Liebe Gemeinde
Israel-Sonntag, warum liegt über dieser Bezeichnung so etwas wie ein dunkler Schatten? Warum verbinde ich mit diesem Sonntag Empfindungen wie Trauer, Schmerz, aber auch Scham und sogar Wut...?
Vor etlichen Jahren, so ziemlich am Anfang in meiner neuen Gemeinde, bereitete ich mich auf den Gottesdienst des 10. Sonntag nach Trinitatis vor. Sollte ich „Israel“ zum Thema machen, oder es einfach übergehen, einen alternativen Text aussuchen...?, angeblich hatte mein Vorgänger so seine Probleme mit diesem Thema...Ich wagte es und sprach in der Predigt über die Unverbrüchlichkeit des Bundes Gottes mit seinem auserwählten Volk. Am Ausgang erwartete mich ein Gemeindeglied mit ernster Mine und gab mir zu verstehen, dass er „solche Worte“ in „seiner“ Kirche nicht mehr hören wolle. Ohne mir Gelegenheit zur Antwort zu geben, ging er davon und eine andere Person reichte mir die Hand und sagte: „vielen Dank für diese klärende Predigt, das hat gut getan...“
Israel-Sonntag, gerade für uns Protestanten ein schwerer Rucksack, gefüllt mit grossen Steinen. Noch in meiner Konfirmandenzeit, in den siebziger Jahren, also nach Holocaust und „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, lehrte uns der Pfarrer, dass die Zerstörung Jerusalems durch die Römer und die daraus resultierende Zerstreuung des jüdischen Volkes die Strafe Gottes war, weil Israel Jesus nicht als seinen Messias anerkennen wollte.
Seit dieser „Urerfahrung“ in meiner Gemeinde sind mittlerweile einige Jahre vergangen und wir konnten gemeinsam Schritte in eine neue und gute Richtung gehen. Für den Israel-Sonntag 2011 ist uns das selbe Wort aufgetragen, für das ich damals sowohl Tadel als auch Lob erntete.
Textlesung: 2. Mose 19, 1 – 6
Ein starkes Wort
Wer „böse Absichten“ verfolgt, kann daraus ein Hetzwerk gegen Israel im allgemeinen und die Juden im besonderen zusammenschustern. Und wieder muss ich an meine Jugendzeit denken. Ich kam vom Konfirmadenunterricht nach Hause. Mein Grossvater, ein gestandener Pietist und ehemaliges Mitglied der Bekennenden Kirche, wollte wissen, was uns der Pfarrer so beigebracht hat. An seiner Stimme und seinem Gesicht konnte ich leicht erkennen, ob und wie weit der Unterricht auf seine Zustimmung stiess. Gerade das Thema Israel und seine Erwählung als Volk Gottes, und was man uns darüber eintrichterte, brachte ihn in Harnisch. So schrieb er einmal an den Kirchengemeindrat einen Brief, dessen Kopie ich heute noch aufbewahre: „...vergangene Woche war der Trauertag „Tischa be Aw“, der neunte Tag des jüdischen Monats Aw, ein Tag an dem all das Leid, das über dieses Volk hinwegzog und sich tief in seine Seele eingebrannt hat, in einem Punkt verdichtet: am 9. Aw wurde der erste Tempel in Jerusalem durch die Babylonier zerstört, am 9. Aw zerstörten römische Truppen den zweiten Tempel in Jerusalem und richteten unter den Bewohnern des Dorfes Bethar ein Gemetzel an, am 9. Aw des Jahres 1290 wurden die Juden aus England vertrieben, ebenso fast 200 Jahre später aus Spanien. Am 9. Aw begann der Erste Weltkrieg, in dem viele jüdische Soldaten auch auf deutscher Seite kämpften und starben. Auch am 9. Aw der Jahre 1942, 43 und 44 stand eine schwarze Wolke über den Krematorien von Auschwitz. Es ist an der Zeit, dass wir Christen unsere Überheblichkeit, so als ob Gott seinen Bund mit Israel gebrochen und ihn stattdessen auf die christl. Kirche übertragen hätte, eintauschen gegen eine aufrichtige Busse und brüderliche Solidarität...“
Ja, es ist ein starkes Wort und, wie andere Bibelstellen auch, wurde es viele Jahrhunderte lang missbraucht, bewusst uminterpretiert, seine Botschaft manipuliert. Die Kirche und ganz besonders ihre Führer haben schwere Schuld auf sich geladen. Ja, als Busstag sollten wir diesen Sonntag begehen, als Busstag der uns einen Neuanfang schenkt und ermöglicht. Nur so werden wir die Wahrheit erkennen, nur so werden wir Gottes Handeln in und durch Israel verstehen, nur so werden wir als christliche Kirche unseren Platz in der Welt finden.
