Predigt zu 2. Mose 13, 20-22 von Konrad Stock
13,20
An der Schwelle
„So zogen sie – das Volk Israel – aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.
Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.
Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.“ (2. Mose 13,20-22)
I
Wieder, schon wieder ist ein Jahr vorbei. Schon wieder stehen wir am letzten Abend eines Jahres vor einer Schwelle, die wir überschreiten wollen und die wir überschreiten müssen. Schon wieder werden wir die Jahreswende mehr oder weniger festlich begehen: vielleicht im kleinen Kreis mit Freundinnen und Freunden bei Kerzenlicht und leckeren Gerichten; vielleicht auf einem der Silvesterbälle, die uns ins Neue Jahr hineintanzen lassen. Oder wird es vielleicht einsam und bedrückend sein – in einem kleinen Zimmer eines Krankenhauses oder eines Pflegeheims oder einer Polizei-Station?
Wie dem auch sei: ein geschenktes Jahr neigt sich dem Ende entgegen und das Geschenk eines neuen Jahres kommt auf uns zu. Deshalb werden wir wohl in dieser merkwürdigen Phase des Übergangs für einen Augenblick innehalten.
Wir werden vielleicht in heiteren Gesprächen uns der schönen und der wichtigen Dinge erinnern, die uns das vergehende Jahr gebracht hat: der Geburt eines Kindes oder eines Enkelkindes oder des hoffnungsvollen Aufbruchs der „Arabellion“ in den muslimischen Gesellschaften Nordafrikas. Vielleicht aber drängen sich in ernsten und in sorgenvollen Gesprächen die Dinge in den Vordergrund, die leidvoll waren wie eine plötzliche Erkrankung und die schrecklich waren wie das Seebeben an den Küsten Japans und wie die Kernschmelze in Fukushima.
Aber wir werden auch gespannt verfolgen, wie die Zeiger der Uhren auf die Zwölf zugehen: auf den winzigen Augenblick, auf die Sekunde Null, in der das geschenkte alte Jahr zum neu geschenkten neuen Jahr wird. Wir werden uns je nach unserer Stimmung ausgelassen und fröhlich oder eher ernst und verhalten in die Arme nehmen und einander alles erdenklich Gute wünschen. Und wir werden womöglich im Fernsehen verfolgen, wie rund um den Erdball die Menschen jubeln und millionenschwere Feuerwerke in die Luft jagen. Als gäbe es keine Schuldenkrise!
So viele Erinnerungen. So viele Hoffnungen. Wenn wir die Jahreswende im Gottesdienst begehen und wenn wir mit der Kraft des göttlichen Segens die Schwelle überschreiten, die wir überschreiten wollen und überschreiten müssen, dürfen wir – mit „Israel“, mit dem Volk Gottes, mit der kirchlichen Gemeinschaft des Glaubens - sagen und denken und bitten:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
II
Das Bibelwort, auf das wir achten, verankert diese Bitte in einer großartigen Erzählung: in der Erzählung vom Auszug „Israels“ aus „Ägypten“, von der Befreiung aus der Zwangsarbeit, und von dem Weg durch die Wüste bis hin zur Schwelle des Gelobten Landes. Es soll uns hier und jetzt nicht interessieren, wie diese großartige Erzählung im Laufe von Jahrhunderten entstand – das überlassen wir an diesem Abend dem Kopfzerbrechen der gelehrten Forscher. Uns interessiert an diesem Abend vielmehr nur, was uns das Bibelwort für unseren Weg in dieser Nacht mitgeben und zeigen möchte und wie es uns dazu bewegt, in diese Bitte einzustimmen:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
Um das zu verstehen, gibt es eine ganz einfache Methode, wie sie schon der Apostel Paulus im 1. Brief an die Gemeinde zu Korinth gebraucht. Nach dieser Methode stellt jene großartige Erzählung einen „Typus“ dar – also ein „Sinnbild“ oder ein „Denkmal“ der Geschichte, die sich mit uns selbst und die sich in uns selbst ereignet, wenn wir uns auf das eigene Leben in seinem Verhältnis zu Gott besinnen. Dann werden wir verstehen, was es mit der Zwangsarbeit in „Ägypten“ auf sich hat; und dann werden wir verstehen, wohin die Befreiung aus der Zwangsarbeit führt und warum es gut und wichtig ist, in dieser Bitte zu verharren:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
III
Das Bibelwort, auf das wir achten wollen, erinnert an die graue Vorzeit „Israels“ am Rande der bedeutenden Hochkultur des Mittleren ägyptischen Reiches. Thomas Mann hat sie in dem großen Roman „Joseph und seine Brüder“ hinreißend ausgestaltet. In dieser Hochkultur gibt es viel zu tun. Der Pharao baut sich seine Pyramide. Die Priesterschaft baut sich ihre Tempel. Die Minister bauen sich ihre Paläste. Die Schickeria baut sich ihre Villen auf dem Lande. Viel Arbeit. Und vor allem: viel Zwangsarbeit. Zwar scheint die Versorgung gar nicht so schlecht gewesen zu sein – die Fleischtöpfe Ägyptens, nach denen sich „Israel“ in der Wüste sehnt, sind ja geradezu sprichwörtlich geworden; aber von Arbeitsverträgen oder von Gewerkschaften oder gar von einem Streikrecht kann wohl keine Rede sein. „Israel“ erlebt, was Zwang ist.
