Predigt zu 1. Korinther 11,23-26 von Jochen Riepe
11,23-16

Predigt zu 1. Korinther 11,23-26 von Jochen Riepe

I
‚Alles hat seine Zeit‘, alles Schritt für Schritt und nacheinander. Das Weinen. Das Lachen. Reden. Schweigen. Was aber, wenn die Zeit ‚kurz‘, ‚zusammengedrängt‘* ist oder die Zeiten sich gleichsam übereinander legen? Erinnerung und Erwartung. Trauer und Freude. Dann ist die Zeit des Liebes-Mahls, ja, die Zeit einer großen Sorglosigkeit.

II
Die Liebe geht durch den Magen, der Glaube auch. In der Art, wie, mit welchen Worten und Gesten, wir essen und trinken, spricht sich sehr vieles vom dem aus, was der Seele wichtig ist. Beim jüdischen Passamahl stehen neben dem Brot, dem Fleischknochen, dem Fruchtmus auch immer Kräuter auf dem Tisch. Ihr bitterer Geschmack erinnert an die bittere Knechtschaft in Ägypten. Auf dem Tisch stehen aber auch vier Kelche mit Wein und ein weiterer für den Propheten Elia, den Vorläufer des Messias. Der bittere Nachgeschmack der Knechtschaft und der süße Vorgeschmack der Erlösung gehören zusammen.

III
Paulus schreibt nach Korinth. Jener Gemeinde, der er als ‚ihr Vater‘, eine besondere Liebe und Aufmerksamkeit schenkt und unter deren Missständen und Nöten er leidet. Die schwierige Situation in Korinth lässt sich durch einige Fragen beschreiben: Hatten manche Gemeindeglieder vergessen, was am Ursprung des christlichen Abendmahls steht und was sein Sinn ist? Hatten andere sich unwürdig beim gemeinsamen Sättigung- und anschließenden Heiligen Mahl verhalten? Hatten die Reichen mit ihren mitgebrachten Speisen die Armen beschämt oder hatten sich die Armen über unsolidarisches Verhalten der Reichen beschwert? Paulus erinnert jedenfalls eindringlich an das letzte Mahl Jesu vor seinem Tod und an die Worte, die der Herr über Brot und Wein gesprochen hatte: ‚Mein Leib – für euch gegeben. Das tut zu meinem Gedächtnis. Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut‘. Die Erinnerung wird schließlich zum Appell und zur Bitte: Diese Nacht des Verrats, darf nicht vergessen werden. Bei jedem Mahl sollt ihr den Tod des Herrn verkündigen.

IV
Der Apostel geht aber weiter. Das ist nicht alles. Der, der damals starb, ist ja der lebendige Herr und von ihm glauben wir, dass er wiederkommen wird. Die Vergangenheit greift sozusagen in die Zukunft in dem Augenblick, da wir Brot und Wein teilen: ‚bis er kommt‘. Über den Speisen und dem Trank des Weinstocks eröffnen sich mit dem Blick zurück die Erwartung und die Hoffnung, er, der Erlöser möge kommen. ‚Maranatha‘ so heißt der gottesdienstliche Gebetsruf, den Paulus am Ende des 1.Korintherbriefs (16,22) zitiert und der wohl von der Gemeinde sehnsuchtsvoll-laut und inbrünstig gerufen wurde: ‚Unser Herr komm(t).‘ Er möge kommen sichtbar für alle Welt an seinem Tag und doch auch schon in dieser Stunde der Feier zu seiner Gemeinde! Zusammenfall der Zeiten und zugleich: Öffnung der Zeit. So wie die jüdische Festtafel den Becher Wein für den Vorläufer des Messias bereitstellt, so halten die Christen einen Platz frei für den Messias Jesus. Unsere Abendmahlsrunde ist nie eine geschlossene Runde oder interne Veranstaltung. Sie ist offen für den, der kommen soll und für alle, die er mitbringt.