Ein starkes Wort!, weil es so viel über Gottes Plan in dieser Welt aussagt. Gott befreit, er befreit diejenigen die unfrei sind, die in demütigender Abhängigkeit existieren, es ist als ob dieser Gott jegliche Art von Ungerechtigkeit verabscheut, sie ist ihm zuwider. Wer in Abhängikeit lebt ist seiner Würde beraubt, denn Menschenwürde hat zuallererst mit Freiheit zu tun.
Und nun sind sie „frei“, die unfrei waren, nun lagern sie in der Wüste, unweit des Heiligen Berges. Sie sind nicht in Panik in alle Richtungen davon gerannt, nur raus aus Ägypten, sondern sie wurden hierher geleitet, geführt, wie „auf Adlers Fitichen“ getragen.
Auf Adlers Flügeln
Der wohl grösste flugfähige Vogel der Erde ist der Kondor. Auf meinen langen Fahrten durch die patagonischen Anden konnte ich ihn schon des öfteren beobachten. Er ist in der Lage mehrere tausend Kilometer ohne Zwischenlandung zurückzulegen, er ruht während des Fluges. Ich bin immer wieder zutiefst beeindruckt von seiner Grösse und der Ruhe die sein Schweben ausstrahlt.
Gott trägt seine Kinder, wie ein Kondor, zu seinem Hort, zu seiner Wohnstätte, nach Hause. Der Kondor baut sein Nest hoch oben in eine unzugängliche Felswand. Und so muss auch Mose hinaufsteigen, weit weg von jenen, die nach geglückter Flucht lagern, ruhen, warten...Dort oben ist die Einsamkeit, dort, umringt von Felshängen und tiefen Schluchten, spricht der zu ihm, der die Ursache allen Lebens ist. - Wer wollte ihm widersprechen?!, wer wollte sein Versprechen anzweifeln?!, wer den Bund den er gezeichnet?!, jenen Bund den er mit Abraham geschlossen hat und den er jetzt erneuert, jetzt da er aus diesem Haufen geflüchteter und verängstigter Ex-Sklaven ein Volk schmieden wird, sein Volk!
Der zu Mose spricht ist der selbe Gott der sich ihm zuvor, hier ganz in der Nähe, in einem brennenden Dornbusch offenbart hatte. Damals begann, was sich danach erfüllt und an diesem Berg sein vorläufiges Ende gefunden hat: die Befreiung. Jetzt wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, von jetzt an spricht dieser Gott von seinem auserwählten Volk. Und dieses Volk soll wissen, dass es seine Befreiung IHM zu verdanken hat, ER ist der Retter, ER ist der Kondor der seine Kinder sicher und wohlbehalten auf seinen Fittichen bis zum Fusse des Heiligen Berges getragen hat.
Stünde diese Geschichte nicht in der Bibel, könnten wir jetzt einen schönen Schluss erfinden... Aber wir wissen, dass es keine Befreiung um der Befreiung willen war, wir wissen, dass die Geschichte jetzt erst richtig beginnt. Gott verabschiedet sich nicht nach vollbrachter Rettungsaktion und überlässt die Flüchtlinge nicht ihrem „Schicksal“. ER, der Schöpfer Himmels und der Erde, der Herr über alle Völker, „schafft“ sich ein neues Volk aus ehemaligen Sklaven, aus Rechtlosen und Leibeigenen. Unter all den grossen und reichen Völkern dieser Erde, den mächtigen Imperien und Königreichen, erwählt er diesen „Haufen“, der unter den gegebenen Umständen sicherlich keinen all zu grossartigen Eindruck erweckt.
Wenn ich mir diese ganze Situation vorstelle, kommen mir spontan andere Bilder in den Sinn: die Hirten auf dem Felde, damals in Betlehem, die Geburt des Messias und sein späterer Weg der ihn immer wieder zu den Elenden und Ausgestossenen führte, immer auf Distanz zu den „Repräsentanten“ der weltlichen und religiösen Machtstrukturen.
