Liebe Gemeinde,
er ist noch in Papier eingeschlagen, der Blumenstrauß in seiner Vase auf dem Tisch. Ein später Sonnenstrahl leuchtet am Freitagnachmittag im Zimmer auf. Dämmerung. Aufgeräumte Willkommensstimmung. Ein Blick zur Uhr. In einer halben Stunde müsste ihr Flugzeug endlich gelandet sein. Dann noch die Fahrt nach Hause. Ob sie erschöpft und müde von ihrer Geschäftsreise nach Hause kommen wird? Ob sie erfüllt von ihren Erlebnissen erzählen wird? Ob sie sich freuen wird? Ein prüfender Blick zieht durch das Zimmer. Alles schön genug? Die Augen richten sich auf das Gesicht, das sich im Fenster spiegelt. Wartend. Sich Musternd. Fragend: “Haben wir ein gutes Leben? Stimmen unsere Ansprüche und unser Leben überein? Was sollten wir noch tun? Und: Wofür halten uns die Leute?”
Es braucht nicht das große Weltgericht. Es braucht kein öffentliches Tribunal und keinen großen Prozess. Nicht einmal ein kurzes Feedback braucht es, dass wir uns fragen: “Was bin ich wert? Wofür soll ich mich halten? Für wen werde ich gehalten?” Je mehr wir uns mit der Vorstellung eines großen Weltgerichtes schwertun, um so schwerer scheint ein inneres Gericht auf uns zu lasten, das Herz schwer zu machen und die immer gleichen Fragen auszulösen: “Entspreche ich den Anforderungen? Sehe ich gut genug aus? Bin ich professionell? Strahle ich das aus, was die anderen in mir sehen sollen? Für wen werde ich gehalten?”
“Dafür halte uns jedermann”, schreibt Paulus im ersten Brief an die Korinther, “für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. Mir aber ist's ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden.” So Paulus im 1. Brief an die Korinther im 4. Kapitel in den Versen 1-5, unserem heutigen Predigttext.
Liebe Gemeinde,
Paulus kennt unsere Fragen. Er hört sie leise in seinem Inneren, wenn er sich selbst befragt: “Müsste mir etwas bewusst sein?” Er hört sie tuschelnd und manchmal sehr laut von seinen Korinthern, mit denen er gerade zu kämpfen hat: um Respekt für seine Person, um die Würdigung seiner Leistungen, um die Anerkennung seiner Begabungen und Talente. Nicht anders als wir sieht er sich mit den Urteilen anderer konfrontiert und den Fragen, die sie auslösen. Es geht ihm wie einem Schüler mit den Noten seiner Lehrerin, wie einer Mitarbeiterin mit der Beurteilung ihres Vorgesetzten, wie einer Pfarrerin mit Rückmeldungen aus ihrer Gemeinde, wie dem Mitbürger mit den Einschätzungen seines Nachbarn: “Was bin ich wert? Wofür soll ich mich halten? Für wen werde ich gehalten?” Paulus kennt unsere Fragen. Aber er weiß auch: Wir sind ihnen nicht ausgeliefert. Wir müssen sie nicht beantworten. Wir müssen uns von ihnen nicht abhängig machen. Denn vor Gott sind solche Fragen und Urteile egal. Sogar unsere Selbsteinschätzungen. Deshalb schreibt Paulus: “Auch richte ich mich selbst nicht.” Das Tribunal von Welt und Nachbarschaft interessiert ihn genauso wenig: “Mir ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht.” Paulus lässt sich nicht mehr von seinem oder anderer Leute Urteil gefangen nehmen. Er ist frei - auch gegenüber seiner Gemeinde in Korinth. Er ist frei und so entzieht er sich leichten Herzens jedem Casting als Korinths nächstem Top-Apostel und bewirbt sich nicht um die Rolle eines dieser Supergläubigen, die die Gemeinde gerade so sehr beeindrucken. Paulus wählt eine andere Rolle. Er will den Korinthern als “Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse” begegnen. Nicht als Sklave seines Renommees, sondern als Mitarbeiter Christi in aller Freiheit, nicht als abhängiger Knecht eigener und fremder Ansprüche, sondern als eigenständiger Verwalter von Gottes Geheimnissen, der nur von einem beurteilt wird, Jesus Christus. Der nur nach einem Kriterium beurteilt werden wird, seiner Treue.
