Predigt zu 1. Petrus 2,2-10 von Eva Rincke
2,2-10

Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil, da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist.

Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als die lebendigen Steine erbaut euch zum geistigen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.

Darum steht in der Schrift (Jesaja 28,16): „Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.“

Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist „der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des Anstoßes und des Ärgernisses“ (Psalm 118,22; Jesaja 8,14); sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind.

Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht; die ihr einst „nicht ein Volk“ wart, nun aber „Gottes Volk“ seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid (Hosea 2,25).

Liebe Gemeinde!

Stellen Sie sich einen Bergsee vor. Von weiter oben sieht man seine Umrisse: Eine Küstenlinie ohne Anfang und Ende, aber kein geometrisches Rund, sondern ein lebendiges, mit einzelnen kleinen Buchten. In Ufernähe kann man auf den Grund blicken. Weiter zur Mitte hin wird der See dunkel; die Tiefe dort ist ein Geheimnis. Ruhig liegt er da, glänzend die Fläche des Wassers, Wolken spiegeln sich darin.

Die Worte, die wir gehört haben, vergleiche ich mit solch einem See: Gleichmäßig sind sie in ihrer Sprechart – voller poetischer Bilder und Zitate, die sich aneinanderreihen, ohne logische Schlussfolgerungen oder gar Argumentationen. Eine regelmäßige und geschlossene Form. Mancher kann mit den Bildern etwas anfangen, sie zuordnen und insofern auf den Grund blicken. Aber auch die bibelfesteste Person wird zugeben, dass sie nicht die Tiefe aller Worte erfassen kann. Das ändert nichts an der Schönheit dieser Worte. Sie glänzen, auch ohne dass ihre Bedeutung exakt erklärbar ist. Die Seele kann sich in ihnen spiegeln.

Ohne dass Sie darüber groß nachgedacht haben, haben Sie heute Morgen entschieden, wie Sie diesem Bergsee-Text begegnen: Ob Sie den See wie ein Wanderer von einem entfernten Punkt aus betrachten, ob Sie ihn umrunden oder ob Sie zum Baden hineinspringen.

Diese Entscheidung haben Sie getroffen aufgrund Ihrer Grundeinstellung, aufgrund dessen, was Sie aus der Bibel kennen und aufgrund Ihres Umgangs mit dem, was Sie nicht wissen können. Denn niemand kann genau „wissen“, was ein Autor, eine Autorin ausdrücken will. Der oder die hat ja selbst nicht bis in die letzte Einzelheit Zugang zur eigenen Kreativität.

Auf einige von Ihnen wirken diese Petrus-Brief-Worte wie eine Botschaft aus weiter Entfernung. Zu Ihrem Leben gehört es, kirchliche und gesellschaftliche Themen gleichermaßen zu durchwandern. Sie halten viel von einer christlichen Kirche, die den Schwachen beisteht und politisch Stellung nimmt. Sie warten im Gottesdienst auf Stärkung und guten Grund für das, was Sie im Alltag als Christinnen und Christen sagen, tun und lassen. Sie haben einen Sinn für poetische Worte, aber nach dem Psalm und zwischen den Liedern sollte es konkret werden. Das sind die Worte von der „lauteren Milch“ und dem Eckstein nicht; Sie können sie vorüberziehen lassen wie den Anblick eines Bergsees. Auf Ihrer Wanderung ist er eine schöne Aussicht, aber die hilft nicht dabei, den nächsten Anstieg zu bewältigen.

Andere von Ihnen umwandern diesen Bergsee aus Worten. Jeder wählt sein Tempo. Man schaut nach den Spuren der Vorgänger, man bleibt stehen, hört die Worte, die er flüstert: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden!“

Man erinnert sich an Ostergottesdienste, in denen diese Worte gelesen und gesungen wurden.

Man erinnert sich weiter, dass dies Psalmworte sind, die jahrhundertelang allein vom Volk Israel gebetet wurden. Dass sie Gegenstand der Hoffnung und des Glaubens waren, lange bevor Jesus geboren wurde.

Man hat auch im Kopf, dass große Gewalt sich darin begründete, dass Christen sagten, nun sei eindeutig und unwiderlegbar diese Prophezeiung in Jesus erfüllt und der Glaube des Volkes Israel insofern überholt und wertlos.

