Predigt zu 2. Korinther 12, 1-10 von Ulrike Voigt
12,1
Liebe Gemeinde,
  
  sicher ist jede und jeder von uns schon einmal einem richtigen Angeber begegnet. Alles, was ein solcher Mensch über sich erzählt, dient weniger der sachlichen Information, sondern vielmehr der Selbstdarstellung, dem Prahlen mit der eigenen Leistung, mit dem Ziel, andere zu beeindrucken und so gegebenenfalls mehr Ansehen und Einfluss zu erreichen, sich von den anderen abzuheben oder einfach festzustellen, was für ein toller Hecht man ist. In einem früheren Fernseh-Werbespot einer Bank wirft solch ein Mann bei einem Treffen mit einem Bekannten Fotos auf den Tisch mit den lässigen Worten „mein Haus, mein Auto, meine Yacht“ – und setzte damit Angeberei eindrücklich ins Bild. Ekelhaft, solche Typen, würde man spontan sagen.
  
  Aber Vorsicht. Zwar sind die meisten Menschen zum Glück keine Angeber, und auch nicht viele haben es nötig, sich auf welche Art auch immer einen Titel zu beschaffen, der bei Freunden und Feinden Eindruck macht, oder sich Designerkleidung und tolle Autos günstiger geben zu lassen, um daraus abzuleiten, wie toll und wichtig man ist.
  
  Aber dass man heute im Alltagsleben normalerweise zeigen muss, was man zu bieten hat, und das auf allen Gebieten, das kennen wir alle. Früher hat man den Kindern noch beigebracht: „Eigenlob stinkt“ – in vielen Bereichen ist das aber heute ganz normal geworden, ja sogar unverzichtbar: „Klappern gehört zum Handwerk“, heißt das. Man bekommt nur dann einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, wenn die Bewerbungsmappe oder das Reife- und Abiturszeugnis super ist. Jede noch so kleine Fort- und Weiterbildung muss durch ein Zeugnis dokumentiert sein, damit man etwas vorweisen kann. Wenn man einfach seine Arbeit gut macht und nicht viel Aufhebens von sich macht, dann merkt es vielleicht keiner der Vorgesetzten. Es empfiehlt sich nicht, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Die eigenen Stärken sollte man hervorkehren, selbst wenn es gar keine sind. Niemand prahlt mit seinen Schwächen! Und niemand will freiwillig schwach sein. Die Schwachen sind immer in Gefahr, unterzugehen: Die Interessen der Stärkeren setzen sich durch. Das ist die „natürliche“ Rangordnung von Stärke und Schwäche, die auch in der Natur gilt, wie es Darwin in der Evolutionstheorie beschrieben hat. Schwäche wird im Alltag vertuscht, man will sie nicht zeigen, sie nicht offenbart wissen. Man möchte sie möglichst schnell überwinden, um wieder bei der großen Mehrheit mitmachen zu können, um nicht dumm aufzufallen. Das ist bei körperlicher Schwäche nicht viel anders als bei seelischer Schwäche oder beim Nicht-Erfüllen irgendwelcher Leistungskriterien. Auch die publik gewordenen Fälle von Depressionen aus dem Profi-Fußball sind ein beredtes Zeugnis dafür.
  
  Einen ganz anderen Umgang mit Stärken und Schwächen ist im heutigen Predigttext aus dem 2. Korintherbrief zu beobachten.
  