Ist so Gott?, ist das Gott? Regiert er immer gegen den Strom? Wie sonst sollten wir sein Handeln verstehen...
Und wenn dieser Gott so ist, dann müssen wir auch damit rechnen, dass sein Handeln in der Welt sich nicht um unsere Wünsche, Sehnsüchte, Interessen und Vorstellungen richtet, sondern er will sich selbst bezeugen, so wie er ist, in der Geschichte eines neugebildeten, neugeformten, von ihm unter „Vertrag“ genommenen Volk.
Ein Volk von Priestern
Wir stellten fest, dass die Befreiung von der Sklaverei in Ägypten nicht um der Befreiung willen geschehen ist, sondern schon Teil des Gottesplanes für diese Menschen war. Eine Befreiung die in eine Beauftragung mündet, in eine Indienstnahme. Und diese Indienstnahme ist an bestimmte Bedingungen geknüpft: „Werdet ihr meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern...“ Es geht also um Gehorsam und Verantwortung: sie sollen ein Volk von Priestern sein, wie die Priester eines Tempels, so darf sich das Volk Israels Gott nahen, es soll ein lebendiges Zeugnis der Existenz Gottes in dieser Welt sein. Es soll sein was es in Wirklichkeit ist. Es ist die Berufung die es zu dem macht was es von jetzt ab sein soll.
Und deshalb müssen wir an dieser Stelle von uns reden: wir die wir durch Christi Tod und Auferstehung in diesen Bund mithineingenommen sind, die christliche Kirche, die christliche Gemeinde, ich als Christ...“...ihr seid das Salz der Erde..., ihr seid das Licht der Welt...“, sagt Jesus. Es ist also kein Imperativ, keine Aufforderung, sondern wir sind es, weil er uns dazu berufen hat.
Aber in der Geschichte der Kirche Christi gibt es wenig Licht, sie hat selten als Salz in der Welt gewirkt. Und wenn ich meine Gemeinde so anschaue, wenn ich mein eigenes Leben betrachte.., sind wir, bin ich wirklich Licht, Salz..., bin ich ein wahrer Zeuge von Gottes Liebe in dieser Welt...?
Wir sehen, dass wir – in unserem Versagen -, in unserem nicht hören, in unserem nicht tun, auf die Gnade und Vergebung Gottes angewiessen sind. So wie das auserwählte Volk Gottes immer wieder in seinem Priesterdienst gescheitert ist, so scheitern wir auch in dem was Martin Luther das „Priestertum aller Gläubigen“ genannt hat.
Dort oben auf dem Heiligen Berg schliesst Gott einen Bund, er schafft sich ein Volk und beruft es in seinen Dienst. Das Volk aber ist rebellisch, immer wieder, es murrt, es rennt anderen Göttern nach, es verübt Unrecht und unterdrückt, es verfolgt seine Profeten...Und dennoch: Gott hält an diesem Volk fest, er verlässt es nicht, sein Bund steht fest. Denn sollten wir daran zweifeln, müssten wir uns zwangsläufig fragen: kann man, können wir auf einen solchen Gott vertrauen?, einem Gott der sein Volk, das er erwählt hat, dem er sich offenbart hat, dem er seine Treue verheißen hat, verwirft? Wäre das nicht ein Gott, den wir fürchten müßten, vor dem wir erstarren müßten, aus Angst, daß auch unser Maß irgendwann voll wäre und er uns seine versprochene Treue entziehen würde? Wäre das ein Gott, dessen Verheißungen wir vertrauen, auf den wir im Leben und im Sterben hoffen könnten?
Und so kann die Erkenntnis, daß Gott sein Volk nicht verworfen hat, sondern bis heute in Treue zu ihm steht, meinen Glauben stärken und trösten. Kann ich so doch glauben, daß Gott treu zu seinen Verheißungen steht, die er uns Christen in seinem Sohn offenbart hat. So kann mein Glaube, meine Hoffnung mich tragen, da ich weiß, daß ich mich im Letzten auf Gott verlassen kann. Und so ist mir das Volk Israel ein Zeichen für die Treue Gottes, der sich auf seine Treue festgelegt hat, auf dessen Treue ich mich verlassen kann.
Amen.