„Israel“ sieht sich gezwungen, etwas gegen seinen eigenen Willen zu tun. Es erlebt vielleicht nicht die nackte Gewalt, wie sie aus den Gewehrläufen kommt; aber es empfindet doch – eine Minderheit in einer langen traurigen Geschichte der Minderheiten – den tiefen Widerspruch zum Freiheitsgefühl, das jedes Menschenleben trägt und prägt.
Aber Zwang begegnet uns nicht nur in dieser eklatanten Form. Sehen wir einmal von der Zwangsjacke im psychiatrischen Krankenhaus ab, so kommt der Zwang auch in den besten Familien vor. Wir alle kennen wohl die Eltern, die ihre Kinder von früher Kindheit an zum Reiten oder zum Tennis oder zum Tanzen drängen und die sich damit vor allem ihre eigenen unerfüllten Wünsche erfüllen. Wir alle kennen Leute, die sich selbst Zwänge auferlegen – Waschzwänge, Ordnungszwänge, Erfolgszwänge. Wir alle wissen, wie das Publikum – und vor allem das Fußball-Publikum – den Schiedsrichtern mit drohenden Gebärden Angst macht, wenn die eigene Mannschaft am Verlieren ist. Wir alle bekommen die Zwänge mit, unter denen die politische Klasse auch in demokratischen Verhältnissen steht. Und wir haben als kleine oder als große Unternehmer bestimmt eine Ahnung davon, was es heißt, der Konkurrenz auf einem Markt ausgesetzt zu sein.
„Israel“ erlebt in „Ägypten“ eine Willkür, die das eigene Freiheitsgefühl verletzt. Es erlebt geradezu etwas Typisches. Wer immer seine eigene soziale Erfahrung unzensiert und ungeschönt ernst nimmt, wird dieses Typische in vielen Lebensverhältnissen entdecken; auch in den eigenen Lebensverhältnissen. Auch das geschenkte Jahr, das jetzt zu Ende geht, war neben allen schönen und erfreulichen Dingen gewiss von solcher Willkür beherrscht.
Deshalb ist es gut und wichtig, in der Bitte zu verharren: „Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
IV
Das Bibelwort, auf das wir am letzten Abend dieses Jahres achten wollen, bezeugt uns in dieser Lage Gottes Heilswillen. Wie stark und wie tief und wie unerschütterlich Gottes Heilswille ist, hat Johann Sebastian Bach im Weihnachtsoratorium ergreifend zur Sprache gebracht und ergreifend in Töne gesetzt. Er spricht hier und er singt und spielt hier von dem Frieden, den das kleine Kind in der Krippe zu Bethlehem zu bringen bestimmt ist. Und er schließt den dritten Teil des Oratoriums mit den Versen:
„Höre der Herzen frohlockendes Preisen,
wenn wir dir itzo die Ehrfurcht erweisen,
weil unsre Wohlfahrt befestiget steht.“
Ehrfurcht? Frieden? Wohlfahrt? Was ist das für eine Weise, den tiefsitzenden Hang zu einseitiger und zu wechselseitiger Willkür zu überwinden? Wie geht das zu, uns aus den groben oder aus den feinen Zwängen unserer Lebensverhältnisse zu befreien? Wie können wir alle unsere guten Wünsche für ein gutes, gesundes Neues Jahr unterbringen in der Hoffnung auf den göttlichen Heilswillen, der alle Welt befreit? Was ist Gottes Wolkensäule und Gottes Feuersäule, die niemals weicht, für uns heute?