V
‚Alles hat seine Zeit‘ – was aber ist, wenn die Zeit, wie Paulus schreibt, ‚kurz‘ oder ‚zusammengedrängt‘ ist? Erinnerung. Erwartung. Bitternis. Süßigkeit. Trauer. Freude. Dann ist die Zeit des Liebesmahls, an dem die Teilnehmenden wirklich ‚sehen und schmecken‘ sollen und sich einer großen Sorglosigkeit überlassen dürfen. Es ist genug für alle da, denn der Herr des Mahls teilt unter Brot und Wein seine Gaben mit uns allen. Kurz zuvor in seinem Brief nennt Paulus die dieser Zeit  entsprechende Haltung: ‚haben, als hätte man nicht‘: Ich kaufe, aber wer sagt mir, dass ich es behalten muss? Ich bin verheiratet, aber wer sagt, dass meine Frau mir gehört (7,31)? In Christus kann man die Dinge dieser Welt in Freiheit annehmen, aber auch lassen! Sozusagen eine besitzfreie Zeit, in der wir dem nahekommen, wie der Herr selbst gelebt hat. Alle ängstlichen Klammergriffe dürfen sich lösen zugunsten der unaufgeregten, ‚geduldigen‘ und ‚freundlichen‘ Macht der Liebe. Die ‚kurze Zeit‘ ist in einem die Zeit der ‚Langmut‘ und Großzügigkeit, in der wir füreinander da sind, Zeit-teilen und einander ‚auf-warten‘, so dass jeder das bekommt, was er braucht.

VI
‚Ich will aber, dass ihr ohne Sorge seid…‘ (7,32), und gerade um dieser Sorglosigkeit Willen ist es so wichtig, dass die Mahlzeiten der Christen offen bleiben, keine Hürden oder Vorbehalte aufbauen und vor allem: nicht beschämende Situationen schaffen; dass alle, wirklich alle, an ihr teilnehmen können. Hatten in Korinth die Reichen die Armen beschämt und damit in der Zeit des Christus sich ‚unwürdig‘ verhalten? Manche Schriftausleger meinen, dies erkennen zu können. Wie kann man am Tisch des Herrn zusammenkommen, wenn die reicheren Gemeindeglieder ihr Mitgebrachtes nicht mit den Armen teilen, nicht einander ‚auf-warten‘, sondern für sich bleiben und für sich essen? Dann wird das Mahl des Glaubens ein Spiegel der ungerechten Mahlzeiten der Gesellschaft und  die Zeit des Christus wird verspielt zugunsten der kruden Weltzeit. Manche reiche Dame aus Korinths Oberschicht, die gern die Versammlungen der Christen besuchte, konnte sich vielleicht nur schwer daran gewöhnen, dass der von ihren Sklaven bereitete Proviant von den groben Händen der Hafenarbeiter ergriffen wurde – vielleicht heftig und gierig ergriffen wurde. Ja, wo Er erwartet wird, wo sein Tod erinnert wird, da wird die Zeit ‚kurz‘ und man kann ergänzen: der Raum ‚eng‘ und gerade darin weit. Man kann einander nicht ignorieren. Arm und Reich sitzen an einem Tisch und übernehmen Verantwortung füreinander.

VII
Die Liebe geht durch den Magen und der Glaube auch. Die bitteren Kräuter. Der süße Wein. Gedächtnis des Todes. Erwartung des Kommenden. Maranatha – die Zeit des Liebesmahls. Das Gedächtnis sei der nährende Magen der Seele**, meinte Augustinus, und Erwartung und Hoffnung, so mag man hinzusetzen, sind ihre beschwingenden Flügel. Wenig später in seinem Brief wird Paulus das Hohe Lied der Liebe anstimmen. Die reichen Griechen und Römer lobten nach der Sättigung beim Symposion den Eros, den Gott der sinnlichen Liebe. Paulus singt über die Liebe, jene Gottesmacht, die den Tod aufgesucht hat und die ‚niemals aufhören‘ wird. Aus Liebe, aus ‚alles ertragender‘ Liebe ist der Herr gestorben, aus ‚langmütiger und freundlicher Liebe‘ wird er kommen – heute und hier uns seine Zeit schenken. Aus dieser Liebe teilen wir mit denen, die zu uns gehören und mit denen, die (noch) nicht dazugehören.

Macht euch keine Sorgen. Der Herr ist nah.

*1.Kor.7,29
**Augustinus , Confessiones -Bekenntnisse , 3.Aufl. 1966, S.519 (X 14,21)