Liebe Gemeinde!
Die Frage des Paulus, ob sie - nämlich er und andere Apostel - etwa erneut anfingen, sich selbst zu empfehlen, kann nur rhetorisch gemeint sein (cf. Bernd Kuschnerus: Die Gemeinde als Brief Christi, 150ff). Denn er schreibt im gleichen Brief später (2 Kor 10,18): „Nicht wer sich selbst empfiehlt, gilt als bewährt, sondern wen der Herr (Kyrios) empfiehlt.“
Aber nicht die „Selbstempfehlung“ als solche wird als problematisch empfunden, sondern die Art und Weise sowie der Zusammenhang. So können sich Paulus und andere Apostel als Gründer der Gemeinde „empfehlen“, aber nicht in erster Linie aufgrund einer Qualifikation zu All-round-Talenten, sondern vielmehr auf Grund ihrer im wahrsten Sinne höheren Berufung in den Dienst an den ihnen anvertrauten Menschen. Worin kann ein solcher Dienst bestehen? Ich möchte Sie dazu anregen, zunächst darüber nachzudenken.
Es geht sicher nicht darum, dass Paulus (u.a.) bestimmte Empfehlungen bräuchte, etwa im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens, wie sie heutzutage auch im kirchlichen Raum längst üblich sind. Da entscheiden weniger „geistliche“ Qualitäten wie die Motivation zum Dienen, sondern eher Organisationstalent; Eignung für Leitungsfunktionen und Teamarbeit in einem; Professionalität bei Finanzierungen, insbesondere im Bauwesen, wirtschaftliches Denken im Allgemeinen; seelsorgliche, pädagogische, liturgische, weniger wissenschaftliche Kompetenz. Wenn jemand dies und noch mehr erfüllt, ist er oder sie als Geistlicher für heutige Gemeinden bzw. Presbyterien „empfehlenswert“.
Gespräche an den „Rändern“ der Kirchengemeinden zeigen mir, dass meist noch ganz andere Gaben im Umgang mit Menschen gefragt sind: Gemeinsame Vorbereitung auf die Taufe eines Kindes: Eltern, Familien, die in freudiger Erwartung sind; ähnlich die gemeinsame Planung einer Hochzeit im Kirchenraum. Beide Fälle erfordern die Gestaltung des Gottesdienstes im Einvernehmen mit den Beteiligten. Das Miteinander von Pfarrer und den Gemeindegliedern, die meiner Erfahrung nach selten zur Kerngemeinde gehören, beim Hausbesuch ermöglicht oft gegenseitiges Kennenlernen, schafft Gemeinschaft.
Selbst bei der gemeinsamen Vorbereitung einer Trauerfeier kann der Hausbesuch eine gewisse Nähe schaffen; allerdings ist der Teil, den der Geistliche übernimmt, in diesem Fall meist etwas größer. Die angetroffene Atmosphäre der Trauer bestimmt Art und Intensität des Umgangs. Zurückhaltung und behutsames, sensibles Einfühlungsvermögen sind gefordert.
Der Zeitfaktor bei den Hausbesuchen ist nicht zu unterschätzen. Der Dienstkalender eines Pfarrers sollte die Qualität seines Dienstes nicht beeinträchtigen. Andernfalls beraubt er sich der Möglichkeit authentischer, lebendiger Begegnungen mit Menschen. Pointiert gesagt: Geht es mir vorwiegend um das Abarbeiten von Amtshandlungen (ein schrecklich unpersönliches Wort!) oder die Abwicklung von Geschäften und Veranstaltungen, oder sind mir vorwiegend die Gemeindeglieder als solche wichtig? Man muss auch delegieren können!
Öfter als man vielleicht vermutet, ergeben sich bei der Begegnung mit Menschen „in ihren eigenen vier Wänden“ tiefgründige Fragen philosophischer oder theologischer Art, etwa zur Bibelauslegung oder zur heutigen Rolle der Kirche in der Gesellschaft. Mitunter wird auch „traditioneller Glaube“ dem individuellen Ringen nach geistiger, religiöser Orientierung kritisch gegenübergestellt. Es geht eben um weit mehr als die formale Planung und Organisation einer kirchlichen Veranstaltung. Je persönlicher die Vorbereitungen sich gestalten, desto lebendiger, feierlicher und authentischer werden die Gottesdienste sein.