Israel-Sonntag, warum liegt über dieser Bezeichnung so etwas wie ein dunkler Schatten? Warum verbinde ich mit diesem Sonntag Empfindungen wie Trauer, Schmerz, aber auch Scham und sogar Wut...?
Vor etlichen Jahren, so ziemlich am Anfang in meiner neuen Gemeinde, bereitete ich mich auf den Gottesdienst des 10. Sonntag nach Trinitatis vor. Sollte ich „Israel“ zum Thema machen, oder es einfach übergehen, einen alternativen Text aussuchen...?, angeblich hatte mein Vorgänger so seine Probleme mit diesem Thema...Ich wagte es und sprach in der Predigt über die Unverbrüchlichkeit des Bundes Gottes mit seinem auserwählten Volk. Am Ausgang erwartete mich ein Gemeindeglied mit ernster Mine und gab mir zu verstehen, dass er „solche Worte“ in „seiner“ Kirche nicht mehr hören wolle. Ohne mir Gelegenheit zur Antwort zu geben, ging er davon und eine andere Person reichte mir die Hand und sagte: „vielen Dank für diese klärende Predigt, das hat gut getan...“
Israel-Sonntag, gerade für uns Protestanten ein schwerer Rucksack, gefüllt mit grossen Steinen. Noch in meiner Konfirmandenzeit, in den siebziger Jahren, also nach Holocaust und „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, lehrte uns der Pfarrer, dass die Zerstörung Jerusalems durch die Römer und die daraus resultierende Zerstreuung des jüdischen Volkes die Strafe Gottes war, weil Israel Jesus nicht als seinen Messias anerkennen wollte.
Seit dieser „Urerfahrung“ in meiner Gemeinde sind mittlerweile einige Jahre vergangen und wir konnten gemeinsam Schritte in eine neue und gute Richtung gehen. Für den Israel-Sonntag 2011 ist uns das selbe Wort aufgetragen, für das ich damals sowohl Tadel als auch Lob erntete.
Textlesung: 2. Mose 19, 1 – 6
Ein starkes Wort
Wer „böse Absichten“ verfolgt, kann daraus ein Hetzwerk gegen Israel im allgemeinen und die Juden im besonderen zusammenschustern. Und wieder muss ich an meine Jugendzeit denken. Ich kam vom Konfirmadenunterricht nach Hause. Mein Grossvater, ein gestandener Pietist und ehemaliges Mitglied der Bekennenden Kirche, wollte wissen, was uns der Pfarrer so beigebracht hat. An seiner Stimme und seinem Gesicht konnte ich leicht erkennen, ob und wie weit der Unterricht auf seine Zustimmung stiess. Gerade das Thema Israel und seine Erwählung als Volk Gottes, und was man uns darüber eintrichterte, brachte ihn in Harnisch. So schrieb er einmal an den Kirchengemeindrat einen Brief, dessen Kopie ich heute noch aufbewahre: „...vergangene Woche war der Trauertag „Tischa be Aw“, der neunte Tag des jüdischen Monats Aw, ein Tag an dem all das Leid, das über dieses Volk hinwegzog und sich tief in seine Seele eingebrannt hat, in einem Punkt verdichtet: am 9. Aw wurde der erste Tempel in Jerusalem durch die Babylonier zerstört, am 9. Aw zerstörten römische Truppen den zweiten Tempel in Jerusalem und richteten unter den Bewohnern des Dorfes Bethar ein Gemetzel an, am 9. Aw des Jahres 1290 wurden die Juden aus England vertrieben, ebenso fast 200 Jahre später aus Spanien. Am 9. Aw begann der Erste Weltkrieg, in dem viele jüdische Soldaten auch auf deutscher Seite kämpften und starben. Auch am 9. Aw der Jahre 1942, 43 und 44 stand eine schwarze Wolke über den Krematorien von Auschwitz. Es ist an der Zeit, dass wir Christen unsere Überheblichkeit, so als ob Gott seinen Bund mit Israel gebrochen und ihn stattdessen auf die christl. Kirche übertragen hätte, eintauschen gegen eine aufrichtige Busse und brüderliche Solidarität...“
Ja, es ist ein starkes Wort und, wie andere Bibelstellen auch, wurde es viele Jahrhunderte lang missbraucht, bewusst uminterpretiert, seine Botschaft manipuliert. Die Kirche und ganz besonders ihre Führer haben schwere Schuld auf sich geladen. Ja, als Busstag sollten wir diesen Sonntag begehen, als Busstag der uns einen Neuanfang schenkt und ermöglicht. Nur so werden wir die Wahrheit erkennen, nur so werden wir Gottes Handeln in und durch Israel verstehen, nur so werden wir als christliche Kirche unseren Platz in der Welt finden.
