Predigt zu 1. Thessalonicher 5,1-6 von Matthias Wolfes
5,1-6

Leben im Licht des kommenden Tages – Predigt zu 1. Thessalonicher 5, 1-6 von Matthias Wolfes

 

„Von den Zeiten aber und Stunden, liebe Brüder, ist nicht not euch zu schreiben; denn ihr selbst wisset gewiß, daß der Tag des HERRN wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Denn sie werden sagen: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, so wird sie das Verderben schnell überfallen, gleichwie der Schmerz ein schwangeres Weib, und werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife. Ihr seid allzumal Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasset uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein.“ (Jubiläumsbibel 1912)

 

 

Liebe Gemeinde,

 

„wachsam und nüchtern“ – diese Worte begegnen im Neuen Testament als Mahnung an die Christen mehrmals. Dabei wird immer wieder deutlich, daß es sich um eine Maxime handelt, unter der das ganze Leben stehen soll, so kurz der Zeitraum auch sein mag, der bis zum Eintritt des Endes noch vergehen wird. Im 1. Petrusbrief etwa sagt der Verfasser: „Seid wachsam und nüchtern, werdet nicht müde zu beten. Vor allen Dingen aber habt untereinander eine inbrünstige Liebe; denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge. Seid gastfrei untereinander ohne Murren. Und dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes“ (1. Ptr 4, 8-10).

In unserem Text aus dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki ist die Erwartung des nahen Endes, des unmittelbar bevorstehenden Anbruches der Neuen Zeit noch deutlicher ausgesprochen. Paulus will gar nicht „von den Zeiten und Stunden“ sprechen; es sei „nicht not“ davon zu schreiben; denn jeder, das heißt: jeder Gläubige, wisse ja, daß „der Tag des HERRN kommen werde wie ein Dieb in der Nacht“. Dies ist das Bild für die Plötzlichkeit, mit der jene Neue Zeit hereinbrechen wird. Es bleibt nichts anderes übrig, als immer und in jedem Augenblick darauf gefaßt zu sein.

 

 

I.

 

Auch die Rede vom „Dieb in der Nacht“ findet sich in den neutestamentlichen Schriften mehrfach. Drastisch wird eingeschärft, worum es geht. So heißt es im 2. Petrusbrief: „Es wird aber des HERRN Tag kommen wie ein Dieb in der Nacht, an welchem die Himmel zergehen werden mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden verbrennen“ (2. Ptr 3, 10). Und ebenso lautet die Mahnung zur Wachsamkeit im Schlußabschnitt des Matthäusevangeliums: „Darum wachet, denn ihr wisset nicht, welche Stunde euer HERR kommen wird. Das sollt ihr aber wissen: Wenn der Hausvater wüßte, welche Stunde der Dieb kommen wollte, so würde er ja wachen und nicht in sein Haus brechen lassen. Darum seid ihr auch bereit; denn des Menschen Sohn wird kommen zu einer Stunde, da ihr’s nicht meinet“ (Mt 24, 42-44).

Diese ur- oder frühchristliche Naherwartung hat sich im buchstäblichen Sinne nicht bewahrheitet. Zweitausend Jahre sind seither vergangen, und die Erde besteht noch immer, ebenso wie die Erwartung des Endes der Zeiten, eingeleitet durch die Wiederkunft des erhöhten Herrn. Aber worum handelt es sich denn eigentlich bei dieser vielbesprochenen „Naherwartung“? Was ist der Kern, worin besteht die Haltung, die von dieser Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Endes bestimmt ist?

Es geht eben tatsächlich um eine Haltung. Es geht, wie bei allen Dingen des Glaubens, um eine Einstellung zur Welt und zu sich selbst. Und diese Haltung ist mit dem Leitmotiv „Nüchtern und wachsam sein“ bestimmt. Nicht die zeitliche Dimension ist also das Entscheidende, sondern die Art und Weise, wie der Gläubige sich zu der Welt, in der er steht – und sei es noch so vorläufig –, verhält. Darüber möchte ich sprechen, denn es gibt durchaus einiges, was die Devise „Seid nüchtern und wachsam“ auch für uns wichtig sein läßt.