  Der Apostel Paulus stellt klar, dass er sein Vertrauen nicht auf seine eigene Stärke setzt, sondern sich in seiner Schwäche auf Gott verlässt. Ich lese den Text nach einer zeitgenössischen Übersetzung aus der Basis Bibel:
  
  Paulus ist stolz auf seine Schwäche
  
  12,1 Man muss wohl angeben, auch wenn es nichts bringt. Dann will ich jetzt auf Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn zu sprechen kommen.
  2 Ich weiß von einem Menschen, der zu Christus gehört. – Der wurde vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel emporgehoben. Ich weiß nicht, ob er sich dabei in seinem Körper befand. Genauso wenig weiß ich, ob er außerhalb seines Körpers war. Gott allein weiß es!
  3 Ich weiß, was mit diesem Menschen geschah. Wie gesagt: Ob es mitsamt seinem Körper geschah oder ohne seinen Körper, weiß ich nicht. Das weiß nur Gott allein.
  4 Ich weiß aber, dass er in das Paradies emporgehoben wurde. Dort hörte er unsagbare Worte, die kein Mensch aussprechen darf.
  5 Im Hinblick auf diesen Menschen will ich angeben. Aber im Hinblick auf mich selbst kann ich nur mit meiner Schwäche angeben.
  6 Wenn ich allerdings tatsächlich angeben wollte, würde ich mich damit noch nicht einmal zum Narren machen. Ich würde einfach nur die Wahrheit sagen.
  Ich verzichte aber darauf. Denn man soll mich nur nach dem beurteilen, was man direkt von mir sieht oder hört – 7 auch wenn diese Offenbarungen wirklich außergewöhnlich sind.
  Aber damit ich mir nichts darauf einbilde, ließ Gott meinen Körper mit einem Stachel durchbohren. Ein Engel des Satans darf mich mit Fäusten schlagen, damit ich wirklich nicht überheblich werde.
  8 Dreimal habe ich deswegen zum Herrn gebetet, ihn wegzunehmen.
  9 Aber der Herr hat zu mir gesagt: "Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Denn meine Kraft kommt gerade in der Schwäche voll zur Geltung." Ich gebe also gerne mit meiner Schwäche an. Denn dann kann die Kraft von Christus bei mir einziehen.
  10 Deshalb freue ich mich über meine Schwäche – über Misshandlung, Not, Verfolgung und Verzweiflung. Ich erleide das alles für diese Kraft von Christus. Denn nur wenn ich schwach bin, bin ich wirklich stark.
  
  
  Paulus war der Gründer der Gemeinde in Korinth, an die er schreibt. Mit dem ersten Korintherbrief hatte er auf Probleme und Missstände in dieser Gemeinde reagiert, schließlich hatte er die Gemeinde noch einmal persönlich besucht. Dabei muss es ziemlich turbulent zugegangen sein: er war von einem Gemeindeglied heftig angegriffen und beleidigt worden. Eine Gruppe von judenchristlichen Missionaren, die Paulus als „Überapostel“ oder „außergewöhnliche Apostel“ bezeichnet, stiftete Unruhe in der Gemeinde und machte Paulus schlecht: er sei kein richtiger Apostel, er sei in seinen Briefen zwar wortgewaltig, aber im persönlichen Auftreten schwach. Die von Paulus erwarteten Empfehlungsschreiben von anderen Aposteln oder beeindruckenden Geistesgaben suchte man vergeblich. Und dass Paulus auf sein Recht verzichtete, von der Gemeinde finanziert zu werden, dagegen seinen Lebensunterhalt lieber selbst verdiente, das warfen sie ihm auch vor. (Einer, der angegriffen wurde, weil er kein Geld wollte – das ist ebenfalls selten.) Ein Verkündiger, der musste stark auftreten und großen Eindruck machen, er musste etwas darstellen, er musste auch etwas kosten. Nur dann konnte man ihm auch abnehmen, was er verkündete.
  
  Also lässt Paulus sich hier scheinbar darauf ein, anzugeben, auch wenn er gleich dazu sagt, dass es nichts bringt und er sich damit wie ein Narr aufführt. Paulus erzählt zwei Begebenheiten aus seinem Leben, er spricht zunächst von sich in der dritten Person und etwas geheimnisvoll. Er muss vierzehn Jahre zuvor überwältigende Gotteserfahrungen gemacht haben, bei denen ihm außerordentliche Erlebnisse zuteil wurden – er wurde ins Paradies emporgehoben und hörte unaussprechliche, unsagbare Worte. Wir kennen ähnliche Schilderungen solcher Erfahrungen und Visionen aus Berichten von Mystikern und Mystikerinnen. Paulus könnte mit diesen besonderen Gotteserfahrungen, die er vielen voraus hat, angeben und sich dieser Erlebnisse rühmen. Viele würden sich wohl um ihn sammeln, um Anteil daran zu haben, um von ihm in eine ganz besondere Spiritualität eingeführt zu werden.
  