Ich denke, es ist Gottes Sorge für den äußeren Frieden und für den inneren Frieden, die befreiend wirkt. Indem wir dieser göttlichen Sorge dienen, werden wir alle unsere guten Wünsche für das neu geschenkte Neue Jahr unterbringen in die Hoffnung auf Gott. Von ihr sagt der Apostel Paulus, dass sie uns nicht zuschanden werden, dass sie uns nicht scheitern lässt.
Ja, wir dürfen dessen gewiss sein, dass Gottes Sorge gegen alle einseitige und gegen alle wechselseitige Willkür zwischen uns Menschen auf den äußeren Frieden gerichtet ist. Äußerer Friede – äußerer Friede in einer Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften – lebt von der Idee der Würde des Mensch-Seins. Jeder Mensch trägt diese Würde, so als trüge er eine unsichtbare Krone auf dem Haupt. Sie zu achten und zu schützen ist die Grundnorm eines rechtlichen Gemeinwesens: eine Grundnorm, die die einzelne Person gegen jede Willkür der Gemeinschaft verteidigt. Es hat weiß Gott lange gedauert, bis man diese Grundnorm eingesehen und ausgesprochen und schriftlich schwarz auf weiß niedergelegt hat; und es wird weiß Gott noch lange dauern, bis sie auch in anderen Kulturen dieser Erde eingesehen und ausgesprochen und anerkannt sein wird. Dennoch ist es diese Wolkensäule und diese Feuersäule, der wir in der Gemeinschaft des Volkes Gottes folgen, die uns führt und die uns leuchtet und die nicht von uns weichen wird.
Doch der äußerer Friede ist nicht alles. Innerhalb der Grenzen und der Schranken des äußeren Friedens suchen wir den inneren Frieden. Gottes Sorge gilt in den Grenzen und in den Schranken des äußeren Friedens dem inneren Frieden. Ohne inneren Frieden wird es übrigens auf die Dauer – das lehrt uns die deutsche Geschichte in schauerlicher Weise – keinen äußeren Frieden geben. Dieser innere Friede fühlt sich an wie ein Ruhetag, wie ein Feiertag, wie ein Sonntag. An solchen Tagen dürfen die menschlichen Größen-Phantasien aufhören, die der gerade verstorbene Horst-Eberhard Richter eindringlich beschrieb und die uns das Leben so schwer machen. Solche Tage wollen uns den Weg verstehen lassen, den Gott - „Israels“ Gott, den der Christus Jesus den Vater nennt und als den Vater anredet – mit jedem und mit jeder von uns geht. Innerer Friede stellt sich ein, indem wir wirklich Gott vor uns herziehen lassen. Innerer Friede stellt sich ein, indem wir wirklich seiner Wolkensäule folgen und indem wir wirklich seine Feuersäule leuchten lassen. Innerer Friede stellt sich ein, indem wir unseren tiefsitzenden Hang nach einseitiger wie nach wechselseitiger Willkür vergeben und verziehen und hinweg genommen sein lassen. „Meinen Frieden gebe ich euch“, sagt der Christus Jesus nach dem Evangelium des Johannes.
Um diesen äußeren und um diesen inneren Frieden bitten wir, wenn wir bitten: „Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
V
Wieder, schon wieder geht ein Jahr zur Neige. Wieder, schon wieder stehen wir vor einer Schwelle, die wir überschreiten wollen und die wir überschreiten müssen. Wieder halten wir für einen Augenblick inne, bevor wir unseren Fuß in das noch unbekannte Land des Neuen Jahres setzen. Für diesen ersten Schritt suchen wir in diesem Gottesdienst in der Gemeinschaft des Glaubens die Kraft des göttlichen Segens. Diese Kraft wird uns gewährt, die wir uns in das Bibelwort vertiefen, das uns im Bild der Wolkensäule und der Feuersäule Gottes Weg mit jedem und mit jeder von uns verstehen lässt. Was immer geschehen mag: Gottes Weg mit jedem und mit jeder von uns führt in den äußeren und in den inneren Frieden. Alle unsere guten Wünsche für uns selbst und füreinander dürfen wir einschließen in die Bitte:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
Amen.
Predigt-Lied: „Der du die Zeit in Händen hast“ (Jochen Klepper, EG 64)
Prof. em. Dr. Konrad Stock (konrad_stock@freenet.de)
„So zogen sie – das Volk Israel – aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.
Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.
Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.“ (2. Mose 13,20-22)
I
Wieder, schon wieder ist ein Jahr vorbei. Schon wieder stehen wir am letzten Abend eines Jahres vor einer Schwelle, die wir überschreiten wollen und die wir überschreiten müssen. Schon wieder werden wir die Jahreswende mehr oder weniger festlich begehen: vielleicht im kleinen Kreis mit Freundinnen und Freunden bei Kerzenlicht und leckeren Gerichten; vielleicht auf einem der Silvesterbälle, die uns ins Neue Jahr hineintanzen lassen. Oder wird es vielleicht einsam und bedrückend sein – in einem kleinen Zimmer eines Krankenhauses oder eines Pflegeheims oder einer Polizei-Station?
Wie dem auch sei: ein geschenktes Jahr neigt sich dem Ende entgegen und das Geschenk eines neuen Jahres kommt auf uns zu. Deshalb werden wir wohl in dieser merkwürdigen Phase des Übergangs für einen Augenblick innehalten.
Wir werden vielleicht in heiteren Gesprächen uns der schönen und der wichtigen Dinge erinnern, die uns das vergehende Jahr gebracht hat: der Geburt eines Kindes oder eines Enkelkindes oder des hoffnungsvollen Aufbruchs der „Arabellion“ in den muslimischen Gesellschaften Nordafrikas. Vielleicht aber drängen sich in ernsten und in sorgenvollen Gesprächen die Dinge in den Vordergrund, die leidvoll waren wie eine plötzliche Erkrankung und die schrecklich waren wie das Seebeben an den Küsten Japans und wie die Kernschmelze in Fukushima.
Aber wir werden auch gespannt verfolgen, wie die Zeiger der Uhren auf die Zwölf zugehen: auf den winzigen Augenblick, auf die Sekunde Null, in der das geschenkte alte Jahr zum neu geschenkten neuen Jahr wird. Wir werden uns je nach unserer Stimmung ausgelassen und fröhlich oder eher ernst und verhalten in die Arme nehmen und einander alles erdenklich Gute wünschen. Und wir werden womöglich im Fernsehen verfolgen, wie rund um den Erdball die Menschen jubeln und millionenschwere Feuerwerke in die Luft jagen. Als gäbe es keine Schuldenkrise!
So viele Erinnerungen. So viele Hoffnungen. Wenn wir die Jahreswende im Gottesdienst begehen und wenn wir mit der Kraft des göttlichen Segens die Schwelle überschreiten, die wir überschreiten wollen und überschreiten müssen, dürfen wir – mit „Israel“, mit dem Volk Gottes, mit der kirchlichen Gemeinschaft des Glaubens - sagen und denken und bitten:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
II
Das Bibelwort, auf das wir achten, verankert diese Bitte in einer großartigen Erzählung: in der Erzählung vom Auszug „Israels“ aus „Ägypten“, von der Befreiung aus der Zwangsarbeit, und von dem Weg durch die Wüste bis hin zur Schwelle des Gelobten Landes. Es soll uns hier und jetzt nicht interessieren, wie diese großartige Erzählung im Laufe von Jahrhunderten entstand – das überlassen wir an diesem Abend dem Kopfzerbrechen der gelehrten Forscher. Uns interessiert an diesem Abend vielmehr nur, was uns das Bibelwort für unseren Weg in dieser Nacht mitgeben und zeigen möchte und wie es uns dazu bewegt, in diese Bitte einzustimmen:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
Um das zu verstehen, gibt es eine ganz einfache Methode, wie sie schon der Apostel Paulus im 1. Brief an die Gemeinde zu Korinth gebraucht. Nach dieser Methode stellt jene großartige Erzählung einen „Typus“ dar – also ein „Sinnbild“ oder ein „Denkmal“ der Geschichte, die sich mit uns selbst und die sich in uns selbst ereignet, wenn wir uns auf das eigene Leben in seinem Verhältnis zu Gott besinnen. Dann werden wir verstehen, was es mit der Zwangsarbeit in „Ägypten“ auf sich hat; und dann werden wir verstehen, wohin die Befreiung aus der Zwangsarbeit führt und warum es gut und wichtig ist, in dieser Bitte zu verharren:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
III
Das Bibelwort, auf das wir achten wollen, erinnert an die graue Vorzeit „Israels“ am Rande der bedeutenden Hochkultur des Mittleren ägyptischen Reiches. Thomas Mann hat sie in dem großen Roman „Joseph und seine Brüder“ hinreißend ausgestaltet. In dieser Hochkultur gibt es viel zu tun. Der Pharao baut sich seine Pyramide. Die Priesterschaft baut sich ihre Tempel. Die Minister bauen sich ihre Paläste. Die Schickeria baut sich ihre Villen auf dem Lande. Viel Arbeit. Und vor allem: viel Zwangsarbeit. Zwar scheint die Versorgung gar nicht so schlecht gewesen zu sein – die Fleischtöpfe Ägyptens, nach denen sich „Israel“ in der Wüste sehnt, sind ja geradezu sprichwörtlich geworden; aber von Arbeitsverträgen oder von Gewerkschaften oder gar von einem Streikrecht kann wohl keine Rede sein. „Israel“ erlebt, was Zwang ist.