In den lutherischen Bibelausgaben wird unser Abschnitt mit der Überschrift „Leben im Licht des kommenden Tages“ versehen. Dabei ist nun aber nicht der „kommende Tag“ das, worum sich alles dreht, sondern das „Leben“, das heute stattfindet, jedoch im Vorschein, eben im „Licht“ dieser eintreffenden Zukunft. Es ist ein Leben auf eine Zukunft hin, nicht gefangen in einer jetzigen Gegenwart, auch nicht in einer vergangenen, sondern frei davon und insofern offen, ausgerichtet auf einen offenen Horizont.

So soll, nach diesen frühchristlichen Autoren, das christliche Leben sein. Es soll offen sein und frei, eben weil es auf einen offenen Horizont ausgerichtet ist. Sehen wir aber die Dinge so an, wie sie sind, dann müssen wir etwas anderes feststellen. Freiheit und Offenheit sind es nicht, die uns in die Augen fallen. Sie sind es weder in der Wahrnehmung unserer Mitmenschen und leider auch nicht, wenn wir es nur mit der Gemeinde zu tun haben. Vor allem aber müssen wir uns wohl eingestehen, daß es, was uns selbst betrifft, nicht weit her ist mit der christlichen Freiheit, daß vielmehr eine unselige Gebundenheit das Leben erstickt, daß wir Fixiertheit und Gewöhnung verwechseln mit Lebenssicherheit und daß uns nichts ferner liegt als jene Unvoreingenommenheit gegenüber dem Unkatalogisierten, die das wahre Zeichen von Freiheit ist.

Es gibt zwei Grundtypen der Lebensführung: zum einen den Typus der Aufrichtigkeit und des Bei-sich-selbst-Seins, zum anderen das Leben im Modus des Als-Ob. Mit dem Gegenüber, der Unverträglichkeit, dem Gegensatz beider haben wir es hier zu tun. Die neutestamentliche Mahnung fordert zu der wahrhaftigen und aufrichtigen Lebensweise auf und verwirft die andere. Die kompromißlose Entschiedenheit, aus der heraus die Autoren hier sprechen, ist aber eben auch dem Umstand geschuldet, daß die allermeisten Menschen sich lieber dem „Als-Ob“ verschreiben als jener Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Offenheit.

 

 

II.

 

Was man in einem Leben des Als-Ob nicht gewinnen kann, ist die Übereinstimmung mit sich selbst, das, was wir Identität nennen. Man bleibt ausgeliefert an ein Bild oder eine Mehrzahl von Bildern, die man sich von sich selbst und der Welt macht, in der man lebt. Das eigene Sein ist nichts anderes als eine Funktion dieser Bilder. Das Leben, das man lebt, ereignet sich im Gehäuse der Bildlichkeit. Fragt man sich dann, was man eigentlich tut, angesichts jeder wirklichen Geschichte, so bleibt letztlich nur die Erkenntnis, daß es Entwürfe zu einem Ich sind, aber nicht Ausdrucksformen des Ich, des Selbst-Seins selbst.

Das Leben im Modus des Als-Ob bleibt ein Schwindel. Die Ansprüche, die man an sich erhebt, bleiben uneingelöst. Sie sind nur Fassade, ein gezeichnetes Bild von sich, aber sie entsprechen der Person nicht, die sie erhebt. Was an diesem Modell überzeugt, sind nicht die Leistungen, nicht die Hervorbringungen im Umgang mit den anderen, sondern es ist nur die Rolle, die einer spielt. Es ist ein abgerichtetes Leben, eingezäunt in den Kontext der Entwürfe; für Wahrhaftigkeit aber ist kein Raum.