  Aber: Paulus, der sich vieler Eigenschaften und Errungenschaften in seinem Leben zu Recht rühmen könnte, tut es gerade nicht, weil es nichts bringt, wie er sagt. Er rühmt sich stattdessen lieber seiner Schwachheit. Ungewöhnlich für damalige Ohren, ungewöhnlich für unsere heutigen Ohren: Schwäche als etwas, das herausgestellt wird. Wir kennen das höchstens so, dass jemand mit seiner Schwäche kokettiert, also seine Schwäche als Stärke ausgibt oder darüber Mitleid und Zuwendung erwartet. Doch so ist das bei Paulus nicht gemeint! Und nun berichtet er noch ein Zweites aus seiner Biographie. Gott hat ihm einen „Stachel ins Fleisch gebohrt“, oder, wie Luther übersetzte: „Pfahl im Fleisch“ zugemutet, oder in anderen Worten: einen Engel des Satans, der ihn mit den Fäusten schlägt. Das ist eine unschöne Vorstellung, ja ein brutales Bild!
  
  Was dieser Stachel, dieser Pfahl, gewesen sein könnte, darüber haben sich unzählige Ausleger seit 2000 Jahren den Kopf zerbrochen. Der Pfahl im Fleisch erinnert an eine besonders schreckliche Art der Todesstrafe, die bis in die frühe Neuzeit üblich war und auch heute noch leider in manchen Ländern gebräuchlich ist. Das Bild des Stachels erinnert an den Giftstachel eines Insekts oder den Stock eines antiken Viehtreibers, an dessen Spitze ein Stachel saß, mit dem er die Tiere antreiben konnte, was diese natürlich schmerzte. Viele Ausleger meinen daher, es sei mit diesem Bild eine schmerzhafte Krankheit angesprochen, zumal andere Briefstellen nahelegen, dass Paulus an einer Augenkrankheit gelitten hat oder körperlich schwach war, auch Rheuma, Arthrose oder Epilepsie werden vermutet. Es kann sich aber auch um ein nicht-körperliches Leiden handeln, von dem hier die Rede ist: Paulus könnte eine für ihn sehr unangenehme und schmerzliche, durch persönliche Angriffe und körperliche Übergriffe entstandene Situation meinen. Damit könnte er auf die ständige Verfolgung seiner Person und Lehre durch andere jüdische Gruppen anspielen, wie er sie ja auch in Korinth gerade erst erlebt hatte.
  
  Wie auch immer, es war jedenfalls etwas, das Paulus in seiner Arbeit als Missionar für Gott massiv beeinträchtigte und das ihn sehr quälte. Er wollte es loswerden, denn er wollte noch mehr für Gott tun können. Dreimal hatte Paulus deshalb zu Gott geschrieen, um von dieser Qual befreit zu werden- aber sein Gebet wurde nicht erhört, jedenfalls nicht so, wie er es erwartet hatte. Als Reaktion auf dieses Gebet empfängt er von seinem Herrn das Wort, das die Jahreslosung für 2012 bildet: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
  