„Israel“ sieht sich gezwungen, etwas gegen seinen eigenen Willen zu tun. Es erlebt vielleicht nicht die nackte Gewalt, wie sie aus den Gewehrläufen kommt; aber es empfindet doch – eine Minderheit in einer langen traurigen Geschichte der Minderheiten – den tiefen Widerspruch zum Freiheitsgefühl, das jedes Menschenleben trägt und prägt.
Aber Zwang begegnet uns nicht nur in dieser eklatanten Form. Sehen wir einmal von der Zwangsjacke im psychiatrischen Krankenhaus ab, so kommt der Zwang auch in den besten Familien vor. Wir alle kennen wohl die Eltern, die ihre Kinder von früher Kindheit an zum Reiten oder zum Tennis oder zum Tanzen drängen und die sich damit vor allem ihre eigenen unerfüllten Wünsche erfüllen. Wir alle kennen Leute, die sich selbst Zwänge auferlegen – Waschzwänge, Ordnungszwänge, Erfolgszwänge. Wir alle wissen, wie das Publikum – und vor allem das Fußball-Publikum – den Schiedsrichtern mit drohenden Gebärden Angst macht, wenn die eigene Mannschaft am Verlieren ist. Wir alle bekommen die Zwänge mit, unter denen die politische Klasse auch in demokratischen Verhältnissen steht. Und wir haben als kleine oder als große Unternehmer bestimmt eine Ahnung davon, was es heißt, der Konkurrenz auf einem Markt ausgesetzt zu sein.
„Israel“ erlebt in „Ägypten“ eine Willkür, die das eigene Freiheitsgefühl verletzt. Es erlebt geradezu etwas Typisches. Wer immer seine eigene soziale Erfahrung unzensiert und ungeschönt ernst nimmt, wird dieses Typische in vielen Lebensverhältnissen entdecken; auch in den eigenen Lebensverhältnissen. Auch das geschenkte Jahr, das jetzt zu Ende geht, war neben allen schönen und erfreulichen Dingen gewiss von solcher Willkür beherrscht.
Deshalb ist es gut und wichtig, in der Bitte zu verharren: „Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
IV
Das Bibelwort, auf das wir am letzten Abend dieses Jahres achten wollen, bezeugt uns in dieser Lage Gottes Heilswillen. Wie stark und wie tief und wie unerschütterlich Gottes Heilswille ist, hat Johann Sebastian Bach im Weihnachtsoratorium ergreifend zur Sprache gebracht und ergreifend in Töne gesetzt. Er spricht hier und er singt und spielt hier von dem Frieden, den das kleine Kind in der Krippe zu Bethlehem zu bringen bestimmt ist. Und er schließt den dritten Teil des Oratoriums mit den Versen:
„Höre der Herzen frohlockendes Preisen,
wenn wir dir itzo die Ehrfurcht erweisen,
weil unsre Wohlfahrt befestiget steht.“
Ehrfurcht? Frieden? Wohlfahrt? Was ist das für eine Weise, den tiefsitzenden Hang zu einseitiger und zu wechselseitiger Willkür zu überwinden? Wie geht das zu, uns aus den groben oder aus den feinen Zwängen unserer Lebensverhältnisse zu befreien? Wie können wir alle unsere guten Wünsche für ein gutes, gesundes Neues Jahr unterbringen in der Hoffnung auf den göttlichen Heilswillen, der alle Welt befreit? Was ist Gottes Wolkensäule und Gottes Feuersäule, die niemals weicht, für uns heute?