Es ist Bindung an Jesus Christus, die Paulus frei macht, die Paulus unabhängig macht, die Paulus das Leben leicht macht. Denn mit der Bindung an Jesus Christus verschieben sich die Maßstäbe. Normalerweise genießen mächtige Menschen Respekt, aber Gott kommt in einem wehrlosen Kind in der Krippe in die Welt. Normalerweise haben die in reichen Palästen wohnen großes Ansehen, aber Gott kommt in einem Stall in die Welt. Normalerweise werden die Klugen und Weisen bewundert, aber Gott tritt in einem unmündigen Kind in unser Leben. Wir sehen es am Kind in der Krippe, am gekreuzigten Christus sieht es Paulus: Gott legt an sich selbst andere Maßstäbe an, Gott legt an uns andere Maßstäbe, seine Maßstäbe an. Und befreit uns von dem Druck, allein den Ansprüchen anderer genügen zu müssen, um etwas wert zu sein.
Wo sich Maßstäbe verschieben, ändern sich Beziehungen. Wo Gottes Maßstäbe gelten, gibt es besondere Beziehungen. Paulus beschreibt sie mit einem Bild aus der Welt der Wirtschaft. Er möchte für einen “Diener Christi und Haushalter der Geheimnisse Gottes” gehalten werden. Einem “Haushalter”, auf griechisch einem “Ökonomen” werden Sachwerte anvertraut, ein Kredit gewährt, weil der Gläubiger glaubt, dass er nach einer gewissen Zeit für seine Vorleistung eine Gegenleistung erhält, seinen Gewinn. Das gelingt nur, wenn der Haushalter das anvertraute Gut nicht veruntreut, wenn er “treu” ist. Es kommt nicht äußere Eindrücke an, nicht auf Erfolge, nicht auf Glanz. Es geht um Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit. Paulus spielt an dieser Stelle ein wenig mit dem Wort “Glauben”, weil es in der Beziehung von Gott und Mensch viel weniger als von Gerichten und Tribunalen auf Rechte und Normen, Gesetze und Regeln ankommt als auf Glauben, auf Vertrauen. Aber wie im Wirtschaftsleben gilt auch: Vor der vereinbarten Frist, vor Vertragsende, zu früh, kann nicht mit einem Ökonomen abgerechnet werden, auch nicht mit dem “Haushalter über Gottes Geheimnisse”. “Darum”, schreibt Paulus, “richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt.”
Menschen, die einander vertrauen, freuen sich, einander wieder zu begegnen, sie freuen sich auf das Kommen des anderen. Das gilt auch für das Kommen des Herrn, jetzt in den Tagen des Advents. Der nicht nur Licht ins Dunkel unserer Welt bringt, sondern auch hell machen wird, was in meinem Leben noch im Verborgenen liegt. Die Dinge, die mir selbst ein Rätsel sind, mit denen ich ringe, die ich an mir selbst nicht verstehe, für die ich mich vielleicht sogar verurteile. Nicht, um sie in die Öffentlichkeit zu bringen, nicht um mich zu blamieren oder bloß zustellen. Er bringt sie ins Licht, um einzulösen, um mir zu eröffnen, was uns Gott nach den Worten des Paulus verspricht: ein Lob, dass am Ende jedem “von Gott sein Lob zuteil werde”. Das muss dann so ähnlich wie bei dem Menschen sein, der den eingeschlagenen Blumenstrauß auf dem Tisch öffnet und sich an ihm freut, weil er spürt: Ich bin willkommen, ich bin geschätzt, ich bin geliebt. Amen.