Zugänge habe ich entdeckt – aber für mich eigentlich nur diese beiden Zugänge:
Ich denke, dass die beiden Geschichten, die in 1. Könige 18 und in 1. Könige 19 erzählt werden, gemeinsam so etwas wie zwei Akte eines Theaterstücks, oder wie zwei Flügel eines Diptychons bilden: Der erste Akt, der erste Flügel demonstriert die offensichtliche, die direkte Macht des Gottes Jahwe, des „Herrn“. Der zweite Akt, der zweite Flügel weist auf die persönliche Folge dieser Glaubenseinsicht hin: Sie muss angesichts der Erfahrung der Gottesferne durchgehalten werden. Sie muss trotz Zweifeln, trotz Widerständen, trotz Leiden bewährt werden. Im Bild dieses Elija-Zweiakters, dieses Elija-Diptychons: Von himmelhoch-jauchzend-Sein bis hin zu zum-Tode-betrübt-Sein. Von Erfolg und Sieg bis hin zu Angst und Niederlage. Von Kraft und Stärke bis hin zu Erschöpfung und Müdigkeit.
Und es geht um die Opposition zwischen zwei Gottheiten die beide für ihre Anhänger „Herr“ sind. Jahwe übersetzen wir mit „Herr“ (und dieser Gottesname steht in unserem Text immer genau dort, wo in der Lutherbibel das Wort „Herr“ mit Kapitälchen gedruckt ist: „Herr“). Und Ba’al ist einfach ein mögliches Wort für „Herr“ im Hebräischen (so ist das Fachwort für Ehemann „Ba’al“). Hinter ihm verbirgt sich hier immer der Gott Haddad, den wir vor allem aus der aramäischen Kultur in Damaskus kennen. Um die Auseinandersetzung zwischen beiden geht es. Wer verdient Anerkennung? Wer verdient sie nicht?
Die Hauptperson in diesen Geschichten ist ein Mann namens Elija. Dieser Name heißt eigentlich im Hebräischen ausführlich: „Elijahu“. Und das ist ein Satz: „Mein Gott ist Jahwe“. „Mein Gott ist dieser eine der beiden – nämlich Jahwe“. „Mein Gott ist gerade der andere dieser beiden nicht – nämlich nicht Haddad“. Um diese Auseinandersetzung geht es.
Die beiden Kapitel, die wir eigentlich ganz lesen müssten, machen nun in dramatischem Geschehen deutlich, dass Elija im Recht ist, dass nur Jahwe in Wahrheit „Herr“ ist. Das bekennen die Israeliten, die Zeuginnen und Zeugen des faszinierenden Geschehens am Karmel, indem sie sagen und rufen:
„Jahwe ist Gott; Jahwe ist Gott!“
Ich schreibe lieber im Deutschen:
„Dieser, unser ‚Herr’ ist Gott; dieser, unser ‚Herr’ ist Gott!“
Also nicht der andere „Herr“ ist Gott, sondern dieser Jahwe ist der wahre „Herr“, ist der einzige Gott!
Unsere Predigtgeschichte fordert uns heraus – liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserinnen und Leser –, nach den Entscheidungen zu fragen, die sich für uns zwischen Gott und Göttern, zwischen dem wahren „Herrn“ und den Herren ergeben, die über uns Macht ausüben wollen. Und sie fordert uns heraus, gegen die scheinbar mächtigen Götter unserer Zeit beim wahren Gott, beim einzigen „Herrn“ zu bleiben.
An dieser Stelle beginnt nun die Aufgabe der wachen Auseinandersetzung in unserer Zeit. Dabei wird es nie einfach um ganz klare Entgegenstellungen gehen. Sondern es wird immer darum gehen, ob und inwieweit wir unsere Lebenssicherheit und unsere Begeisterung von Dingen und Prozessen und Ereignissen beziehen, oder ob wir diese Dinge, Prozesse und Ereignisse nüchtern in unserem Leben nutzen – aber dabei und daneben Gott die eigentliche Macht in unserem Leben zusprechen! Also: Bei Geld und Gott gilt das; bei Sexualität und Gott gilt das; bei Sport und Gott gilt das; bei Besitz und Gott gilt das; bei Gesundheit und Gott gilt das; bei den modernen Medien der Kommunikation und Gott gilt das. Unser Glaube und unser heutiges Predigtwort schärfen unsere Selbsterkenntnis: Wie weit geht der Einfluss von Geld, von Sexualität, von Sport, von Besitz, von Gesundheit, von Smartphones, Facebook und Mobiltelefonen in meinem Leben? Stehen sie an der Stelle Gottes? Oder kann ich mich ihrer erfreuen und sie als Gaben Gottes deuten und einordnen und deshalb auch mit Nachlassen, Verlust, Verringerung einigermaßen – ich schreibe gar nicht: gut – umgehen? Unsere Predigtgeschichte fordert uns jedenfalls auf, für uns im eigenen Leben nach Verhaltensweisen, nach Entscheidungen, nach Schwerpunktsetzungen zu suchen, die Gott die letztliche Bedeutung belassen!
Schließlich geht es bei unserer Predigtgeschichte – liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserinnen und Leser – um die Frage, was es für uns persönlich bedeutet, wenn wir den Einflüssen unserer Zeit und den Verlockungen anderer Mächte nicht erliegen. Ist dann einfach alles klar und in Ordnung? Haben wir dann alle Probleme überwunden und sind schon gleichsam „am Ziel“?