  Keine Befreiung von seinem Leiden hat Paulus durch seine Gebete erreicht, sondern eine direkte Zusage, dass Gott Paulus in seiner Schwäche Kraft geben würde. Dass Paulus nicht als Starker, als „Hans-Dampf in allen Gassen“, Gott dienen müsste, sondern dass Gott ihm nahe war gerade in seiner Schwäche. Paulus muss also akzeptieren, dass er mit dieser Situation weiter leben muss. Im Nachhinein deutet nun Paulus seinen Stachel als etwas, das ihn davon abhält, sich zu Unrecht seiner eigenen Leistungen oder Offenbarungen zu rühmen, und was ihn ganz auf Gottes Kraft hinweist. Ihm ist klar geworden: „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“
  
  Hier müssen wir noch einen Blick auf die Übersetzung des Verses werfen, der zur Jahreslosung gewählt wurde. Die geläufige Luther-Übersetzung der Jahreslosung: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen, also den schwachen Menschen, mächtig“ , stimmt nicht ganz mit dem griechischen Text überein. Da steht eigentlich nichts von schwachen Personen, wie es Luther nahelegt, sondern von Schwäche allgemein. Die beiden neuesten Übersetzungen, die Neue Genfer Übersetzung sowie die BasisBibel, übersetzen daher:
  
  „Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Denn meine Kraft kommt gerade in der Schwäche voll zur Geltung.“ (BasisBibel)
  
  Doch der Herr hat zu mir gesagt: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung. (Neue Genfer Übersetzung)
  
  Das ist schon eine bedeutsame Akzentverschiebung, denn damit stellt sich Gott nicht nur auf die Seite der Schwachen, sondern er erklärt gewissermaßen die Schwachheit zu seinem Prinzip. Das klingt absurd, denn Gott muss doch nach landläufiger Auffassung stark und mächtig sein!
  
  Aber der Gott Jesu Christi setzt nicht auf Macht oder Stärke! Gott kommt in der Schwachheit Jesu zu ihrem Ziel. Gott schenkt Leben, indem er selbst sein Leben lässt. Der lebendige Gott geht den unteren Weg. „Meine Kraft kommt in der Schwachheit zu ihrem Ziel“, sagt der auferstandene Christus zu Paulus. Es gibt wohl kein sprechenderes Zeichen für die Schwachheit Jesu als Folter und Kreuz. Kein Machtwort Gottes, das den Quälereien ein Ende gemacht hätte. Jesus musste durch Verzweiflung und Tod hindurch, und so kam Gottes Plan zu seinem Ziel.
  
  Paulus hat dies verstanden. Die Zusage Gottes ist ihm in seiner Verzweiflung zum Trost geworden. Und so zieht Paulus die paradoxe Folgerung aus seiner Schwachheit: „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ Das ist genauso absurd, wie sich seiner Schwachheit zu rühmen.
  
  Wegen solcher Aussagen zur Schwachheit hat der Philosoph Friedrich Nietzsche das böse Wort von der Sklavenmoral der Christen geprägt. Aber das ist ein verhängnisvolles Missverständnis. Es geht nicht darum, schwach sein zu wollen aus Prinzip, sich womöglich gehen zu lassen oder gar die Tyrannei der Schwachen zu probieren. Die Jahreslosung gibt keine Parolen vor, dass die Starken schwach werden müssen. Sie setzt einfach aus der eigenen Lebenserfahrung voraus, dass es Schwachheit gibt. Es geht um Menschen, denen aufgrund einer persönlichen Lebenskrise die eigene Kraft ausgeht oder abhanden kommt. Dafür ist dieses Wort ein persönlicher Zuspruch. Es verweist auf den Ort der wirklichen und nicht zerstörbaren Stärke: Gott. In einem alten Lied heißt es: „Nichts hab ich zu bringen, alles, Herr, bist du!“
  