Ich denke, es ist Gottes Sorge für den äußeren Frieden und für den inneren Frieden, die befreiend wirkt. Indem wir dieser göttlichen Sorge dienen, werden wir alle unsere guten Wünsche für das neu geschenkte Neue Jahr unterbringen in die Hoffnung auf Gott. Von ihr sagt der Apostel Paulus, dass sie uns nicht zuschanden werden, dass sie uns nicht scheitern lässt.
Ja, wir dürfen dessen gewiss sein, dass Gottes Sorge gegen alle einseitige und gegen alle wechselseitige Willkür zwischen uns Menschen auf den äußeren Frieden gerichtet ist. Äußerer Friede – äußerer Friede in einer Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften – lebt von der Idee der Würde des Mensch-Seins. Jeder Mensch trägt diese Würde, so als trüge er eine unsichtbare Krone auf dem Haupt. Sie zu achten und zu schützen ist die Grundnorm eines rechtlichen Gemeinwesens: eine Grundnorm, die die einzelne Person gegen jede Willkür der Gemeinschaft verteidigt. Es hat weiß Gott lange gedauert, bis man diese Grundnorm eingesehen und ausgesprochen und schriftlich schwarz auf weiß niedergelegt hat; und es wird weiß Gott noch lange dauern, bis sie auch in anderen Kulturen dieser Erde eingesehen und ausgesprochen und anerkannt sein wird. Dennoch ist es diese Wolkensäule und diese Feuersäule, der wir in der Gemeinschaft des Volkes Gottes folgen, die uns führt und die uns leuchtet und die nicht von uns weichen wird.
Doch der äußerer Friede ist nicht alles. Innerhalb der Grenzen und der Schranken des äußeren Friedens suchen wir den inneren Frieden. Gottes Sorge gilt in den Grenzen und in den Schranken des äußeren Friedens dem inneren Frieden. Ohne inneren Frieden wird es übrigens auf die Dauer – das lehrt uns die deutsche Geschichte in schauerlicher Weise – keinen äußeren Frieden geben. Dieser innere Friede fühlt sich an wie ein Ruhetag, wie ein Feiertag, wie ein Sonntag. An solchen Tagen dürfen die menschlichen Größen-Phantasien aufhören, die der gerade verstorbene Horst-Eberhard Richter eindringlich beschrieb und die uns das Leben so schwer machen. Solche Tage wollen uns den Weg verstehen lassen, den Gott - „Israels“ Gott, den der Christus Jesus den Vater nennt und als den Vater anredet – mit jedem und mit jeder von uns geht. Innerer Friede stellt sich ein, indem wir wirklich Gott vor uns herziehen lassen. Innerer Friede stellt sich ein, indem wir wirklich seiner Wolkensäule folgen und indem wir wirklich seine Feuersäule leuchten lassen. Innerer Friede stellt sich ein, indem wir unseren tiefsitzenden Hang nach einseitiger wie nach wechselseitiger Willkür vergeben und verziehen und hinweg genommen sein lassen. „Meinen Frieden gebe ich euch“, sagt der Christus Jesus nach dem Evangelium des Johannes.
Um diesen äußeren und um diesen inneren Frieden bitten wir, wenn wir bitten: „Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
V
Wieder, schon wieder geht ein Jahr zur Neige. Wieder, schon wieder stehen wir vor einer Schwelle, die wir überschreiten wollen und die wir überschreiten müssen. Wieder halten wir für einen Augenblick inne, bevor wir unseren Fuß in das noch unbekannte Land des Neuen Jahres setzen. Für diesen ersten Schritt suchen wir in diesem Gottesdienst in der Gemeinschaft des Glaubens die Kraft des göttlichen Segens. Diese Kraft wird uns gewährt, die wir uns in das Bibelwort vertiefen, das uns im Bild der Wolkensäule und der Feuersäule Gottes Weg mit jedem und mit jeder von uns verstehen lässt. Was immer geschehen mag: Gottes Weg mit jedem und mit jeder von uns führt in den äußeren und in den inneren Frieden. Alle unsere guten Wünsche für uns selbst und füreinander dürfen wir einschließen in die Bitte:
„Gott, zieh vor uns her! Führe uns, Gott! Leuchte uns, Gott!“
Amen.
Predigt-Lied: „Der du die Zeit in Händen hast“ (Jochen Klepper, EG 64)
Prof. em. Dr. Konrad Stock (konrad_stock@freenet.de)
Perikope