Ein starkes Wort!, weil es so viel über Gottes Plan in dieser Welt aussagt. Gott befreit, er befreit diejenigen die unfrei sind, die in demütigender Abhängigkeit existieren, es ist als ob dieser Gott jegliche Art von Ungerechtigkeit verabscheut, sie ist ihm zuwider. Wer in Abhängikeit lebt ist seiner Würde beraubt, denn Menschenwürde hat zuallererst mit Freiheit zu tun.
Und nun sind sie „frei“, die unfrei waren, nun lagern sie in der Wüste, unweit des Heiligen Berges. Sie sind nicht in Panik in alle Richtungen davon gerannt, nur raus aus Ägypten, sondern sie wurden hierher geleitet, geführt, wie „auf Adlers Fitichen“ getragen.
Auf Adlers Flügeln
Der wohl grösste flugfähige Vogel der Erde ist der Kondor. Auf meinen langen Fahrten durch die patagonischen Anden konnte ich ihn schon des öfteren beobachten. Er ist in der Lage mehrere tausend Kilometer ohne Zwischenlandung zurückzulegen, er ruht während des Fluges. Ich bin immer wieder zutiefst beeindruckt von seiner Grösse und der Ruhe die sein Schweben ausstrahlt.
Gott trägt seine Kinder, wie ein Kondor, zu seinem Hort, zu seiner Wohnstätte, nach Hause. Der Kondor baut sein Nest hoch oben in eine unzugängliche Felswand. Und so muss auch Mose hinaufsteigen, weit weg von jenen, die nach geglückter Flucht lagern, ruhen, warten...Dort oben ist die Einsamkeit, dort, umringt von Felshängen und tiefen Schluchten, spricht der zu ihm, der die Ursache allen Lebens ist. - Wer wollte ihm widersprechen?!, wer wollte sein Versprechen anzweifeln?!, wer den Bund den er gezeichnet?!, jenen Bund den er mit Abraham geschlossen hat und den er jetzt erneuert, jetzt da er aus diesem Haufen geflüchteter und verängstigter Ex-Sklaven ein Volk schmieden wird, sein Volk!
Der zu Mose spricht ist der selbe Gott der sich ihm zuvor, hier ganz in der Nähe, in einem brennenden Dornbusch offenbart hatte. Damals begann, was sich danach erfüllt und an diesem Berg sein vorläufiges Ende gefunden hat: die Befreiung. Jetzt wird ein neues Kapitel aufgeschlagen, von jetzt an spricht dieser Gott von seinem auserwählten Volk. Und dieses Volk soll wissen, dass es seine Befreiung IHM zu verdanken hat, ER ist der Retter, ER ist der Kondor der seine Kinder sicher und wohlbehalten auf seinen Fittichen bis zum Fusse des Heiligen Berges getragen hat.
Stünde diese Geschichte nicht in der Bibel, könnten wir jetzt einen schönen Schluss erfinden... Aber wir wissen, dass es keine Befreiung um der Befreiung willen war, wir wissen, dass die Geschichte jetzt erst richtig beginnt. Gott verabschiedet sich nicht nach vollbrachter Rettungsaktion und überlässt die Flüchtlinge nicht ihrem „Schicksal“. ER, der Schöpfer Himmels und der Erde, der Herr über alle Völker, „schafft“ sich ein neues Volk aus ehemaligen Sklaven, aus Rechtlosen und Leibeigenen. Unter all den grossen und reichen Völkern dieser Erde, den mächtigen Imperien und Königreichen, erwählt er diesen „Haufen“, der unter den gegebenen Umständen sicherlich keinen all zu grossartigen Eindruck erweckt.
Wenn ich mir diese ganze Situation vorstelle, kommen mir spontan andere Bilder in den Sinn: die Hirten auf dem Felde, damals in Betlehem, die Geburt des Messias und sein späterer Weg der ihn immer wieder zu den Elenden und Ausgestossenen führte, immer auf Distanz zu den „Repräsentanten“ der weltlichen und religiösen Machtstrukturen.
