Predigt zu 1.Petr 1, 13.18-21 von Gerlinde Feine
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Predigt zu 1.Petr 1, 13.18-21 von Gerlinde Feine

Man kennt sie als Schwabenkinder. Dabei kamen sie aus Tirol, aus Vorarlberg und aus Graubünden. Mitte März, wenn der Schnee im Rheintal schmolz und die Pässe wieder passierbar waren, kamen sie zu Hunderten nach Oberschwaben und ins Allgäu, Kinder, gerade alt genug, um im Stall oder auf der Weide auszuhelfen, aber doch viel zu klein, um monatelang getrennt von ihren Familien zu leben. Am Ende der Reise, in Kempten oder in Ravensburg, entschied sich ihr Schicksal für die kommenden Monate, feilschten die Großbauern um die besten Hütebuben und drückten den Preis für die billigen Arbeitskräfte in Haus und Hof. Das wenige Geld bekamen die notleidenden Familien zuhause in den Bergen, die Kinder hofften auf ein neues Gewand und ausreichend Essen während des Sommers. Zwischen 7 und Jahren waren die jüngsten derer, die da Jahr für Jahr nach Deutschland geschickt wurden, von der Schulpflicht selbstredend befreit (im Gegensatz zu den Kindern ihrer Arbeitgeber) und ohne Schutz vor den Übergriffen ihrer Dienstherren (und wehe dem Mädchen, das im Herbst schwanger zurückkehrte). Und dieser Kinderhandel ging über Jahrhunderte und ist noch gar nicht so lange her: Offiziell endete er 1933, aber noch in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es „Schwabenkinder“ in Süddeutschland.
(Hier könnten O-Töne von „Schwabenkindern“ erklingen, vgl. Konfi-Impulse zum Predigttext: http://predigten.evangelisch.de/predigt/konfi-impulse-zu-1-petrus-1-1318...)
Nicht selten waren es Priester, die diese Kinderarbeit vermittelten. Ihr Motiv war ehrenwert – die Not der Bergbauern, die ihre Familien allein nicht ernähren konnten, wollten sie auf diese Weise lindern. Daß die Kinder am Ende des Sommers ein Zeugnis mitbringen sollten, auch in der Fremde jeden Sonntag beim Gottesdienst gewesen zu sein, war wohl auch zu ihrem Schutz gedacht – so konnte der Priester dort ein wenig auf sie achten. Doch es waren zu viele, und die Macht ihrer Herren war kaum begrenzt. Wie mag das diese Kinder geformt haben, die Not, die Einsamkeit und das Heimweh? Ist es nicht verständlich, daß sie als Erwachsene nicht nur gut über das Land dachten, in dem sie ihre Kindheit hinter sich lassen mußten? Daß sie die Schatten jener Zeit nie ganz los geworden sind, jener Jahre, in denen sie unfrei waren, verkauft um Gold und Silber? Daß sie nie vergessen haben, wie sie mit ihrer eigenen kleinen Kraft Eltern und Geschwister freigekauft haben um ein paar Groschen Arbeitslohn? Wie mögen sie sich gefühlt haben am Ende des Sommers, wenn es wieder nach Hause ging und sie sich endlich frei fühlen konnten? Was haben sie gedacht über ihre Dienstherrschaft, die für die eigenen Kinder besorgt war um eine gute Ausbildung, um christliche Erziehung und ein Leben in Freiheit und Würde – und ihnen selbst das alles vorenthielt? Mit welcher Haltung gingen sie durchs Leben? Sah man es schon ihren Schritten an, daß sie als Kinder Mägde gewesen waren und Knechte? Oder hatten sie sich ihre Würde bewahrt, hatten sie sich ihre Selbstachtung nicht brechen lassen? Haben sie vielleicht die Verhältnisse umgedreht, waren sie es nun, die die mit stolzen Schritten über ihren Hof gingen und andere beherrschten? Oder liessen sie sich treiben, ergaben sie sich in das, was wohl schon immer so war und stets so bleiben würde? Manche sagen, sie seien eben früher erwachsen geworden, selbstbewusst und zäh, weil sie sich durchgekämpft hatten. Man hätte es ihnen noch nach Jahren angesehen an ihrer Haltung und an ihrem Gang, daß sie früh schon viel Lebenserfahrung hätten sammeln müssen und dadurch stärker geworden seien.
