Predigt zu 2. Mose 19, 1-6 von Walter Meyer-Roscher
19,1
„Es kommen härtere Tage.
  Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont…
  Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück.
  Es kommen härtere Tage.“
Ingeborg Bachmann hat schon vor Jahren geahnt, was uns erwartet. Wer macht sich da schon gern auf den Weg in eine dunkle und zunehmend unberechenbare Zukunft? Lieber bleiben wir doch, wo wir sind und halten fest, was wir haben: Erworbene Rechte und Besitzstände, wirtschaftliche Sicherheit, technische Errungenschaften, liebgewordene Lebensgewohnheiten.
Aber es gibt kein Verweilen in dem, was ist, und niemand kann nur vom Festhalten leben – keiner von uns und keine Gemeinschaft von Menschen. Die Dynamik der Veränderungen, denen wir ausgesetzt sind, zieht uns mit. Die Entwicklung aller Lebensbereiche geht weiter, und wir können nicht stehen bleiben.
Längst hat uns eingeholt, was Ingeborg Bachmann geahnt hat: es kommen härtere Tage. Ja, das erfahren wir durchaus schmerzhaft. Die Dynamik der Veränderungen birgt ja in sich nicht nur Fortschritte, sondern auch ein großes Zerstörungspotential. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt sprengt bisher tief verwurzelte ethische Grenzziehungen, beispielsweise im Bereich der Gentechnologie. Die globalisierte Wirtschaft, die unser Bruttosozialprodukt bisher hat wachsen lassen, zeigt längst ihr egoistisches Gesicht. Der Griff nach dem schnellen Geld verwüstet ganze Volkswirtschaften, verwüstet mitmenschliches und gesellschaftliches Zusammenleben. Die Freizeitaktivitäten der jungen Menschen verengen sich mehr und mehr auf das Bedienen der Tastaturen in einer digitalen Medienwelt. Viele konsumieren dann nur noch und lassen sich manipulieren. Die Älteren haben längst den Überblick verloren. Orientierungslosigkeit macht sich breit.
Es kommen härtere Tage, aber trotz dieser Zukunftsaussichten gibt es kein Stehenbleiben. Ingeborg Bachmann hat  Recht, wenn sie den entschlossenen Aufbruch fordert: schnür deinen Schuh, jag die Hunde zurück, die dich und deine Besitzstände bewachen. Du musst allein ohne Schutz und Begleitung weiter gehen – auf einen Horizont zu, der dir anzeigt: deine Zeit ist endlich, ist dir auf Widerruf gestundet. Nutze sie! Schnür deinen Schuh und geh! Aber sieht dich nicht um!
Wer kann das schon, wenn er den Überblick verloren und keine Orientierungszeichen mehr im Blick hat, wenn er nur auf einen fernen Horizont zugehen muss und ahnt: es ist der Horizont einer nur auf Widerruf gestundeten Zeit? Ein Aufbruch ohne Hoffnung wäre ein Akt der Verzweiflung.
Hoffnung aber speist sich immer nicht zuletzt aus der Erinnerung. Darum wollen wir uns durchaus umsehen – nicht um Besitzstände festzuhalten, sondern um uns zu erinnern. Unser Glaube ist geradezu eine Einladung, sich an Geschichten des Aufbruchs zu erinnern, die Hoffnung machen und Orientierung ermöglichen.
Die Geschichte des Aufbruchs aus der Sklaverei in Ägypten und der Wüstenwanderung des Volkes Israel zum Sinai ist solch eine Hoffnungsgeschichte. Sie erzählt von einem unendlich langen und unendlich gefahrvollen, ganz und gar unsicheren Weg, der vor den Menschen liegt, die gerade der Versklavung aller Lebensbereiche und Lebensregungen entronnen sind. Der Aufbruch war notwendig, aber das Ziel ist nicht zu sehen, weit weg. Viel zu weit weg, denken sie. Wer wird es erreichen angesichts einer nur auf Widerruf gestundeten Zeit? Müssen sie diesen Weg ohne Begleitung, ohne Schutz, ohne Orientierung gehen? Fragen, die sich aufdrängen während sie am Sinai lagern und miterleben, dass Mose auf  den Berg steigt.
Hinauf zu Gott, sagt der Erzähler. Aber ist der da oben wirklich zu finden? Hörbar, erfahrbar ist nur seine Stimme. Doch es lohnt sich, auf sie zu hören. Was Gott zu sagen hat, klingt wie eine werbende Einladung: Erinnert euch an eure Befreiung aus Sklaverei und Knechtschaft. Ihr habt doch schon erfahren, wie ich euch auf Adlers Flügeln getragen habe. ein eindrückliches Bild von Fürsorge und Geborgenheit. Das soll so bleiben. Ihr sollt mein Eigentum sein vor allen Völkern, aber das bedeutet für euch auch, dass ihr meiner Stimme gehorcht und meinen Bund haltet, dass ihr euch meinen Geboten verpflichtet wisst.