Ich habe manchmal den Eindruck gewonnen, dass ehrenamtlich Dienende in der Gemeinde oftmals mehr Nähe bei ihren Begegnungen mit Menschen entwickeln als Hauptamtliche, das Pfarrkollegium inklusive. Vermutlich liegt das u.a. an dem überberstenden Terminkalender. Andererseits sind Offenheit und Nähe sicher auch von Veranlagung, Begabung, persönlicher Entwicklung des Engagierten abhängig; nicht jeder sucht das Gespräch.
Ich behaupte einmal, dass die Art der Gemeinschaft, wie sie sich bei Hausbesuchen durchaus entwickeln kann, etwas Lebendigeres ist als die Gemeinsamkeit, die Sonntag für Sonntag in einem Gottesdienst erfahren wird. Trotz Reformbestrebungen kranken diese Veranstaltungen immer noch an ihrer mangelhaften Annäherung an einen Sprachgebrauch, wie er andernorts auf unterschiedliche Weise geübt wird: Sei es Alltagssprache oder gehobener Sprachgebrauch, sei es Poesie, Literatur, Sprachgebrauch in den Medien oder Wissenschaftsjargon - die in den Gottesdiensten und oft auch bei Amtshandlungen gepflegte Sprache fällt aus dem Rahmen.
Theoretisch ließe sich auch der Standpunkt vertreten, die Sprache geistlicher Veranstaltungen sei einer Fachsprache vergleichbar und müsse daher ihren besonderen Charakter wahren. Wenn sich für dieses Verständnis eine Mehrheit fände oder dies einfach weiterhin praktiziert würde, bliebe die Kerngemeinde im Großen und Ganzen isoliert. Sie ließe sich dann auch die Chance der inhaltlichen, religiösen, kulturellen Weiterentwicklung entgehen.
Viele Mitglieder der Kerngemeinde „fühlen sich wohl“ in dem gewohnten liturgischen Ablauf, möchten auch den üblichen Sprachgebrauch nicht missen, andere aber sind aufgeschlossen auch gegenüber Änderungen, die den Ablauf etwas auflockern, lebendiger gestalten lassen.
Ich finde es hochinteressant und gleichermaßen sehr gewagt, wie Paulus in seinem Zweiten Brief an die Gemeinde zu Korinth dieselbe charakterisiert und sich und anderen Aposteln dabei selbst ein tüchtiges Lob erteilt (2 Kor 3,2-3; cf. Menge-Bibel; Thomas Schmeller: EKK VIII/1, S. 169; zur Auslegung, cf. op.cit., 175-181):
Unser Empfehlungsbrief seid ihr, eingeschrieben in unser Herz, erkannt und gelesen von allen Menschen; ihr seid erkennbar als Brief Christi, dem unser Dienst gilt, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf Herzenstafeln von Fleisch.
Danach ließe sich die Qualität des Aposteldienstes an der Qualität der Gemeinde ablesen. Befähigung, Profil, Wesensmerkmal, Bedeutung beider wären gegenseitig transparent oder würden einander widerspiegeln (cf. Kuschnerus: Die Gemeinde als Brief Christi, 153-159). Darüber hinaus wird das Verhältnis des Apostels zur Gemeinde als Herzensangelegenheit, also als eine tiefere Beziehung beschrieben.
„Christus“ als Maßstab sowohl für die Legitimation des Paulus wie auch für den Grund des Bekanntwerdens der Gemeinde ist sehr hoch angesetzt, wobei dieses Kriterium an der Stelle inhaltlich unspezifisch bleibt. Stattdessen setzt Paulus seine Ausführungen mit merkwürdig anmutenden polarisierenden Metaphern fort: „Schreiben mit Tinte“ - „Schreiben mit dem Geist des lebendigen Gottes“; eine Gegenüberstellung, die in der Bibel sonst nicht zu finden ist (cf. Schmeller, 179). Und Schreiben „auf steinerne Tafeln“ - „Schreiben auf Herzenstafeln von Fleisch“. Mit der letzten Polarisierung bereitet der Apostel eine Argumentation vor, die er mit Hilfe einiger Anspielungen an die hebräische Bibel verknüpft (cf. Schmeller, 180f).
Aber zunächst beteuert er (mit anderen Aposteln) sein Gottvertrauen darauf, dass seine (und ihre) Befähigung zum Dienst aus „Gott“ käme; dazu gehöre auch die geistliche Einschätzung. Paulus geht dann einen entscheidenden Schritt weiter (2 Kor 3,6): Gott habe sie befähigt
„zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“
Mit der berühmten, sprichwörtlichen, thesenhaften Aussage hat Paulus vielen Auslegern der Alten Kirche (wie Augustinus), der Reformation (wie Luther) und modernen Kommentatoren heftige Kopfschmerzen bereitet und mitunter zu verhängnisvollen Fehlschlüssen verleitet.