(Hier schlagen die Konfi-Impulse als Anschauungsbeispiel den „Laufsteg“ vor; vgl. http://predigten.evangelisch.de/predigt/konfi-impulse-zu-1-petrus-1-1318...)
„Was prägt euer Leben?“ fragt der Verfasser des 1.Petrus und gibt gleich selbst die Antwort: . „Doch nicht das, was euch niederdrückt und klein macht. Das habt ihr doch nicht nötig. Macht euch auf – umgürtet die Lenden eures Gemüts – setzt eure Hoffnung auf Christus. Der macht euch frei.“ Ausführlich begründet er das, mit Bildern, die uns heute nicht mehr geläufig sind, weil wir vom Jerusalemer Tempel nur noch die Klagemauer kennen. Doch bis zur Zerstörung des Heiligtums im Jahr 70 nach Christus wurden dort täglich, morgens und abends, besonders ausgesuchte Lämmer geschlachtet („unschuldig und unbefleckt“), um damit das Volk Israel von der Sünde loszukaufen und Gott genehm zu machen. So haben die Menschen sich das damals vorgestellt. Als einen ständigen Kreislauf von Schuldig werden, Buße tun, um Gnade bitten, ein blutiges Ritual vollziehen, um wieder rein zu werden und weiterzugehen und schuldig zu werden und… So ging es seit alters her, das war der „nutzlose Wandel nach der Väter Weise“, bei dem jede Tat ihre Folge hat, sich aber am Verhalten nichts ändert. Immer wieder loskaufen – und doch nicht frei werden. Tiere opfern, Almosen geben, Erlassjahr feiern, die Schuldsklaven freilassen – und dann wieder weitermachen mit Profit um jeden Preis, mit Gewinnstreben, das die Kluft zwischen Arm und Reich wieder aufgehen läßt, bei dem die einen profitieren und die anderen wieder betteln müssen und sich verkaufen mit Haut und Haaren, um ihre Familien durchzubringen. Eine Spirale, die immer schneller immer enger läuft und alles mit sich reißt, da können auch die Opfer im Tempel nichts ändern, daß alles wieder so wird, wie es immer schon war, daß alles wieder seinen gewohnten, trostlosen Gang geht.
„Wir können daran nichts ändern.“ Das wußten auch die Menschen, die den Predigttext als erste gelesen haben. „Aber Gott kann das. Und er hat es getan.“ Daran erinnert sie der Brief: „Ihr seid freie Menschen, auch wenn ihr in Unfreiheit lebt. Gott will diese Rituale nicht, bei denen sich nichts ändert, weil sie nichts bewirken. Darum hat er Christus in die Welt gesandt, und der hat diesem Kreislauf ein Ende gesetzt. Also – was prägt jetzt noch euer Leben anderes als die Hoffnung auf ihn und das Vertrauen auf Gottes Nähe?“ Wer zu Christus gehört, ist innerlich frei, auch wenn ihn viele Dinge zwingen. Wer innerlich frei ist, lebt anders, geht anders, handelt und redet anders als die, die in ihrem Denken und Tun noch festhängen an alten Mustern und Überzeugungen. Daran erinnert der Verfasser des 1.Petrusbriefs die Menschen in seiner Gemeinde und ermutigt sie zu einer veränderten Haltung: „Es kommt auf eure innere Einstellung an. Lasst euch nicht wieder einfangen von den Werten und Gewohnheiten, die euch in diese Spirale der Unfreiheit führen. Bewahrt Haltung – und haltet an eurer Hoffnung fest!“
Leicht gesagt?!? Bestimmt nicht. Die Zeiten damals waren viel härter als unsere; die Menschen erfuhren am eigenen Leib, was es hieß, gebunden zu sein, gefangen, verraten und verkauft wie die Schwabenkinder, die genau wussten, daß sie sich für ihre Familien opferten. Doch auch unter uns gibt es Menschen, die sich gefangen fühlen aus Pflicht und Gehorsam, vielleicht auch aus Leichtsinn und Pech, die in Zwängen leben und nicht mehr ein noch aus wissen -  und auch wenn diese Form der Unfreiheit schwerer zu erkennen ist, sind die Folgen doch ganz ähnlich.
Leicht getan?!? Wer weiß… - Es gibt diesen Text von Dietrich Bonhoeffer aus der Gefangenschaft, in dem er beschreibt, wie ihn seine Mitgefangenen sehen und wie er selbst sich erlebt:
Wer bin ich? Sie sagen mit oft,
  ich träte aus meiner Zelle
  gelassen und heiter und fest
  wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
  
  Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
  ich spräche mit meinen Bewachern
  frei und freundlich und klar,
  als hätte ich zu gebieten.
  
  Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
  ich trüge die Tage des Unglücks
  gleichmütig, lächelnd und stolz,
  wie einer, der Siegen gewohnt ist.
  
  
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
  Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
  Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
  ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
  hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
  dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
  zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
  umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
  ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
  müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
  matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
  
  
Wer bin ich? Der oder jener?
  Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
  Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
  und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
  Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
  das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
  
  Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
  Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Liebe Gemeinde, vielleicht ist es genau das, was der 1.Petrusbrief meint, wenn er an die innere Haltung der Christinnen und Christen appelliert und sie auffordert, so zu leben, zu gehen und zu handeln, daß man ihnen ihre Hoffnung abspürt. Frei und aufrecht, „gelassen, heiter und fest“, ungebeugt und voller Würde – als Gefangene und doch frei, weil sie wissen, daß Gold und Silber vergehen. Weil sie wissen,  daß auch die Mächtigen dieser Welt sterben müssen und nicht das letzte Wort haben über ihr Leben. Weil sie wissen, daß Christus sie frei macht.
Klar, daß man diesen Gang erst üben muß wie die Models das richtige Schreiten über den Laufsteg. Gut möglich, daß er nicht auf Anhieb gelingt, daß wir ins Stolpern kommen und uns aufhelfen lassen müssen. Schön, wenn wir uns gegenseitig unterstützen und notfalls korrigieren. Unverzichtbar, daß wir andere ermutigen und vor dem Aufgeben bewahren, auch durch konkrete Schritte, durch aktives und beharrliches Eintreten für die Rechte der Schwachen, der Kinder, der Ausgebeuteten. Das Wichtigste aber ist die „Wegzehrung“ für den Gang in die Freiheit. Wer im biblischen Sprechen ein wenig zuhause ist, hat es schon gemerkt, daß unser Predigttext auch auf das Abendmahl anspielt, auf die Feier der Vergebung und der Gemeinschaft, der Liebe Gottes zu uns und der Zuwendung zu einander. Wer frei sein will, muß loslassen können – die bösen Erinnerungen und die Vorwürfe, die Angst und die Wut und den Zorn. „Christi Blut, für uns vergossen“, sagen wir beim Abendmahl: „Gottes Lamm, erbarm dich über uns!“ Und Christus lädt uns alle ein an seinen Tisch, stärkt und nährt uns für den schweren, schönen Weg in die Freiheit:
Darum umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi. Denn ihr wißt, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise, sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes. Er ist zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt wurde, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen, die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn auferweckt hat von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung zu Gott habt. Amen.
Perikope
Datum 11.03.2012
Bibelbuch: 1. Petrus
Kapitel / Verse: 1,13
Wochenlied: 82 96
Wochenspruch: Lk 9,62