Predigt zu 1. Könige 8, 22-24.26-30, Angelika Volkmann
8,22
Liebe Gemeinde,
Wo wohnt Gott? Im Himmel oder auf der Erde?
Diese Frage ist keine neue Frage. Schon hunderte von Jahren vor Christus dachte König Salomo  bei der Einweihung des Tempels in Jerusalem darüber nach.
Es war ein bedeutender Tag im Leben des Volkes Israel. Salomos Vater, König David, hatte den Wunsch entwickelt, Gott einen Tempel zu bauen.  Gott hatte sein Volk seit der langen Wanderung durch die Wüste in einem Zelt begleitet, in dem die Bundeslade mit den Gesetzestafeln stand. Es war das Bedürfnis des Königs von Israel, der selber in einem prachtvollen Palast wohnte, auch für Gott ein würdiges und prachtvolles Haus zu errichten. Doch David durfte diesen Plan noch nicht verwirklichen; seinem Sohn Salomo war es schließlich vergönnt.
Hören wir aus 1.Könige 8 das Gebet Salomos bei der Tempeleinweihung:
22 Und Salomo trat vor den Altar des HERRN angesichts der ganzen Gemeinde Israel und breitete seine Hände aus gen Himmel
  23 und sprach: HERR, Gott Israels, es ist kein Gott weder droben im Himmel noch unten auf Erden dir gleich, der du hältst den Bund und die Barmherzigkeit deinen Knechten, die vor dir wandeln von ganzem Herzen;
  24 der du gehalten hast deinem Knecht, meinem Vater David, was du ihm zugesagt hast. Mit deinem Mund hast du es geredet, und mit deiner Hand hast du es erfüllt, wie es offenbar ist an diesem Tage.   .....
  26 Nun, Gott Israels, lass dein Wort wahr werden, das du deinem Knecht, meinem Vater David, zugesagt hast.
  27 Aber sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?
  28 Wende dich aber zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen, HERR, mein Gott, damit du hörst das Flehen und Gebet deines Knechts heute vor dir:
  29 Lass deine Augen offen stehen über diesem Hause Nacht und Tag, über der Stätte, von der du gesagt hast: Da soll mein Name sein. Du wollest hören das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte betet,
  30 und wollest erhören das Flehen deines Knechts und deines Volkes Israel, wenn sie hier bitten werden an dieser Stätte; und wenn du es hörst in deiner Wohnung, im Himmel, wollest du gnädig sein.
Mit weit nach oben geöffneten Armen steht König Salomo als Priester vor dem Altar. Das ganze Volk schaut auf ihn. Mit seiner Haltung zeigt er, wo Gott  ist: im Himmel. Mit seinen Worten bringt er die unvergleichliche Größe Gottes zum Ausdruck: "Kein Gott ist dir gleich! Denn du hältst, was du versprichst! Du bist ein treuer Gott! Du bist ein barmherziger Gott! Du lässt den nicht im Stich, der dir vertraut und nach deinem Wort handelt! Das können wir heute sehen, an diesem großen Tag, auf den wir lange gewartet haben, heute, wo wir dein Haus, den Tempel, einweihen!  Du hast es mit deinem Mund versprochen und du hast es mit deiner Hand verwirklicht!"
Doch dann ist es als würde Salomo sich selber ins Wort fallen: "Aber sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?"
Was soll das? - so fragen wir uns. Warum zieht er ausgerechnet in dieser Feierstunde den Sinn dieses kunstvollen und eindrücklichen Bauwerkes in Zweifel? Hätte man sich dann nicht die vielen mühsamen Jahrzehnte der Bauzeit sparen können?
Die Worte Salomos klingen wie eine moderne Kirchenkritik. Braucht der christliche Glaube Kirchen? Bahnt sich Gott nicht auf ganz andere Art und Weise seinen Weg zu den Menschen? Sagen wir nicht mit Augustin: "Wo die Liebe ist, da ist unser Gott"? Sagt Jesus nicht. "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen"?
  Und doch: Was wären wir ohne unsere Kirchen? Was wäre unsere Gemeinde, in der wir uns heute versammeln, ohne diese Kirche? Die Kirchengebäude sind mehr als praktische Räume für das Gemeindeleben. Kirchen sind sichtbare Zeichen, die inmitten einer Gesellschaft auf Gott verweisen. In den Kirchen wird Gott gefeiert. In den Kirchen erlebt sich die Gemeinde als solche. Kirchen sind besondere Orte der Gottesbegegnung. Durch ihre kunstvolle bauliche Gestaltung und dadurch, dass sie Orte des Gebetes sind, haben sie oft eine besondere Atmosphäre, eine Ausstrahlung, die die Seelen der Menschen berührt. Auch die Pracht des  Jerusalemer Tempels ist nichts anderes als Gotteslob, auch er ein Ort der vielfältigen Gebete.
Aber Salomo fragt: Sollte Gott, den alle Himmel nicht fassen können, auf Erden wohnen wollen? In einem Haus? Ist Gott nicht manchmal auch sehr fern?
Liebe Gemeinde,
  dieses Gebet Salomos wurde lange Zeit später aufgeschrieben.
