Predigt zu 1. Petrus 1, 13-21 von Johannes Block
1,13
I. Ernüchterung
Auf die erste Begeisterung folgt häufig Ernüchterung. Als in Berlin am vielbesagten 9. November die Mauer fiel, jubelten die Massen. Fremde Menschen umarmten sich. Man tanzte auf den Strassen. Doch auf die erste Begeisterung folgte Ernüchterung. Denn nun begann die mühsame Wanderung in neue Verhältnisse, in neue Herausforderungen und Aufgaben. So mancher wurde auf der Wanderung in eine neue Zeit müde, vielleicht auch enttäuscht und bitter.
Auf ähnliche Weise ist es dem Volk Israel ergangen. Die Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägyptens unter Moses Führung löst große Begeisterung aus. Doch dann beginnt die mühsame und lange Wanderung ins Gelobte Land. Die kritischen Stimmen im Volk werden lauter:
Und es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste. Und sie sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen.(2. Mose 16,2-3)
Auf die erste Begeisterung folgt häufig Ernüchterung. Auf solcherlei Ernüchterung und Ermüdung reagiert der erste Brief des Petrus, der uns heute zum Predigen und zum Hören aufgetragen ist. Die Empfänger des Briefes haben es nicht leicht. Sie leben in Kleinasien im Gebiet der heutigen Türkei. Sie leben als christliche Gemeinschaft in der Minderheit. Sie sind immer wieder Anfragen und Anfeindungen ausgesetzt. Viele sind müde geworden auf dem steinigen Weg der jungen Kirche. Vielen schmerzen die Knochen von den harten Auseinandersetzungen. Viele sind mut- und orientierungslos geworden. In dieser Situation tut es gut, einen Brief zu erhalten – einen Brief, der aufmuntert, erinnert, ermahnt:
Umgürtet die Lenden eures Gemüts!    
  Seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade!   
  Gebt euch nicht den Begierden hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet!  
  Wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel!
Der erste Brief des Petrus kam damals in Kleinasien zur rechten Zeit. Und er kommt auch heute in Mitteldeutschland zur rechten Zeit. Ermutigung kann der christliche Glaube zu allen Zeiten gebrauchen, weil der christliche Glaube immer auch ein Entwicklungsprozess ist, ein Werden und ein Wachsen. Man könnte den christlichen Glauben mit einer Wanderung vergleichen. Man macht sich auf den Weg. Es gibt Höhen und Tiefen. Man ist in Bewegung. Den christlichen Glauben gibt es nicht als ein fertiges Gesamtpaket: aufreißen, zusammenstecken, einschalten! So funktionieren allenfalls elektronische Geräte. Wer es mit dem Heiligen Geist und dem christlichen Glauben zu tun bekommt, der gerät in einen dynamischen Prozess. Martin Luther, dessen Worte noch in den Mauern dieser Kirche stecken, ist immer wieder auf das Wachsen und Werden des Christenmenschen zu sprechen gekommen. Hören wir einen markanten Hinweis von Martin Luther:
„Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Ruhe, sondern Übung.“
Martin Luther zufolge ist das Wesen des christlichen Lebens nicht Statik, sondern Dynamik; nicht Beharrung, sondern Bewegung. In Bewegung geraten, auf die Wanderschaft gehen – das sind Sinnbilder für das Christsein. Und wer auf langer Wanderschaft ist, der wird es erfahren und erleiden: die Ermüdung, die Ernüchterung, die Erschöpfung. Die Begeisterung auf den ersten Etappen kann schnell in Enttäuschung über den langen Weg umschlagen. Deshalb ist es gut, ermutigende Briefe im Reisegepäck zu haben - ermutigende Briefe wie den ersten Petrusbrief. Schauen wir etwas genauer auf die Ermutigungen, auf die Mahnungen, auf die Ermunterungen.
II. Ermutigung
Umgürtet die Lenden eures Gemüts– so lautet eine der Ermutigungen und Ermunterungen im ersten Petrusbrief:
Umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi.