Dieser Satz (V. 6) „ist einer der schwierigsten und umstrittensten“ im zweiten Brief an die Korinther (Schmeller, 183-190: 184; Scott J. Hafemann: Paul, Moses, and the History of Israel, 1). Die in der Wirkungsgeschichte später dogmatisch gedeutete Aussage des Paulus ist aber in einen biographischen Zusammenhang eingebettet. Es geht nicht mehr darum, wie er sich selbst einschätzt, sondern um die Erfahrung seiner Berufung in den Dienst. Es scheint allerdings, als müsse er diese Berufung zum Dienst vor seinen Gegnern rechtfertigen bzw. verteidigen. Zumindest verwendet er in seinem Brief häufig Ausdrücke aus dem Wortfeld „dienen“ (cf. Schmeller, 183).
Viele Ausleger versuchen, die nahezu polemisch wirkenden Antithesen (Polarisierungen), die Paulus im Brief verwendet, aus einer dauerhaften Auseinandersetzung mit gewissen Gegnern zu erklären. Diese sehen nämlich keinen Gegensatz zwischen dem auf Tafeln Geschriebenen und dem ins Innere Geschriebenen; zwischen „Gottes Ordnung“ und „Gottes Kraft“ (oder Geist). „Das Ins-Innere- und das Auf-steinerne-Tafeln-Geschriebensein“ schließt sich nicht gegenseitig aus, sondern können sich ergänzen (Dieter Georgi: Die Gegner des Paulus, 250).
Buchstabe und Geist stellen keinen Gegensatz dar; es entspricht eher gottgeschenkter Einsicht, ihre Beziehung zu erkennen und wie sie einander fordern. Nun steht der fürs Deutsche etwas unglückliche Begriff „Buchstabe“ in der hebräischen Bibel wie für die jüdische Tradition für verschiedene Textkorpora, für kleinere und größere: die Zehn Gebote (Dekalog), die Tora, die Figur des Moses im Sinne einer Personifikation, für „die Sammlung der heiligen Schriften des Judentums“ insgesamt (Dieter Georgi: Die Gegner des Paulus, 252).
Von diesem jüdischen „Kanon“ - angefangen bei der hebräischen Bibel - wird man nicht allen Ernstes behaupten dürfen, die darin bewahrten Worte würden „töten“, um dann womöglich einen massiven Gegensatz zu den Briefen des Paulus oder zum Evangelium oder gar zur Überlieferung von Jesusworten konstruieren zu wollen.
Liebe Gemeinde! Dieses uns - so meine Hoffnung, ja, Gewissheit - heute unmögliche und widersinnig erscheinende Denken spukte im Laufe der Geschichte des Christentum leider oft genug in den Köpfen und Herzen; es vergiftete das Verhältnis zu unserer historischen Wurzel und leistete antijudaistischen Bewegungen und politischen Kräften tüchtig Vorschub, zuletzt dem Größenwahn Adolf Hitlers, dem dummen Kadavergehorsam seiner Helfershelfer und der Mehrheit derer, die sich auch in den Kirchen der Ideologie des Nationalsozialismus beugten.
Die mächtigsten Herrscher der Geschichte - wie z.B. Lenin, Stalin, Hitler, Mao-tse Dong - waren von der Kraft des Buchstabens, von der manipulierenden Wirkung der Sprache, wenn man sie geschickt einzusetzen weiß, überzeugt. Leider brachte ihre Propaganda tatsächlich für Millionen den Tod.
Wenn ich unserem Sprachgebrauch zuhöre, drängt sich mir manchmal der Eindruck auf, dass es uns an Sensibilität für allgemein verständliche Sprache, aber auch an Verständnis für poetische, schöne, elegante Ausdrucksweise und auch an angemessener Rhetorik fehlt. Die praktische Theologie und entsprechende Publikationen haben längst den Weg dorthin gewiesen, aber leider fehlt offenbar vielerorts noch der fruchtbare Boden für die gestreute oder zumindest bereitete Saat.
Aber der sog. „Buchstabe“, das Wort, die Texte des Judentums, die Tora, die Weisung, die dem Leben Sinn verleiht, die religiöse wie kulturelle Bräuche regelt, Recht und Gesetze ordnet und mannigfaltige Anregungen für die geistige Entwicklung eines Menschen bietet - diese Tradition ist es allemal wert, beachtet zu werden.
