I. Es ist immer noch kein Regen gefallen. Die Erde ist staubtrocken. Dürre. Da zieht langsam ein Nebel auf. Wo auch immer er herkommen mag. Rätselhafte, undurchdringliche Schwaden. Je länger sie sich halten, desto feuchter wird alles. Nicht nur die Luft. Sogar die Erde. Der Staub beginnt sich langsam zu verbinden, bis der Boden fast lehmig ist.
Liegt es an diesem Nebel, dass sich kleine Rinnsale bilden? Oder treten sie aus dem Boden empor? Ebenso geheimnisvoll, wie der Nebel gekommen ist, entsteht eine Quelle. Ihre Wasser wachsen langsam zu einem Strom.
Von ihm wird das Land bewässert. Erst jetzt wird der Boden fruchtbar. Das Wasser fließt so reichlich, dass sich der Strom in vier große Flüsse teilt. Sie fließen in alle Himmelsrichtungen und tragen das lebensermöglichende Nass in alle Welt.
Liebe Gemeinde, so beginnt einer der grundlegenden Texte unserer Kultur. Der so genannte „zweite Schöpfungsbericht“. Er prägt unser Bild von der Welt. Ich möchte diese Erzählung heute als Urbild der Taufe auslegen. Aber hören Sie zunächst die Worte der Bibel. Ich lese aus dem 2. Kapitel des ersten Buches Mose [1. Mose 2,4b-15].
II. Eine Erzählung des Anfangs, wie alles begann. So hören wir diese Worte für gewöhnlich. Als Gott der Herr Himmel und Erde machte. Als alles noch dürr und tot war. Da ließ er einen Nebel aufsteigen…
Viele von uns hören die ehrwürdige Geschichte mit höflichem Respekt. Und glauben kein Wort davon. Andere, Wohlmeinendere, suchen nach Entsprechungen zu unseren wissenschaftlichen Vorstellungen. War die Erde nicht tatsächlich zunächst ein trockener Gesteinsball, so wie heute noch der Mond? Begann nicht tatsächlich alles mit der Feuchtigkeit, in der sich das Leben bildete?
Und wieder andere, die Feingeistigen unter uns, entdecken darin ein poetisches Bild. Ist es nicht eine wunderschöne Vorstellung, dass Gott zuerst den Menschen schuf? Dass er für ihn den Garten anlegte und dem Menschen so eine Aufgabe schenkte? Die hegende und pflegende Arbeit im Garten als Ausdruck einer sinnerfüllten Existenz!
Aber das Problem bleibt: Keiner von uns vermag den Wortlaut der Erzählung zu glauben. Wer es dennoch versucht, wird zum Fundamentalisten. Denn er muss all das ausblenden, was die neuzeitliche Wissenschaft uns mit großer Wahrscheinlichkeit zu denken gelehrt hat.
III. Aber müssen wir diese großartige Erzählung unbedingt als Geschichte des Anfangs lesen? Nur weil mit ihr die Bibel beginnt? Nur weil ihre mythische Gestalt diesen märchenhaften Anfang hat: Es war einmal zu der Zeit, als Gott Himmel und Erde machte…
Dabei können wir das Wunder des Wassers doch auch heute ständig erleben. Schon im Kindergarten machen unsere Kinder ganz ähnliche Erfahrungen. Sie nehmen einen Sonnenblumenkern. Stecken ihn in trockene Erde. Dann gießen sie fleißig. Und bald darauf können Sie eine leuchtende Pflanze bestaunen.
Besonders beeindruckt hat mich die Geschichte einer Frau, die in diesem Sommer durch die Medien ging. Die Zweiundvierzigjährige litt seit langem unter Migräne. Ihr Gesicht spiegelte ihr Leiden wider: Krähenfüße um die schattigen Augen, fleckige Haut.
Dann rieten ihr zwei Ärzte unabhängig voneinander, deutlich mehr Wasser zu trinken. Am besten drei Liter am Tag. Und zwar Mineralwasser, nicht Kaffee oder Alkohol. Sie beschloss, sich vier Wochen lang auf einen Versuch einzulassen. Die Veränderungen hielt sie mit dem Fotoapparat fest.
Schon nach zwei Wochen nahmen die Flecken ihrer Haut ab. Die Falten glätteten sich. Und vor allem: die Migräne ließ nach. Im Internet sind ihre Fotos zu bewundern. Am Ende des Monats zeigen sie eine deutlich entspanntere, geradezu verjüngte Frau.
In der gesamten Natur finden sich solche Beispiele: eine fast erstorbene Pflanze, die nach dem Gießen wieder erblüht; eine Trockenfläche am Rand der Wüste, die nach dem Regen zu einem Wasserparadies für Flamingos wird; die Wohltat einer Dusche nach einem heißen Sommertag. Und wer von uns Älteren hat nicht den Rat seines Arztes im Ohr: „Trinken Sie mehr!“
IV. Das Wunder des Wassers ist ein Wunder des Alltags. Ein Wunder der Gegenwart. Ein Wunder, dass immer wieder von uns erfahren werden kann. Vielleicht vergessen wir darüber, dass es ein Wunder es ist. Aber es verliert deshalb nicht seine lebensermöglichende Kraft.