Wer seine Lenden gürtet, der macht sich reisefertig. Aufbruch und Bewegung – das ist ein Wesensmoment des christlichen Glaubens. Wer sich in der Morgenfrühe auf eine Wanderung aufmacht, der wird die Freiheit spüren. Man lässt den Alltag und die Arbeit hinter sich. Man hat nicht mehr bei sich als man tragen kann. Man konzentriert sich aufs Wesentliche: auf den Weg, auf das Wetter, auf das täglich Brot, auf die Schönheit der Natur. Diese Freiheit und Unabhängigkeit verleiht der Glaube. Es mag ein langer und mühsamer Weg sein. Doch es ist ein Weg in die Freiheit – ohne den Ballast des alten Lebens mit seiner festgezurrten Routine. Umgürtet die Lenden eures Gemüts, mahnt der erste Brief des Petrus. Bleibt reisefertig! Bleibt beweglich! Bleibt unterwegs!
Reisefertig und beweglich – so wird von Jesus von Nazareth in den Evangelien erzählt. Jesus von Nazareth ist auf der Wanderschaft von Galiläa nach Jerusalem. In Bewegung und auf dem Weg – das scheint die Lebensform des Nazareners zu sein:
Und es trat ein Schriftgelehrter herzu und sprach zu ihm: Meister, ich will dir folgen, wohin du gehst. Jesus sagt zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.(Mt 8,18f.)
Ich frage mich und ich frage uns: Sind wir zu behäbig geworden? Sind wir zu gesetzt und etabliert geworden? Haben wir uns einfach niedergelassen mit unseren Gewohnheiten und Vorurteilen? Verwalten wir zu viel und erwarten wir zu wenig? Lassen wir Bewegung und Veränderung zu?
Umgürtet die Lenden eures Gemüts– der erste Petrusbrief mahnt zum Aufbruch und zur Bewegung. Wer aufbricht, wer sich zur Wanderung aufmacht, wird erleben, was es heißt, den angesammelten Ballast, die festgezurrte Routine hinter sich zu lassen.
Doch noch entlässt uns der erste Petrusbrief nicht auf die weitere Wanderschaft. Denn noch ist der Brief nicht zu Ende gelesen:
Gebt euch nicht den Begierden hin– so lautet eine weitere Ermutigung und Ermunterung im ersten Petrusbrief:
Gebt euch nicht den Begierden hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet; sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel.
Die alten Begierden – dahinter steckt die Sehnsucht nach der alten Zeit. Erinnern wir uns an das Volk Israel: Es murrt und schreit während der Wanderung ins Gelobte Land. Das Volk Israel sehnt sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens.
  Man wundert sich und schüttelt den Kopf: die befreiten Sklaven sehnen sich zurück ins alte Sklavenhaus. Die ungewohnte Freiheit ist unübersichtlich und anstrengend. „Früher war alles besser“, so redet man im Volk Israel, und so redet man im Volk der Deutschen. In jedem von uns steckt ein ehemaliger Sklave, der sich gern in alte Gewohnheiten verstrickt. Wir verstricken uns in Arbeit und Leistung und hoffen, damit das Leben zu gewinnen. Wir verstricken uns in Wochenend- und Freizeitvergnügen und hoffen, damit das Glück zu finden. Wir verstricken uns in größere und in kleinere Politik und hoffen, damit die Welt zu retten.
Ich frage mich und ich frage uns: Sind wir noch immer die Sklaven unserer eigenen Träume? Sind wir noch immer die Sklaven unseres eigenen Erfolgs? Sind wir noch immer die Sklaven unserer eigenen Werke?
Als Jesus von Nazareth nach Jerusalem geht und wandert, umgeben ihn lauter Bilder aus Natur und Landschaft – Bilder von den Vögeln unter dem Himmel und von den Lilien auf dem Feld. Auf einer Wanderung auf sich gestellt, aufs Wesentliche konzentriert, bekommt man ein Gespür für die allumwebende Gnade, die das Leben trägt. Davon sprechen die Worte des Nazareners:
Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?(Mt 8,25f.)