Ganz anders verhält es sich bei jenem Lebenskonzept, das die neutestamentlichen Autoren, und so auch der Apostel Paulus im 1. Thessalonicherbrief, vertreten. Hier geht es nicht um Selbstverwirklichung in der Auslieferung an ein bildgewordenes, fremdes Modell. Es geht vielmehr um Selbstwerdung und damit um die Identität als solche.

Der Christ, wie er hier vorgestellt wird, macht sich nicht frühere Zielvorgaben zum permanenten Maßstab, deren desillusionierender Wirkung er dann so fatal ausgesetzt wäre. Ihm kann es nicht gleichgültig sein, daß alle Entwürfe und Selbstprojektionen ihren eigenen biographischen Ort haben. Dort gehören sie auch hin, dort haben sie ihre Berechtigung und ihren Wert, aber nicht an die Spitzenstelle der Schreibtafel, auf der der Plan eines Leben formuliert wäre. Solche Pläne, die dann auch Fragen danach einschließen mögen, wo ich in fünf Jahren stehe, welcher „Job“ zu mir paßt oder wie meine Traumpartnerin aussieht, überhaupt auch danach, was „nun noch kommen soll“, werden nicht im voraus entworfen, nicht im Vorhinein des Lebens, sondern sie ergeben dessen Zusammenhang aus und mit ihm selbst.

 

 

III.

 

Man wird seines Glückes nicht teilhaftig, indem man plant, analysiert, berechnet und darin der gängigen Ziel- und Lösungsorientiertheit folgt. Das sagen einem allein schon Intelligenz und Kreativität. Und im übrigen kann man durchaus wissen, daß sich die Frage nach „Glück“ und gar die nach dem „Sinn des Lebens“ überhaupt nur dann beantworten lassen, wenn sie so gestellt werden, daß auch das Leben der anderen im Blick ist.

Alles dies ist es nicht, das den Christen bewegt. Weshalb sollte er nach einem „Sinn“ fragen, der sich doch von selbst ergibt? Solches Fragen ist ja auch immer ein Indiz von Mangelhaftigkeit und Abwesenheit. Man fragt nach dem Grund des eigenen Daseins, weil und sofern man sich seiner nicht sicher ist. Die Fundierung ist fraglich, weil man sich selbst fraglich ist.

Das Selbstbewußtsein eines Christen ist völlig anders gegründet. Es ist ein Bewußtsein, eine Gewißheit des Gegründetseins. Dieses Bewußtsein ist der Glaube selbst. Es ist der Glaube in seinem innersten Kern, in seiner seelischen Tiefe, und alle „positiven“ Formen und Gestalten, der gesamte Bestand an sprachgewordener Gegenständlichkeit, ist überhaupt nur insofern relevant, als er Ausdruck gibt von dieser Tiefe des gläubigen Herzens. Es ist ein freier Glaube, ein Glaube, der Freiheit schafft und selbst auf Freiheit beruht. Auch dogmatische Vorgaben und normative Sätze spielen dabei keine Rolle. Der Glaube als Weg und Wirklichkeit substantieller Freiheit – das ist es, wie im evangelischen Christentum Glaube verstanden und gelebt wird.

Für uns geht es beim Glauben um Selbstvergewisserung, um die Verankerung meines Selbstseins, meiner Identität. Es geht in meinem Glauben um meine Geschichte, meine Tradition und Kultur. Das „praktische“ Ziel für mich selbst und mein Leben ist dabei nicht, ein möglichst ertragreiches, ökonomisch überzeugendes Konzept zu verwirklichen. Wichtiger als die Handlungsvorsätze sind die Handlungen selbst; diese Einsicht ist es vor allem, die arme von reichen Seelen, getäuschte von täuschungsresistenten unterscheidet. Es geht darum, aus einem selbstbewußten Ich heraus den Erfahrungen des Undurchsichtigen und Schwierigen zu trotzen, in Mitmenschlichkeit und Güte standhaft zu bleiben, den Aufgaben und Verantwortungen gerecht zu werden (zum Beispiel als Vater, als Arbeitnehmer oder als Freund) und in all dem eben auch ein Zeugnis zu geben von dem Geist, der mich beseelt. Das ist nach christlichem Verständnis gelingendes Leben, das ist es, was „nüchtern und wachsam sein“ bedeutet.