Ist so Gott?, ist das Gott? Regiert er immer gegen den Strom? Wie sonst sollten wir sein Handeln verstehen...
Und wenn dieser Gott so ist, dann müssen wir auch damit rechnen, dass sein Handeln in der Welt sich nicht um unsere Wünsche, Sehnsüchte, Interessen und Vorstellungen richtet, sondern er will sich selbst bezeugen, so wie er ist, in der Geschichte eines neugebildeten, neugeformten, von ihm unter „Vertrag“ genommenen Volk.
Ein Volk von Priestern
Wir stellten fest, dass die Befreiung von der Sklaverei in Ägypten nicht um der Befreiung willen geschehen ist, sondern schon Teil des Gottesplanes für diese Menschen war. Eine Befreiung die in eine Beauftragung mündet, in eine Indienstnahme. Und diese Indienstnahme ist an bestimmte Bedingungen geknüpft: „Werdet ihr meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern...“ Es geht also um Gehorsam und Verantwortung: sie sollen ein Volk von Priestern sein, wie die Priester eines Tempels, so darf sich das Volk Israels Gott nahen, es soll ein lebendiges Zeugnis der Existenz Gottes in dieser Welt sein. Es soll sein was es in Wirklichkeit ist. Es ist die Berufung die es zu dem macht was es von jetzt ab sein soll.
Und deshalb müssen wir an dieser Stelle von uns reden: wir die wir durch Christi Tod und Auferstehung in diesen Bund mithineingenommen sind, die christliche Kirche, die christliche Gemeinde, ich als Christ...“...ihr seid das Salz der Erde..., ihr seid das Licht der Welt...“, sagt Jesus. Es ist also kein Imperativ, keine Aufforderung, sondern wir sind es, weil er uns dazu berufen hat.
Aber in der Geschichte der Kirche Christi gibt es wenig Licht, sie hat selten als Salz in der Welt gewirkt. Und wenn ich meine Gemeinde so anschaue, wenn ich mein eigenes Leben betrachte.., sind wir, bin ich wirklich Licht, Salz..., bin ich ein wahrer Zeuge von Gottes Liebe in dieser Welt...?
Wir sehen, dass wir – in unserem Versagen -, in unserem nicht hören, in unserem nicht tun, auf die Gnade und Vergebung Gottes angewiessen sind. So wie das auserwählte Volk Gottes immer wieder in seinem Priesterdienst gescheitert ist, so scheitern wir auch in dem was Martin Luther das „Priestertum aller Gläubigen“ genannt hat.
Dort oben auf dem Heiligen Berg schliesst Gott einen Bund, er schafft sich ein Volk und beruft es in seinen Dienst. Das Volk aber ist rebellisch, immer wieder, es murrt, es rennt anderen Göttern nach, es verübt Unrecht und unterdrückt, es verfolgt seine Profeten...Und dennoch: Gott hält an diesem Volk fest, er verlässt es nicht, sein Bund steht fest. Denn sollten wir daran zweifeln, müssten wir uns zwangsläufig fragen: kann man, können wir auf einen solchen Gott vertrauen?, einem Gott der sein Volk, das er erwählt hat, dem er sich offenbart hat, dem er seine Treue verheißen hat, verwirft? Wäre das nicht ein Gott, den wir fürchten müßten, vor dem wir erstarren müßten, aus Angst, daß auch unser Maß irgendwann voll wäre und er uns seine versprochene Treue entziehen würde? Wäre das ein Gott, dessen Verheißungen wir vertrauen, auf den wir im Leben und im Sterben hoffen könnten?
Und so kann die Erkenntnis, daß Gott sein Volk nicht verworfen hat, sondern bis heute in Treue zu ihm steht, meinen Glauben stärken und trösten. Kann ich so doch glauben, daß Gott treu zu seinen Verheißungen steht, die er uns Christen in seinem Sohn offenbart hat. So kann mein Glaube, meine Hoffnung mich tragen, da ich weiß, daß ich mich im Letzten auf Gott verlassen kann. Und so ist mir das Volk Israel ein Zeichen für die Treue Gottes, der sich auf seine Treue festgelegt hat, auf dessen Treue ich mich verlassen kann.
Amen.
Perikope