Predigt zu 2. Korinther 6, 1-10 von Thomas Bautz
6,1
Liebe Gemeinde!
Offenbar sieht Paulus seinen Dienst als Apostel grundsätzlich unter dem Aspekt der Gnade: Es ist nicht sein Verdienst, und er hat sich auch nicht um dieses „Amt“ gerissen. Er weiß sich mit anderen Aposteln berufen, Menschen zu dienen. Obendrein erlebt er sein Engagement immer wieder als Bewährung: Er macht es sich nicht leicht; weicht Belastungen nicht aus; nimmt Schmähungen, üble Nachrede, Entbehrungen und sogar Gefängnis und Schläge in Kauf. Oft wird ihm Angst und Bange. Manchmal ist er ganz enttäuscht, darüber erschüttert, wie man ihn z.T. völlig verkennt, oder wenn er sich mit Andersdenkenden in der Gemeinde heftig auseinandersetzen muss.
Häufig ist Paulus total überarbeitet. Schlaflose Nächte zehren an seinen Kräften, machen ihn mürbe. Er bricht aber nicht in sich zusammen, weil er nicht nur in sich ruht, sondern weil er sich von einer Quelle nährt, die nicht versiegen kann. Zu der Bewährung durch Belastungen und Leid erlebt Paulus die Bewahrung in lauterer, aufrichtiger Gesinnung, in tieferem Verstehen des Weges Jesu – den er seinen Herrn nennt.
Scheinbar selbstverständlich und in aller Kürze erwähnt er dann, wie er sich als langmütig und gütig erleben darf. Er spürt die Kraft des Heiligen Geistes und wird zur ungeheuchelten Liebe befähigt. Seinen Worten wird Nachdruck verliehen durch das Wort der Wahrheit des Evangeliums. In allem erlebt er die Kraft Gottes.
Paulus gibt hier leider keine Beschreibung. Vermutlich war es auch schon zu seiner Zeit schwierig, ein geistliches Leben zu beschreiben. Manchmal versucht er es mit paradoxen Formulierungen – etwa so: „wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10).
Ich meine, solch ein Leben wie das des Paulus lässt sich auch noch von einem anderen Blickwinkel aus betrachten. Das geistliche Leben und das Leben eines Menschen generell wird ganz unterschiedlich wahrgenommen. Vor allem stehen sich Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung häufig ziemlich konträr gegenüber. Ich möchte das am Beispiel eines Christenmenschen verdeutlichen, der uns zeitlich und – da darf ich mit vielen sprechen – als Vorbild näher steht als Paulus: Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer schrieb einige Briefe, kürzere Texte und auch Gedichte an Familie und Freunde während seiner Haft in Berlin-Tegel.
In einem Gedicht bringt dieser Zeitzeuge und Gegner des Nationalsozialismus in demütiger, unerschrockener Offenheit und Selbsterkenntnis die menschliche Ambivalenz zum Ausdruck:
Wer bin ich?
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
  ich trete aus meiner Zelle
  gelassen und heiter und fest
  wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
  
  Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
  ich spräche mit meinen Bewachern
  frei und freundlich und klar,
  als hätte ich zu gebieten.
  
  Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
  ich trüge die Tage des Unglücks
  gleichmütig, lächelnd und stolz,
  wie einer, der siegen gewohnt ist.
  
  Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
  Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
  Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
  ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
  hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
  dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
  zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
  umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
  ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
  müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
  matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
  
  Wer bin ich? Der oder jener?
  Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
  Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
  
  und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
  Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
  das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
  Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
  Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
  
  Man möchte angesichts dieser Bilder – nicht nur aus der gefahrvollen Umgebung, sondern auch aus der Seele eines gefangenen Menschen – sogleich „Amen“ sagen. Doch bliebe dann womöglich nur die Erinnerung an Bonhoeffer, der um sein Leben fürchten musste; der seine Familie zurücklassen musste; der sein literarisches und theologisches Werk nicht vollenden durfte.
Den meisten von uns – so weit wir einander überhaupt genügend kennen – wird man eher ein beschauliches Leben in Ruhe und Frieden nachsagen. Und doch ist uns dieser Unterschied von Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung nicht ganz fremd.
Geschieht es nicht des öfteren, dass uns Menschen aus unserem näheren Umfeld – in Familie, am Arbeitsplatz, in der Gemeinde – barmherziger, großzügiger, wohlwollender beurteilen, als wir dies selbst zu tun imstande sind? „Seien Sie, sei nicht so hart gegen sich selbst!“ hören wir dann zu unserem Erstaunen. Gerade wenn wir vorwiegend unsere Versäumnisse, unsere Bequemlichkeit, unser Fehlverhalten im Blick haben, sehen die Mitmenschen uns oftmals mit anderen Augen. Wichtig ist allerdings, dass wir für solches Wohlwollen dankbar sind und uns bemühen, auch unsererseits der Familie, den Arbeitskollegen, den Gemeindegliedern mit der ihnen gebührenden Hochschätzung und mit ungeheuchelter Liebe entgegenzukommen.
Natürlich ist hier keine „romantische“ Liebe gemeint – die gibt es nur unter Verliebten.
Liebe bedeutet für mich, dass ich mich selbst – mit allen Macken und Schwächen – annehme, mir meiner Würde und meinen Gaben bewusst werde und aus dieser Grundhaltung bereit bin, meine Mitmenschen in ihrer Würde und mit alldem, was sie verkörpern und ausstrahlen, zu akzeptieren. In dieser gegenseitigen Achtung müsste es möglich sein, auch Kontroversen und Konflikte auszuhalten und langfristig auszutragen.
Ich denke, dass manche Unstimmigkeiten, Gegnerschaften und Handgreiflichkeiten, die Paulus in Korinth und anderswo durchlitten hat, u.a. darauf basierten, dass vordergründig verschiedene religiöse Anschauungen, rituelle Praktiken und steile „theologische“ Sätze jegliche Annäherung massiv erschwerten – dass aber in Wahrheit sehr menschliche Züge und Charaktereigenschaften wie Machtgelüste, Neid, Eifersucht, Ruhmsucht, religiöser Fanatismus eine entscheidende Rolle spielten. Wie gut, wenn trotz allem ein Mensch wie Paulus zu seiner Schwachheit stehen und darin sogar eine gewisse Stärke sehen kann.
Wie gut, wenn ein Mensch wie Bonhoeffer sich in unsäglichem Leid dennoch so geborgen wissen darf, dass er sagt: „Wer ich auch bin – dein bin ich, o Gott!“
Amen.
Hilfreiche Literatur
Ch'oe, Yŏng-suk: „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“: die paulinischen Peristasenkataloge und ihre Apostolatstheologie, Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 16 (2010).
Martin Ebner: Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus (1991).
Perikope