Die Alten erzählten die Wunder ihres Lebens als Geschichten des Anfangs. So führten sie sich vor Augen, was ihr Leben bestimmt. Und sie vergewisserten sich, dass sie in einer von Gott gesetzten Ordnung leben. Was Gott am Anfang getan hat, das bestimmt mein Leben jeden Tag neu.
Uns mag dieses Denken fremd geworden sein. Die Erfahrung ist jedoch geblieben: Fast nichts führt mir die Abhängigkeit und Gefährdetheit meines Lebens so vor Augen wie mein Durst. Notfalls könnte ich Wochen lang ohne feste Nahrung überleben. Nach drei Tagen ohne Wasser werde ich jedoch verdursten.
Und es kommt noch etwas Zweites hinzu. Ohne das halten wir es noch weniger aus als ohne Wasser. Versuchen Sie einmal, eine Minute lang die Luft anzuhalten! Wasser und Luft – das sind die entscheidenden Lebens-Mittel. Auf sie sind wir ständig angewiesen.
V. Während das Wasser in der Geschichte vom Paradies so einen breiten Raum einnimmt, wird die Luft nur an einer Stelle erwähnt. Geradezu versteckt. Aber es ist der entscheidende Moment: Gott hat die Erde befeuchtet. Aus dem Gemisch hat er den Menschen geformt. Aber noch ist er unbelebt, bloßer Stoff.
Jetzt bläst Gott dem Menschen Luft in die Nase. Den Atem des Lebens. Das ist der Moment, in dem das Leben beginnt. Atem und Leben – beides fällt zusammen. Wenn das Neugeborene seinen ersten Atemzug tut und schreit – dann ist es tatsächlich auf der Welt angekommen. Und wenn ein Mensch seinen letzten Atemzug getan hat – dann ist ein Leben an sein Ende gekommen.
Wasser und Atem. Man könnte auch sagen: Wasser und Geist. Denn der Lebensatem, der menschliche Geist oder auch der Hauch, der Geist Gottes: Für all das steht im Hebräischen dasselbe Wort: Neschamah. Wasser und Geist sind es, die aus unbelebtem Stoff einen Menschen machen.
VI. Und Wasser und Geist sind es auch, die in der Taufe einem Menschen geschenkt werden. Das Wasser, ganz spürbar und sichtbar. Aus dem Taufbecken schöpfe ich es mit der Hand und gieße es dem Täufling dreimal über die Stirn.
Der Geist dagegen ist unsichtbar. Der Hauch Gottes, der von nun an diesen Menschen erfüllt. Nicht weniger wirklich als das Wasser. Um dies anschaulich zu machen, wurde früher der Täufling vom Taufenden angehaucht. Als Zeichen: Du empfängst nun den Lebensatem von Gott. Den Geist Deines Schöpfers.
Was die Schöpfungsgeschichte von der Erschaffung des Menschen erzählt, ist ein Urbild der Taufe. In der Taufe wird der Mensch wirklich zum Menschen. So, wie Gott ihn gewollt hat bei der Schöpfung. Die Taufe belebt und begeistert.
VII. Und das gilt auch noch in einer zweiten Hinsicht. Eben hatte ich über die Frage nachgedacht: Erzählt die Paradiesgeschichte eigentlich etwas Einmaliges? Den einen, unendlich weit zurückliegenden Moment, als der erste Mensch geschaffen wurde? Oder erzählt sie nicht vielmehr von den Bedingungen, unter denen Leben immer wieder neu möglich ist?
Im ersten Fall wäre es eine ins Erzählerische gewandete Theorie. Eine, die wir heute weitgehend für überholt halten. Die wir im besten Fall durch poetische, feinsinnige Deutungen in die Gegenwart übersetzen können.
Die Geschichte ist jedoch viel mehr als eine Spekulation über den Anfang. Sie beschreibt stattdessen die Grundbedingungen unseres Lebens. Schöpfung ereignet sich in jeder Sekunde, die ich lebe. Mit jedem Atemzug. Mit jedem Schluck Wasser, den ich in mich aufnehme.
Und genau das gilt auch für die Taufe. Sie mag einen Anfang bezeichnen. Sie zeigt: Gott hat sich Dir ein für allemal zugewandt. Aber vor allem führt sie vor Augen, was jeden Moment neu geschieht. Wir Christen leben beständig aus dem, was Gott uns schenkt.
Gottes Geist haben wir nicht wie einen Edelstein erhalten, den wir von nun an bewahren müssen. Sondern Gott schenkt uns den Geist immer wieder neu. Wie die Luft zum Atmen. Und mit jedem Wassertropfen schenkt er uns neu das Leben.
Genau so hält er unseren Glauben lebendig. Auch der ist keine einmalige Gabe, die wir zu bewahren haben wie eine unwiederbringliche Flamme. Wie trostlos wäre dann der Moment, wenn sie doch einmal erlischt! Nein – auch unseren Glauben hält Gott durch seinen Geist lebendig. Durch den Geist, den er uns mit jedem Atemzug neu schenkt. Amen.