Die Welt ist nicht so, wie sie uns versprochen wird. Aber, so unweigerlich sich auch die Enttäuschung einstellt, es bleibt, daß es die Möglichkeit eines andern Lebens gibt. Dieses andere Leben findet gleichfalls jetzt und hier statt: Augenblicke erfahrenen Vertrauens, des gelingenden Gesprächs, unbeeinträchtigen Zusammenseins. Momente des Glücks (oder der Gnade) sind es dem Christen auch, wenn sich ihm jemand aus seiner Seele heraus öffnet. In der Begegnung ist er er selbst, in dem Bewußtsein, das Seine mit anderen zu verbinden und darin als der, der er ist, wirklich zu sein. Doch die Voraussetzung oder der Boden, auf dem ihm solche Momente erwachsen, ist nicht die dabei entgegengebrachte Anerkennung als eine ihm vom Anderen gewährte Leistung, sondern eine Erfülltheit aus dem Zusammensein selbst, und darin erst ist es ein freies Miteinander.

Der Gläubige ist sich der Gegenwart Gottes bei und in ihm bewußt, der Wirklichkeit Gottes. Das ist meine Frömmigkeit; das ist Frömmigkeit, wie ich sie verstehe und verstehen will – wie wir sie verstehen und verstehen wollen, die wahre „Freudigkeit zu Gott“ (1. Joh 3, 21).

Der christliche Glaube ist uns so etwas wie die Liturgie des Lebens. Diese Liturgie, diesen Rahmen für das Ganze brauchen wir allerdings, und zwar nicht nur zu bestimmten Zeiten, bei biographischen Höhepunkten und in Krisenzeiten, zu einzelnen jahreszeitlichen Anlässen (etwa zu Weihnachten) oder gar als rituelle Begleitung oder Untermalung dessen, was sonst noch stattfindet und worin unser Leben eigentlich besteht. Sie ist nicht nur Ornament, sondern eben wirklich ein Rahmen, ein Orientierungsrahmen, eine Horizontbestimmung, die in ihrer Färbung, eben als eine Art Stimmung, alles durchdringt und bestimmt. Andere Menschen haben einen derartigen Rahmen aus anderen religiösen oder weltanschaulichen Bezugssystemen; das ist anzuerkennen und nicht weiter zu beurteilen. Ich und wir aber haben ihn aus unserem Glauben, aus unserem Vertrauen auf Gottes Sein in meinem, in unserem eigenen Dasein.

Als Glaubender spreche ich: Mein Glück, meine Freude, meine Zuversicht, mein Halt und Trost und meine Kraft liegen in Gott. Er nimmt seine Nähe nicht von mir.

Darin bin ich mir meiner gewiß. Darin bin ich der, der ich bin; darin bin ich ich selbst. „Identität“ heißt für den Christen: Ich bin der, der ich bin, weil es zur Wirklichkeit Gottes gehört, daß ich dieser bin (oder: „weil er es so will“). Er hat mich in die Welt gesetzt; er erhält mich. Das christliche Bekenntnis ist zugleich das Bekenntnis zu mir selbst. Ich erlebe seine Nähe. Ich fühle sein sicheres Geleit und seine tragende Hand. Ich bin ich als der, der zu sein er mich in die Welt gesetzt hat. Das ist das Bewußtsein, das ich von mir selbst habe.

Ich bin dieser aus Gott.

Amen.

 

 

Verwendete Medien:

Traugott Holtz: Der erste Brief an die Thessalonicher (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band XIII), Zürich / Einsiedeln / Köln und Neukirchen-Vluyn 1986.

Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Roman, Frankfurt am Main 1964.

Perikope