  Dieses Eingeständnis fällt nicht leicht. Eine solche Schwachheit, wie sie Paulus erlebt hat, muss man zuerst einmal annehmen. Man muss akzeptieren, dass man selbst schwach ist, dass man alleine nicht weiterkommt, dass man Hilfe braucht. Man muss akzeptieren, dass alles, was man an eigener Weisheit, Kraft, Stärke und Erfolgserlebnissen vorzuweisen hat, nicht trägt. Das fällt sicher nicht leicht, weil – wie wir oben gesagt haben – in unserer Gesellschaft vor allem Stärken gefragt sind und wir auch uns selbst oft unsere Schwäche nicht gut eingestehen können. Die Zusage Gottes ist kein Wort, das uns aus unseren Schwachheiten befreien kann oder will. Es ist auch kein Wort, das unsere Welt einfach so überwinden könnte. Aber es ist ein tröstliches Wort, weil es Leben auch dort verheißungsvoll macht, wo es scheinbar klein, unwichtig und unbedeutsam erscheint. Wo mein Leben anscheinend auf der Verliererseite ist. Gott ist auch hier mittendrin, so sagt es uns der Apostel zu. Gott ist mittendrin in deiner Schwachheit. Bei ihm brauchst du nicht den dicken Max zu markieren, er liebt dich, so wie du bist, so hat er dich gewollt. Er liebt dich auch mit den drei Fünfern im Zeugnis oder wenn du arbeitslos, krank und kraftlos bist, den Erwartungen nicht entsprechen kannst und dich nutzlos fühlst.
  
  Paulus sagt das ganz überspitzt: „Ich gebe gerne mit meiner Schwäche an. Denn dann kann die Kraft von Christus in mir einziehen.“
  
  Ich habe vorhin ausgeführt, dass Paulus diese Erfahrung gemacht hat, weil ihm dieses Wort persönlich von Christus zugesprochen wurde in seiner schlimmen Lebenssituation. Dieser Spruch ist, wie ein anderer Ausleger sagt, „ein unter Schmerzen geborener Satz“. Daher ist die Jahreslosung genau deshalb auch ein schwieriges Wort. Es enthält kein Patentrezept zum Umgang mit Unglück, es beschreibt nicht die Grundhaltung, dass Christen auf Stärke verzichten sollten; es kann zu Missverständnissen und Brüskierungen führen, gerade auch in der Seelsorge. Ich würde mich davor scheuen, es jemand anderem zuzusagen, zu groß ist die Gefahr, herablassend zu wirken und den anderen, der eh im Schlamassel steckt, noch zu demütigen. Die Wirkung dieser Zusage ist sehr davon abhängig, wer in welcher Situation sie ausspricht. Denn es ist schwer, sich auf der Seite der Schwachen wiederzufinden. Die Frage nach dem Sinn von Schwäche und Leiden kann nicht jemand anderes beantworten, man kann dieses Wort nur für sich selbst durchbuchstabieren. Hilfreich ist es, auf die rückblickenden Erfahrungen zu hören, die andere damit gemacht haben. Ich möchte Ihnen daher nach dem, was wir bereits von Paulus gehört haben, noch zwei weitere Beispiele erzählen, wie dieses Wort im Leben von Menschen Bedeutung bekommen und gewirkt hat.
  
  Wie schwer es sein kann, dieses Wort anzunehmen, zeigt ein Bericht von der bekanntesten Theologin des 20. Jahrhunderts, Dorothee Sölle, die bekennt, dass sie dieses Bibelwort zunächst gehasst hat. Sie beschreibt die Zeit nach ihrer Ehescheidung, als ihr erster Mann sie und die drei gemeinsamen Kinder verlassen hatte. Dies war für sie die totale Katastrophe, die sie lange nicht akzeptieren oder bewältigen konnte, denn ihr gesamter Lebensentwurf schien ihr zerstört, alles, was sie gehofft, geglaubt und gewollt hatte, war vernichtet, wie sie selbst sagte. Sie wünschte sich entweder ihren Mann zurück oder wollte selbst sterben. Als sie in dieser Stimmung eines Tages in eine Kirche kam und zu Gott schrie, da wurde ihr dieses Wort gesagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen“, eben dieses Wort, das sie schon lange gehasst hatte. Sie beschreibt, dass sie dann aus der Kirche kam und nicht mehr darum betete, dass ihr Mann zurückkäme, und dass sie in der Größe eines Stecknadelkopfes angefangen habe, zu akzeptieren, dass dieser einen anderen Weg ging. Sie fühlte sich von Gott weniger getröstet als vielmehr wie Paulus „auf den Boden geworfen“. Und doch folgerte sie für sich: „Daß die Gnade tatsächlich ‚genügt‘ zum Leben und dass ‚nichts‘ uns scheiden kann von der Liebe Gottes, auch der eigene Tod nicht, das sind Erfahrungen, die wir nacherzählen, aber nicht im Plan, im Konstrukt vorwegnehmen können.“
  
