Predigt zu 1. Korinther 13,1-13 von Christiane Borchers
13,1-13

Rita betritt den Raum. Es hat sie Überwindung gekostet, diesen Schritt zu tun. Aber es ist ihre Aufgabe, hierher zu kommen, sich mit diesen Menschen und ihren Lebensgeschichten zu befassen. Es wird von ihr nicht viel verlangt, genauer genommen gar nichts, außer, dass sie kommt, sich kurz vorstellt und ansonsten zuhört. Die Gesprächsrunde beginnt. Es geht nach einfachen Regeln zu. Einer leitet die Sitzung, jede/r darf sich melden und erzählen. Niemand ist verpflichtet, etwas zu sagen. Zögerlich heben die Ersten die Hand. Wer an der Reihe ist, beginnt von sich zu reden, erzählt aus dem eigenen Leben. Niemand unterbricht, niemand kritisiert, niemand argumentiert dagegen. Es wird zugehört, einfach nur zugehört. Carsten ergreift das Wort. Er redet und redet und hört gar nicht auf. Rita guckt auf die Uhr: Geschlagene zwanzig Minuten hat er gesprochen. Dass er überhaupt so viel über sich reden kann, verwundert sie. Sie könnte es nicht. Es ist aber durchaus interessant, was er erzählt. Der Gesprächsabend ist zu Ende. „Kommst Du wieder?“, fragt Carsten Rita. Alle duzen sich hier. Ohne direkt darauf einzugehen, verabschiedet sie sich. Nachdenklich geht Rita nach Hause. Es hat sie bewegt, was die anderen gesagt haben. So manches hat sie bei sich wieder entdecken können.

Als der nächste Gesprächsabend kommt, stellt sie überrascht bei sich fest, dass sie sich darauf freut. Sie geht hin. Die ersten fangen an zu sprechen. Dann meldet sich Carsten. Wieder redet und redet und redet er und hört nicht auf. Ein Blick auf die Uhr: Zwanzig Minuten vergehen, bis er fertig ist. Rita lehnt es für ab, dass er so viel Zeit beansprucht. Das hält sie allerdings nicht davon ab, wieder zu kommen. Regelmäßig geht sie zu den Gesprächsabenden.  

Das nächste Mal kann Rita es nicht vermeiden, dass sie neben Carsten sitzt. An seiner Seite ist der einzig freie Stuhl im Raum. Etwas unwillig nimmt sie Platz. Der Abend beginnt, mehrere reden und natürlich auch Carsten, wie immer zwanzig Minuten, als ob er die Uhr danach stellt. Während er spricht, geschieht bei Rita eine Verwandlung. Sie kann sich an seinen Worten nicht satthören. Sie liebkosen ihre Seele. Sie fühlt sich mit Carsten verbunden. Jetzt wird ihr die Zeit nicht lang. Sie vergeht wie im Flug. Nachdem Carsten aufgehört hat zu reden, dreht er sich leicht zu ihr und lächelt sie an. Beglückt lächelt Rita zurück. „Ich fühle mich so wohl, wenn du neben mir sitzt“, sagt er am Ende des Abends zu ihr. Eine große Liebe beginnt; rein, licht und klar. Er gesteht ihr, dass es ihn schon ganz zu Anfang, als er sie das erste Mal zur Tür hereinkommen sah, wie ein Blitz vom Himmel durchfuhr.   

Die Liebe ist das Allerwichtigste und das Größte. Hätte ich allen Glauben und könnte Berge versetzen und hätte die Liebe nicht, wäre ich nichts. Wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe glaubt alles und hofft alles. Die Liebe hört niemals auf.

Rita wünscht sich von ganzem Herzen und mit aller Kraft, dass ihre Liebe für immer bleibt. Unvermittelt und voller Panik überfällt Rita plötzlich der Gedanke, dass Carsten sie verlassen könnte. Die bloße Vorstellung, ohne ihn zu sein, versetzt sie in große Furcht. Sie spricht mit Carsten darüber, teilt ihm ihre Ängste mit. „Ich werde immer bei dir sein“, tröstet Carsten die verzagte Rita. „Ich bin auch dann noch da, wenn ich nicht mehr da bin.“ Da sind sie wieder, diese wohltuenden Worte aus seinem Mund, die nur er sprechen kann. Nichts und niemand kann sie trennen, nicht einmal der Tod.  „….bis dass der Tod euch scheidet“. Der Tod wird sie nicht scheiden. Er wird immer bei ihr sein. Und sie bei ihm. Diese Erkenntnis brennt sich als Schatz in ihr Herz ein.

Paulus redet in seinem Hohen Lied von einer großen Liebe, die kein Ende hat. Die Liebe hört niemals auf. Ohne sie kann er nicht existieren. Ohne sie hat sein Leben keinen Sinn.

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte alle Erkenntnis und wüsste alle Geheimnisse und hätte die Liebe nicht, wäre ich nichts, schreibt Paulus. Paulus ist von einer Liebe durchdrungen, die ihn Dunkles und Schweres ertragen lässt. Bei ihm trägt die Liebe den Namen Christi. Aus der Liebe zu Christus schöpft er seine Kraft. Er hält sich an den lebendigen Christus, der vom Tod auferstanden ist. Die Liebe zu Christus kennt die Grenze des Todes nicht. Sie hört niemals auf.