An einer Stelle rauscht das Wasser folgenden Satz: „Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil, da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist.“

Die Wandernden schauen durch diese Worte wie durch klares Wasser auf den Grund, und sie können erkennen: Die Milch steht für die Wahrheit. Auf vielen Bildern und Skulpturen haben sie dies schon so dargestellt gesehen. Die Wahrheit, das ist für den Christen der Glaube an Gott. Trinke den Glauben, dann kannst du leben! Trinke den Glauben, und du wirst wachsen!

Der Gang um den See bietet noch viele andere Stationen. Es stechen hervor: Die Erinnerung an die Priesterschaft Israels, die Idee der Erwählung und die Frage danach, ob es sein kann, dass Gott Menschen zum Unglauben bestimmt hat. Jedes dieser nur angedeuteten Themen lädt ein, lange zu bleiben, sich viel Geschichte und viele Geschichten erzählen zu lassen und noch mehr zu diskutieren. Von jeder dieser Stationen muss man sich am Ende losreißen, ohne eine Einigkeit erlangt zu haben. Denn es ist, aber das war von vornherein klar, nicht das kleine Einmaleins, von dem hier gesprochen wird.

An einem Punkt des Weges trifft der Teil der Gemeinde, der zu den Uferwanderern gehört, auf diejenigen von Ihnen, liebe Gemeinde, die sich zum Baden ins Wasser gestürzt haben. Intuitiv haben Sie diese Entscheidung getroffen. Dabei hatten Sie gar nicht den See als ganzes im Blick, sondern eine bestimmte Stelle, an der das Wasser so schön war.

Vielleicht war es der Ausdruck von Jesus als dem lebendigen, kostbaren Stein, der Sie beflügelt hat: Der Stein, kalt und unpersönlich, aber attraktiv durch die Festigkeit, die er bietet, bekommt in diesem Ausdruck Seele und Puls. Oder Sie gingen mit dem Gedanken vom Ruf aus der Finsternis ins Licht mit und konnten sie förmlich spüren, die große Möglichkeit – sich herausziehen zu lassen aus Traurigkeit und kleinem Mut, zu gehorchen und dabei das Leben, Gnade und Gemeinschaft zu gewinnen.

Es kann sein, dass ich Sie doch nicht so gut kenne, wie ich meine, und Sie sehen das alles ganz anders. Einige von Ihnen werden mir das nachher sagen. Es kann auch sein, dass wir es gemeinsam haben, wechselnd manchmal entfernter Betrachter, manchmal Erforscher, manchmal Schwimmerin zu sein. So, wie unsere Seelenlage es uns eingibt. So, wie es die politische Lage uns nahelegt. So, wie unsere Aufnahmefähigkeit es uns ermöglicht.

In Amerika hat mein Sohn „SparkNotes“ kennengelernt, in denen, wie er sich ausdrückte, „hohe Literatur für Dümmere zusammengefasst wird“. Für unsere Petrus-Brief-Worte könnte der Eintrag lauten: „Verlasst die Kirche nicht. Sie ist das gottgewollte Haus, in dem ihr mit Jesus zusammen seid.“

Dumm ist das nicht. Und man kann es sich merken.

Was fehlt, merken Sie selbst. Allerdings hat diese Kürzung auch Vorteile: In der Zusammenfassung fehlen dann auch zum Beispiel die Sätze, die das christlich-jüdische Gespräch belasten.

Und doch wissen alle: Der gute Ausgang eines Gesprächs entscheidet sich nicht an seinem Gegenstand, sondern an den Menschen, die dies Gespräch führen. Gut ist es, wenn diese Menschen geübt darin sind, die Perspektiven zu wechseln. Wenn sie die große Distanz eintauschen können gegen das Eintauchen, wenn sie genau überlegen und nachforschen können und gleichzeitig wissen, dass keine Genauigkeit die Macht der Gefühle wird bannen können, die Worte in uns auslösen.

Dafür sind diese Worte des Petrus-Briefs ein schönes Beispiel. Ein Bergsee. Kalt und blau, glitzernd, durchsichtig, von unbekannter Tiefe, ein Spiegel, sehr alt. Wie ein kostbarer Stein liegt er im Licht dieses Sonntags.

Amen.

 

Perikope
27.07.2014
2,2-10