Wer auf Gottes Stimme achtet und sie hört, kann auch in den rasanten Veränderungen unserer Gesellschaft und unserer Welt sich die Freiheit bewahren, nicht alles mitzumachen und gut zu  heißen, was uns an technischen Innovationen, an Erfolgs- und Leistungsdenken, aber eben auch an egoistischem Verhalten zugemutet wird. Die eigene Menschenwürde von Gott bejaht wissen und die Würde unserer Mitmenschen bedingungslos achten – das schafft schon freie Lebensräume, in denen Aufbrüche aus Zwängen und Einengungen, Neuanfänge und mutiges Weitergehen möglich sind.
Seine Nähe und seine Begleitung hat Gott zugesagt. Das Volk Israel hat sie damals auf der Wanderung durch die Wüste am Tag in der Wolkensäule und des Nachts in der Feuersäule gesehen. Das musste genügen. Das genügt auch, wenn wir durch manche Verwüstungen auf den weiten Horizont zugehen, den Gott uns zeigt, und die Zeit nutzen, die er uns gibt. Orientierungszeichen sind seine Gebote, die uns verpflichten, alles zu tun, was Leben und mitmenschliches Zusammenleben fördert und anzugehen gegen alles, was Leben verhindert und zerstört.
Ihr sollt mein Eigentum sein. Diese Zusage begleitet uns, wie sie das Volk Israel begleitet hat. Mein Eigentum vor allen Völkern, sagt Gott, ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk,
Wir tun uns schwer mit einer programmatisch verkündeten Erwählung zu einem Volk vor allen anderen Völkern. Wir wissen aus unserer eigenen jüngsten Geschichte, wozu ein falsch verstandener Erwählungsglaube fähig ist. Der Holocaust, die millionenfache systematische Vernichtung jüdischen Lebens und die schrecklichen Zerstörungen, die Opfer und die Leiden, die unser Volk zu verantworten hat, sind eine unüberhörbare Warnung. Und gegenwärtig erleben wir immer noch „Heilige Kriege“, die angeblich auf Grund göttlicher Erwählung und in göttlichem Auftrag geführt werden. Soll das denn nie ein Ende haben?
Wir sollten uns endlich bewusst machen: Gottes Erwählung von Menschen zu seinem Eigentum darf niemals und unter keinen Umständen mit rassistischem Hochmut, Ausgrenzung und Gewalt beantwortet werden. Gottes Erwählung ist und bleibt eine Einladung, seiner Stimme zu gehorchen und seine Gebote zu halten.
So hat auch der am Sinai geschlossene Bund mit Israel seine Gültigkeit behalten. Seine Zusage hat Gott nie zurückgenommen, seine Treue hat er nicht aufgekündigt. Israel bleibt Gottes Volk.
Aber die einmal gezogenen und beschworenen Grenzen sind aufgehoben. Wir gehören dazu, wenn wir Gottes Stimme hören, uns von Christi Geist der Liebe und der Versöhnung leiten lassen, wenn wir uns an Gottes Geboten als Lebenszeichen orientieren. Das Volk, das Gott zum Eigentum erwählt hat, wird nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Rasse oder Ethnie bestimmt, sondern durch das gemeinsame Hören auf Gottes Stimme und das gemeinsame Befolgen seiner Gebote. So ist Gottes Volk eine weltweite und grenzenlose, eine offene und einladende Gemeinschaft geworden- offen für alle, die dazugehören wollen.
In dieser Gemeinschaft muss niemand allein die härteren Tage bestehen, können wir uns gemeinsam an Gottes Lebenszeichen orientieren und Gottes Gebote in Taten der Barmherzigkeit, im Einstehen für Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit umsetzen, um die auf Widerruf gestundete Zeit zu nutzen.
Von Gott zu seinem Eigentum erklärt zu sein, von ihm wie auf Adlers Flügeln getragen und geleitet zu werden, ist weniger ein Vorrecht als eine Einladung und eine Verpflichtung, allen Stimmen des Fanatismus, der Abgrenzung und Gewalt eine Absagte zu erteilen. Gottes Stimme mahnt zum Frieden – gerade zwischen denen, die sich auf ihn berufen.
  Amen.
Perikope
28.08.2011
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