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe“, schreibt Paulus in seinem Hohen Lied. „Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Warum ist die Liebe die Größte von allen? Glauben und Hoffnung sind nicht minder wichtig. Sie sind lebensnotwendig. Ohne Glauben und Vertrauen, dass ich gehalten und tragen werde, kann ich nicht leben. Wenn ich meinen Glauben verliere, bin ich in meiner ganzen Existenz bedroht. Ohne Hoffnung, dass ich eine Zukunft habe, kann ich nicht sein. Hoffnungslosigkeit führt letztlich in den Tod. Glaube und Hoffnung gehören zu den Grundpfeilern meiner Existenz. Ohne Glauben und Hoffnung sind wir nicht lebensfähig. Warum aber ist die Liebe größer als Glaube und Hoffnung? Weil Glaube und Hoffnung ein Ende haben, die Liebe aber nicht. Die Liebe bleibt. Wenn das Reich Gottes anbricht, sind Glaube und Hoffnung überflüssig geworden. Auf Erden leben wir im Glauben, im Himmel schauen wir die Herrlichkeit Gottes. Auf Erden leben wir in der Hoffnung, im Himmel hat sich die Hoffnung erfüllt. Die Liebe aber durchwaltet Himmel und Erde. Auf Erden ist die Liebe, aller Gewalt und Bosheit zum Trotz, vollkommen erfahrbar. Im Himmel sowieso.

Noch sind wir nicht im Himmel, noch sind wir auf der Erde. Noch sehnen wir uns nach Erlösung und Erfüllung. Die gesamte geschundene Kreatur sehnt sich nach Frieden und Erlösung.

Die Liebe ist allumfassend. Sie beschränkt sich nicht auf einen Menschen. Meine Grundhaltung gegenüber allen Menschen kann von Liebe geprägt sein. Liebe kann ich gegenüber Tieren und der Natur empfinden. Die Erde trägt und erhält uns. Tiere bereichern mich. Sie bringen Freude in mein Leben. Eine schnurrende Katze löst Wohlbefinden bei mir aus. Ein treuer Hund wird zum Gefährten. Eine Kuh blickt mich mit ihren sanften Augen an.  Wer in den Tieren Geschöpfe Gottes sieht, wird ihnen kein Leid antun. Liebe kann ich auch zu Bäumen entwickeln. Das kann ich einüben. Ich gehe aufmerksam durch einen Wald, lausche auf Geräusche, atme Gerüche, umarme einen Baum, höre, ob er eine Botschaft für mich hat. Bäume haben ihre Lebensgeschichte. Mit aufmerksamen, liebenden Blick durch die Welt gehen, aufnehmen, was sie zu sagen hat, mich ansprechen lassen, verwandelt mein eigenes Leben.  

Die Liebe ist freundlich und langmütig, sie eifert nicht und bläht sich nicht auf. Sie sucht nicht das Ihre, sie erfreut sich an der Wahrheit. Die Liebe erträgt alles und duldet alles. Ich kann alles unterschreiben, was Paulus in seinem Korintherbrief über die Liebe sagt, bis auf dieses: Die Liebe erträgt alles und duldet alles. Diese Aussage widerstrebt mir. Die Gefahr ist groß, dass eine Liebe, die alles erträgt und duldet, ausgenutzt wird. Wo jemand ausgenutzt wird, ist die Liebe verschwunden. Die Liebe treibt nicht Mutwillen und nutzt niemanden aus. Ich könnte mir vorstellen, dass Paulus diese Worte geschrieben hat, weil er in seiner persönlichen momentanen Lage Trost sucht. Er wird von einigen Gemeindegliedern in Korinth hart angegangen. Seine Gegner stellen sein Apostelamt in Frage und machen ihm Schwierigkeiten. Um Christi und des Evangeliums Willen erträgt er ihre Anfeindungen und erduldet ihre Anschuldigungen.

„Jetzt sehen wir wie durch einen dunklen Spiegel, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.“ Im Himmel sind Freude und Licht. Mit Christus strahlt schon jetzt das Himmelslicht auf die erlösungsbedürftige Erde. Wir ahnen die Herrlichkeit und den Glanz Gottes in der neuen himmlischen Welt, sehen aber noch nicht klar. Paulus verwendet das Bild von einem dunklen Spiegel. Der verdunkelte Spiegel lässt den Himmel nur undeutlich und verschwommen erkennen. Das Reich Gottes ist uns noch verhüllt. Mir will scheinen: Manchmal lichtet sich der dunkle Spiegel an kleinen Stellen und der Himmel wird sichtbar. Manchmal fällt strahlendes Himmelslicht auf die Erde und legt sich auf Menschen nieder. Das sind die beglückendsten Momente, die ein Mensch auf Erden erlebt. Dann aber verdunkelt sich der Spiegel wieder und lässt keine klare Sicht frei. Unsere Erkenntnisse sind wieder unvollkommen und Stückwerk bis der dunkle Spiegel weggenommen wird und Gott uns für immer sein Licht und seine Sonne sehen lässt. Amen.

Mögliche Lieder:

Ich bete an die Macht der Liebe

Gott liebt diese Welt und wir sind sein Eigen

Morgenglanz der Ewigkeit

Perikope
07.02.2016
13,1-13