  Ein zweites Beispiel, wie diese Jahreslosung in einem Leben sichtbar wurde, ist die Biographie von Margarethe Steiff, die diesen Spruch als Konfirmationsspruch bekam. Zwar konnte sie, gemessen an ihrer körperlichen Behinderung, mit ihren Näharbeiten große Erfolge erzielen und ein finanziell unabhängiges Leben führen, doch nagte der Konfirmationsspruch immer in ihrer Seele. Denn ihr Lebensplan, fröhlich mit Kindern zu leben und ihnen als Lehrerin beizubringen, was sie zum Leben brauchten, den musste sie aufgrund ihrer Behinderung endgültig begraben. Doch dann entstand mehr durch Zufall aus einem kleinen Weihnachtsgeschenk, einem kleinen Elefanten, den Margarethe Steiff ihren Kundinnen genäht hatte, eine Spielwarenproduktion, die mit dem „Knopf im Ohr“ bis heute für alle ein Begriff ist. Als die Firma immer größer wurde, wurde dieser Frau klar: Meine Hoffnung auf Heilung hat sich erfüllt, anders, als ich immer wollte. Ich kann unzähligen Kindern Freude bereiten, ich kann lehren, ich kann Not lindern. Und so hat sich der Konfirmationsspruch in ihrem Leben wunderbar bestätigt: Meine Kraft kommt in der Schwachheit zum Ziel.
  
  Und daher ist es so wichtig, dass Gott die Maßstäbe umkehrt: Gott ist nicht bei den Mächtigen und Starken, sondern gerade bei den Schwachen, in ihrer Schwachheit, und erfüllt sie mit seiner Stärke. Eigentlich muss die Kirche aus diesem Geist leben, sollten die Christen eine Gemeinschaft mit anderen Maßstäben bilden, nicht mit den Maßstäben der Leistungsgesellschaft und der Natur mit ihrem „Recht des Stärkeren“, sondern mit Gottes Maßstäben: Die Kirche kann dann – und wo sie es nicht ist, muss sie es werden – ein Ort sein, wo Schwäche keine Schande ist, wo Solidarität gilt, wo alle Platz haben, egal, ob sie schwach oder stark sind. Wenn Gottes Kraft und nicht Menschenkraft das Fundament ist, dann lässt sich gemeinsam erleben, wie Gott durch seine Kraft die Schwachheit zum Ziel bringt. Wenn wir uns unserer Schwächen nicht mehr schämen, sondern sie im Vertrauen auf Gottes Kraft miteinander teilen, dann kommt seine Kraft in uns zu ihrem Ziel. Darauf können wir uns verlassen.
  
  
  Literaturhinweis:
  
  Die beschriebene Szene von Dorothee Sölle ist komplett nachzulesen in:
  
  Dorothee Sölle, Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung… Stuttgart 1975, 39ff; oder in: Ulrike Voigt (Hg.): Du rührst die Saiten meiner Seele. Die großen Mystikerinnen – vom Mittelalter bis heute. Gnadenthal 2010, S. 228ff.
  
  Der Text über Margarethe Steiff von Landesbischof Frank Otfried July findet sich in:
  
  Christoph Morgner (Hrsg.): Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Das Lesebuch zur Jahreslosung 2012. Gießen 2011, 64ff.
Perikope