Unsere Predigtgeschichte lehrt uns: Nein! Auch dann können uns Enttäuschungen und Frustrationen, Müdigkeit und Scheitern überfallen. Dann brauchen wir den direkten Beistand des wahren Gottes, seine Hilfe ganz im Alltäglichen – so wie der „Bote Jahwes“, wie der „Engel des Herrn“ Elija stärkt und ertüchtigt für den Weg zum eigentlichen Ziel. So werden auch wir göttlichen Beistand brauchen – gerade als Glaubende brauchen. Wir werden diese Hilfe auch bekommen, aber nur in der Schwäche unseres Scheiterns, in den Ausbrüchen unseres Zweifelns, in den Erfahrungen unserer Enttäuschungen.
Diese Wahrheit hat der Marburger Theologe Hans-Martin Barth vor fünf Jahren in seinem großen Buch zur Theologie Martin Luthers so zum Ausdruck gebracht: „Gott begegnet auf Erden nie anders als in der Dialektik von Verborgen- und Offenbar-Sein: Die Offenbarung ist nicht das Ende der Verborgenheit Gottes – die Verborgenheit ihrerseits wird zum Impuls, erneut nach der Offenbarung zu fragen.“[2]
Genau dafür ist diese Elija-Geschichte ein Symbolgeschehen. Sie zu predigen, heißt, aufmerksam zu werden auf Erlebnisse und Widerfahrnisse im eigenen Leben, die als Offenbarung Gottes und als Verbergen Gottes verstanden werden können.
Zum Beispiel mein Erleben des 15. Juli 2010:
Um 4.30 Uhr sind wir in der Stüdl-Hütte auf 2.802 Metern Höhe unterhalb des Großglockners aufgewacht. Um 5.50 Uhr begann nach gutem Frühstück der Aufstieg zum eigentlichen Tagesziel. Das haben wir alle sicher erreicht – die Erzherzog-Johann-Hütte auf 3.451 Metern Höhe. Um 10.00 Uhr sind wir dort, essen etwas, und ich schlafe sogar ein wenig auf einer Bank in der Gaststube. Unser Bergführer Matthias entscheidet zusammen mit dem Wirt, dass wir doch noch am selben Nachmittag zum Gipfel aufsteigen. Wir bilden zwei Seilschaften – eine mit dem Wirt der Erzherzog-Johann-Hütte Bergführer, eine mit Matthias, jeweils mit dreien aus unserer Gruppe (zwei bleiben in der Hütte zurück und verzichten auf den Aufstieg). Zwei Mitwanderer und ich bilden mit Matthias zusammen die zweite Seilschaft. Um 14.00 Uhr geht es los. Am oberen Rand des Gletschers werden die Steigeisen und Stöcke abgelegt. Dann kraxeln wir über sehr schmale Wege und Felsplatten hinauf bis zum Gipfel. Um 16.00 Uhr sind wir am Ziel – auf 3.798 Metern Höhe. Überwältigt von dieser Leistung stehen wir zusammen um das Gipfelkreuz. Das war so ein großer Moment der Gewissheit, dass Gott geholfen und gut geführt hat.
Beim Aufstieg war ich der Letzte gewesen und bin nun beim Abstieg der Erste. Ich muss den schmalen und von Abbrüchen gekennzeichneten Weg wieder finden, wobei Markierungsstöcke gut helfen. Matthias geht hinten, um im Zweifelsfall die gesamte Seilschaft zu halten. Ohne Probleme kommen wir an den Beginn des Gletschers, nehmen wieder unsere Stöcke und legen die Steigeisen an. Ich denke: Nun kann nichts mehr passieren. Deshalb gehe ich fröhlich den wenig steilen Gletscher hinunter. Da rutscht die Person hinter mir aus und schlittert mir in die Beine, schlägt sie mir weg, so dass wir beide die Eis- und Schneefläche hinunterrutschen. Ich halte gerade noch meine Stöcke so fest, dass ich mich nicht mit ihnen verletze. Wie viele Meter wir hinunterschlittern, weiß ich gar nicht. Ich denke nur: Matthias wird schon halten. Und so ist es auch. Unser Bergführer hat diese Panne vorausgesehen und rechtzeitig das Seil um einen großen Stein geschlungen gehabt. So tut es einen Ruck, und wir halten plötzlich unmittelbar an. Aber als ich aufstehe, rutscht die Person hinter mir weiter ab, und die nächste in der Seilschaft schlittert auf uns zu. Männer, die den Weg reinigen wollten, kommen und helfen uns wieder auf. Die Person direkt hinter mir in der Seilschaft ist durch die Steigeisen der anderen am Arm verletzt worden, aber Schlimmeres ist nicht geschehen. Ein wenig zitternd stehen wir da – und gehen dann, als Matthias bei uns ist, doch wieder ohne Angst weiter. Die Erzherzog-Johann-Hütte liegt ja unter uns, ein sichtbares und Sicherheit vermittelndes Ziel. Gegen 18.00 Uhr sind wir vor ihr.
So kann ein solches Erlebnis sein: Gottes Segen zeigt sich im Schutz in der Gefahr. Zum Beispiel. Möge sich Ihnen – liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserinnen und Leser – dies immer wieder erweisen. Möge Ihnen so der „Herr“, der Gott ist und in „stillem, sanftem Sausen“ erfahrbar ist, nahe kommen!
Amen.
„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne bei Christus Jesus, unserem Herrn!“
[1] Ich folge der ökumenischen Schreibweise der biblischen Namen, die seit 1981 gilt und gegen die wir Evangelischen uns seither merkwürdig sperren, weshalb sie noch immer nicht durchgängig in unsere Lutherbibel aufgenommen wurde. Aber gerade bei diesem Namen ist diese Schreibweise für das Verständnis ganz entscheidend!
[2] Hans-Martin Barth: Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, 201.