Die heiligen Schriften des Judentums „machen den Menschen lebendig“ - sie beleben uns wie auch die Worte des Rabbi Jesus von Nazareth Leben in Fülle bereiten können. Denn Mose und Jesus widersprechen nicht einander: beiderlei Worte sind Geist und Leben. Ich weiß aber nicht, wo Paulus steht; ist er irgendwo dazwischen angesiedelt? Vom Rabbi Jesus lese ich bei ihm so gut wie nichts. War die sog. „Bekehrung“ des Paulus eher eine Art „Verkehrung“? Mit dieser ketzerischen Bemerkung möchte ich nicht schließen. Vielmehr verweise ich auf die Anspielungen auf die hebräische Bibel, die Paulus - wenn auch, wie bei ihm üblich – anführt:
Ich will mein Gesetz (Tora) in ihr Inneres hineinlegen und es ihnen ins Herz schreiben und will dann ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein (Jer 31,33).
Wenn (…), will ich ihnen ein anderes Herz verleihen und ihnen einen neuen Geist eingeben; ich will das steinerne Herz aus ihrer Brust herausnehmen und ihnen ein Herz von Fleisch einsetzen (Ez 11,19).
Und ich will euch ein neues Herz verleihen und euch einen neuen Geist eingeben: das steinerne Herz will ich aus eurer Brust herausnehmen und euch dafür ein Herz von Fleisch verleihen (Ez 36,26).
Wenn Paulus sich als „Diener des neuen Bundes“ bezeichnet und damit einen weiteren Kontrast schafft, nämlich die Antithese von „altem“ und „neuem“ Bund, und er des weiteren (scheinbar, aus Polemik?) nur dem neuen Bund Leben schaffende Wirkung durch Gottes Geist zuschreibt, dann verkennt er m.E. die Tatsache, dass die Kraft, der Geist Gottes schon in seiner eigenen Tradition mächtig wird.
Es gibt sogar einen Hinweis beim Propheten Ezechiel (Ez 18,31f), der eindeutig widerlegt, dass alles Aufrichtige, Gute, Gerechte, Hilfreiche und „Gott“ Wohlgefällige angeblich stets nur von „Gott selbst“ gewirkt werden könne:
„Werft alle eure Übertretungen, durch die ihr euch gegen mich vergangen habt, von euch ab und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Denn warum wollt ihr sterben, Haus Israel? Ich habe ja kein Wohlgefallen am Tode dessen, der sterben muß“ - so lautet der Ausspruch Gottes des HERRN -; „darum kehret um, so werdet ihr leben!“
Dem Menschen wird hier mehr zugetraut, als dies bei Paulus und später im Christentum der Fall ist: schafft euch (selbst) ein neues Herz und einen neuen Geist! - Eines wird allerdings vorausgesetzt: Sie sollen umkehren, wenn sie einen falschen Weg eingeschlagen haben oder sich gar verkehrte Ziele im Leben gesetzt oder nach fragwürdigen Maßstäben gelebt haben. Diesen Hinweis verdanke ich dem jüdischen Gelehrten Hermann Cohen (Die Religion der Vernunft, 227). Ich überlasse dem Rabbi Jesus das Schlusswort, weil er auf unnachahmliche Weise aufzeigt, dass zumindest seine Autorität nicht im Widerspruch zur Tora steht:
„Denkt nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird vom Gesetz nicht ein einziges Jota und kein Strichlein aufgehoben werden, bis alles in Erfüllung gegangen ist. Wer also ein einziges von diesen Geboten aufhebt und die Menschen demgemäß lehrt, der wird der Geringste im Himmelreich heißen; wer sie aber tut und so lehrt, der wird groß im Himmelreich heißen“ (Mt 5,17-19). Amen.
Literatur
Thomas Schmeller: Der Zweite Brief an die Korinther, EKK VII/1 (2010), 168-191.
Scott J. Hafemann: Paul, Moses, and the History of Israel, WUNT 81 (1995).
Dieter Georgi: Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, WMANT 11 (1964).
Hermann Cohen: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919).
Bernd Kuschnerus: Die Gemeinde als Brief Christi, FRLANT 197 (2002).
Wai-Shing Chau: The Letter and the Spirit. A History of Interpretation from Origen to Luther, AmUSt.TR 167 (1995).
Arthur J. Dewey: Spirit and Letter in Paul (1996).
Peter von der Osten-Sacken: Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus (1989).