  Da war der Tempel längst zerstört!
  Das Volk nach Babylon verschleppt!
  Das heißt, in dieser Frage Salomos schwingt die Erfahrung der Gottverlassenheit mit!
"Wo ist er jetzt? Ich möchte wissen, wo er jetzt ist." so fragen die Israeliten in der Situation des Exils, fern der Heimat. "Gibt es Gott überhaupt noch? Warum hat er uns nicht vor diesem Schicksal bewahrt?"  Viele sind irre geworden an ihrem Glauben und an der Verlässlichkeit Gottes. Sie hatten Gewalt und Vertreibung erlitten und einen massiven Angriff auf die Identität ihres Volkes. Was sollten sie nun rückblickend anfangen mit all den Hoffnungen, die sie mit dem Tempel verknüpft hatten?
"War das alles ein Irrtum gewesen? Waren wir naiv und sind jetzt durch die Ereignisse der Geschichte eines Besseren belehrt worden?" so fragen sie. Und doch beginnen einige, in dieser Zeit, im Exil, das Gebet von Salomo aufzuschreiben! Welch ein bewegendes Zeugnis!
  Ein Zeugnis darüber, wie der Glaube, das Vertrauen auf Gott, angesichts einer schweren Krise reagiert.
Das geht nicht ohne dass der Glaube sich wandelt.
Mit Trauer denkt das Volk an die Vergangenheit und hält daran fest, dass der Tempel die Stätte war, an der der Mensch die besondere Nähe Gottes hatte spüren können.
Zugleich tauchen neue Gedanken und Einsichten über Gott auf:
  In dem Gebet Salomos beschreibt Israel seine Erfahrung, dass Gott unverfügbar ist.
  Dass Gott in seinem Handeln souverän ist.
Aller Himmel Himmel können ihn nicht fassen.  Er schließt den Bund. Er ist barmherzig. Keiner ist so wie er. Was er gibt, schenkt er freimumütig und großzügig. Zwingen lässt er sich nicht.
Aller Himmel Himmel können ihn nicht fassen. So kann ihn auch ein von Menschen gebautes Gebäude nicht fassen. Doch er ist ein Gott, der sich erweichen lässt, der das Bitten und Beten aufnimmt und hört.
Im Exil erlebt Israel das Gebet als den Ort, wo Gott zu finden ist: im Loben, im Bitten, ja auch im Schreien.
  Das verstehen wir Menschen von heute auch. Und manchmal lässt es sich besonders gut dort bitten, wo viele andere es auch schon getan haben: in einer Synagoge oder in einer Kirche.
Und manchmal hilft auch die Gebetshaltung von Salomo, die nach oben weit geöffneten Arme, sich ganz und gar Gott anzuvertrauen – und sei es zuhause oder im Büro.
Sie tut es nicht immer, aber immer öfter. Besonders dann, wenn der Stress groß ist. Wenn vieles gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit fordet, schnelle Entscheidungen und unverzügliches Handeln gefragt sind, wenn es ihr droht, dass sie den Überblick verliert. Dann verbittet sie sich für ein paar Minuten jede Störung, schließt sie die Tür ihres Büros, schaltet das Telefon stumm.  Sie schließt die Augen und hebt ihre Arme weit geöffnet nach oben. Es ist, als ob sie aus der Zeit heraus tritt, in einen Ort der Ruhe vor Gott. Eine stumme Zwiesprache, fast ohne Worte. Sieh mich! Sie atmet aus. Hier bin ich. Segne mich.  Im Ausatmen spürt sie, wie eine zärtliche Liebe sie umgibt wie eine große Ermutigung. Sie verharrt noch ein wenig. Es hat gar nicht lange gedauert. Wie gut, dass ich weiß, wo Gott wohnt, denkt sie und geht gestärkt in ihren Alltag zurück.
"Wo ist er jetzt? Ich möchte wissen, wo er jetzt ist." Thomas lässt seinen Blick über die hügelige Landschaft schweifen. Maria geht schweigend neben ihm. Das Laufen tut jetzt gut.  Es war wirklich viel gewesen in letzter Zeit: der unvermutete gewaltsame Tod des Freundes, dem sie sich doch ganz und gar anvertraut hatten. Alles hatten sie seinetwegen zurückgelassen. Dann die schockierende Erfahrung, dass er eben nicht tot war. Er ist ihnen erschienen, immer wieder. Sie konnten mit ihm sprechen, seine Gegenwart spüren. Sie haben neues Vertrauen gefasst. Ein tiefer Glaube, dass der Tod nicht das Ende ist, begann in ihren Herzen zu wachsen. Sie würden eine Zukunft mit ihm haben. Neue Aufgaben begannen sich abzuzeichnen. Und nun das. Er hatte sie alle noch einmal gesegnet. Und dann hatte er sich verabschiedet, um zu Gott, seinem Vater zurückzukehren. "Was meinst du: hat er uns jetzt doch alleine gelassen? Können wir ihn irgendwo erreichen? Wo wohnt Gott?" Nachdenklich setzen sie ihren Weg fort.
  Amen.
Perikope
02.06.2013
8,22