Die Gnade Gottes durchwebt und durchströmt alle Dinge. Deshalb mahnt, erinnert und ermuntert der erste Brief des Petrus:Gebt euch nicht den Begierden hin, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet.Macht euch nicht wiederum zu Sklaven eurer Werke! Macht euch nicht wiederum zu Sklaven eurer Routine! Macht euch nicht wiederum zu Sklaven eures alten Lebens!
III. Erlösung
Halten wir für einen Moment inne! Das christliche Leben ist ein Werden und Wachsen. Wer glaubt, begibt sich auf eine Wanderung und lässt sein altes Leben hinter sich. Doch Wanderungen können lang und ermüdend sein. Deshalb braucht man ermutigende Briefe im Reisegepäck. Der erste Brief des Petrus mahnt, ruft und erinnert:Bleibt reisefertig! Bleibt beweglich! Macht euch nicht wiederum zu Sklaven eurer Werke! Macht euch nicht wiederum zu Sklaven eures alten Lebens!
Wie gesagt, Ermutigungen, Ermahnungen und Appelle können gut tun. Ermutigungen, Ermahnungen und Appelle können allerdings auch bedrängen und bedrücken. Dann würde der christliche Glaube zu einem Appellhof, zu einem Kasernenhof. Gegen Zustände wie auf einem Appellhof hat sich Martin Luther immer gewehrt. Martin Luther schreibt:
„Predigen will ich’s, sagen will ich’s, schreiben will ich’s. Aber zwingen, mit Gewalt dringen will ich niemanden, denn der Glaube will willig, ungenötigt angenommen werden.“
Alle Ermutigungen, Ermahnungen und Appelle im ersten Brief des Petrus sind nur deshalb erträglich, weil sie auf eine unglaubliche Freiheit hinweisen. Diese Freiheit lässt sich weder kaufen noch erzwingen. Diese Freiheit fällt uns zu wie die Befreiung dem Sklaven zufällt. Im ersten Brief des Petrus heißt es:
Ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise,sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes.
Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, befreit die Sklaven des alten Lebens: die Sklaven des Erfolgs, die Sklaven des Konsums, die Sklaven des Todes. Das Blut Christi flösst neues Leben ein. Wo das alte Leben immer älter und lebloser wird, dort befreit das Blut Christi zu neuem Leben. Das Blut Christi ist ein Lebenszeichen – ein Lebenszeichen für ein Leben, das wir uns selbst nicht einflössen können. Wir leben gewissermaßen auf Gottes Kosten. Das ist die frohe Botschaft, dass Christus für uns die Kosten des Lebens trägt. Einer trägt die Kosten, auf dass wir leben.
Lothar Zenetti, ein Dichter unserer Zeit, drückt diesen Gedanken mit folgenden Versen aus:
Einmal wird uns gewiß
  die Rechnung präsentiert
  für den Sonnenschein
  und das Rauschen der Blätter,
  die sanften Maiglöckchen
  und die dunklen Tannen,
  für den Schnee und den Wind,
  den Vogelflug und das Gras
  und die Schmetterlinge,
  für die Luft,
  die wir geatmet haben,
  und den Blick auf die Sterne
  und für alle die Tage,
  die Abende und die Nächte.
Einmal wird es Zeit,
  dass wir aufbrechen und
  bezahlen.
  Bitte die Rechnung.
  Doch wir haben sie
  ohne den Wirt gemacht:
  Ich habe euch eingeladen,
  sagt der und lacht,
  soweit die Erde reicht:
  Es war mir ein Vergnügen!
Machen wir uns also auf den Weg! Wir haben einen Brief im Reisegepäck, der uns ermutigt und ermahnt, die große Wanderung nicht aufzugeben. Es ist eine Wanderung in eine grandiose Freiheit – in die Freiheit vom alten Leben. Und es ist eine Wanderung nicht ohne Pause, nicht ohne Erfrischung. Die Feier des Abendmahls steht gleichsam zur Erfrischung am Wegesrand bereit. Hier teilt sich Gottes Lebenskraft aus in Brot und Wein. Hier schüttet sich eine große Freiheit aus. Umgürtet die Lenden eures Gemüts. Auf unserem Weg wartet eine grandiose Freiheit!
Perikope
11.03.2012
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