Predigt zu 2. Mose 32,7-14 von Hans-Hermann Jantzen
32,7-14

7          Da sprach der Herr zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt.

8          Sie sind schnell von  dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.

9          Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist.

10       Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge. Dafür will ich dich zum großen Volk machen.

11       Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott, und sprach: Ach Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast?

12       Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst.

13       Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig.

14       Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.

Liebe Gemeinde,

„Lasst uns beten und Fürbitte halten!“ So hören wir es Sonntag für Sonntag gegen Ende des Gottesdienstes vom Altar. Das wird auch nachher wieder so sein. Und dann folgt das Fürbittengebet für Menschen in Not, für Randgruppen in unserer Gesellschaft, für den Frieden in der Welt, für unsere Kirche. Haben Sie sich eigentlich schon mal gefragt, welchen Sinn das hat? Nützt das überhaupt irgendjemandem, wenn wir hier in der Kirche für ihn beten?

Die Fürbitte ist seit alters ein fester und wesentlicher Bestandteil des christlichen Gottesdienstes. Ja, die Wurzeln reichen noch viel tiefer zurück in den jüdischen Gottesdienst. Von Anfang an gehört es zum biblischen Gottesglauben dazu: Unser Gott lässt sich bitten! Wir können bei ihm mit unserem Gebet für andere eintreten. Und er lässt sich umstimmen! Es ist eine uralte Erfahrung des Gottesvolkes, die sich durch die ganze Bibel und weiter bis heute durchzieht: das Gebet für andere ist nicht umsonst, es bewirkt etwas.

Unsere Predigtgeschichte aus dem 2.Buch Mose ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür. Im Grunde eine wahnsinnige Geschichte. Die Sachlage ist klar, die Schuldfrage eindeutig. Das Volk Israel hat sich von dem einen, dem einzig wahren Gott abgewandt. Vielleicht war es den Leuten langweilig geworden, weil Mose gar nicht vom Berg Sinai zurückkam. Vielleicht waren sie es auch leid, immer nur zu einem unsichtbaren Gott zu beten. Sie wollten etwas Handfestes, Sichtbares. Und so hatten sie ihren Schmuck zusammengelegt und sich ein goldenes Stierbild gegossen, so wie es die Völker ringsum auch hatten. Es konnte ja nicht schaden, mehrere „Eisen im Feuer“ zu haben. Klare Sache also: Übertretung des 1. Gebots. Und das nicht der Not gehorchend oder aus einer augenblicklichen Gefühlsregung heraus – im Affekt, würden wir heute sagen -, sondern vorsätzlich.

„Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist,“ sagt Gott zu Mose. Ein anschauliches Bild. Immer wieder macht dieses Volk den Nacken steif, versteift sich auf die eigenen Wege und stemmt sich gegen Gottes Führung. Nun ist Gottes Geduld am Ende. „Lass mich in Ruhe,“ fährt er Mose zornig an. Dieses doppelte Spiel will er sich nicht länger bieten lassen. „Mein Zorn soll über sie entbrennen, und ich will sie vernichten.“ Strafe muss sein.

Und nun geschieht das Unglaubliche: Mose fällt Gott in den Arm. Er will sich nicht damit abfinden, dass die Vernichtung des Volkes Israel Gottes letztes Wort sein soll. Und so ringt er mit Gott, um ihn von seinem Beschluss abzubringen. Dabei zieht er alle Register. Er packt Gott bei seiner Ehre: „Was sollen denn die Ägypter denken? Die machen sich über dich lustig, wenn sie erfahren, dass du dein Volk nach der großartigen Befreiungsaktion aus der Sklaverei jetzt hier im Gebirge, in der Wüste umkommen lässt. Du machst dich selber unglaubwürdig.“ Und Mose erinnert Gott an seine eigenen Verheißungen, die er den Glaubensvätern Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat (er benutzt den Ehrennamen Israel, das ist noch wirkungsvoller!) : viele Nachkommen und das gelobte Land, wo sie in Frieden leben sollen. Das darf doch kein leeres Versprechen bleiben! – Das Ergebnis dieses Gebetskampfes ist umwerfend: „Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.“ (V. 14) Durch die Fürbitte eines Einzelnen lässt Gott sich zur Gnade für ein  ganzes Volk bewegen.

Liebe Gemeinde, darf man so mit Gott umspringen? Darf man so „alles, was Recht ist“, auf den Kopf stellen? Müssen wir nicht irgendwo auch Gottes Heiligkeit respektieren und das Gericht, das er über schuldig Gewordene verhängt hat, akzeptieren?

Und überhaupt: die Geschichte ist doch viel zu schön, um wahr zu sein! So läuft das doch nicht mit dem Gebet. Wir machen doch ganz andere Erfahrungen. Wir beten für den todkranken Freund oder Ehepartner – und er stirbt doch. Wir beten für mehr soziale Gerechtigkeit – und die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auseinander. Wir beten für den Frieden in Syrien, in Zentralafrika oder der Ukraine – und die Konfliktparteien schlagen unvermindert weiter aufeinander ein. – Ernsthafte Fragen an unsere Predigtgeschichte. Erst wenn wir darauf eine Antwort gefunden haben, kann sie auch zu unserer Geschichte werden.

Also fragen wir: Kann man so unverschämt auf Gott einreden und den Verlauf der Geschichte oder eines persönlichen Geschicks umkehren wollen?

Hinter der Fürbitte des Mose steht die Erfahrung des Volkes Israel: Gott ist treu und steht zu seinen Verheißungen! Er liebt seine Menschen. Darum kann er nicht von ihnen lassen. Mose argumentiert mit Gottes eigenen Worten und Taten. Er weiß: der zornige Gott, der strafende Gott, das ist nur die eine Seite. Er kennt auch die andere Seite: den barmherzigen, den liebenden Gott. Mose lässt nicht gelten, dass Gott die Liebesgeschichte mit seinem Volk einfach abbricht. In seiner Verzweiflung spielt er gewissermaßen Gott gegen Gott aus. Er behaftet Gott bei seiner Liebe, um seinen Zorn zu besänftigen. – Viel später hat Martin Luther das so gesagt: Wir sollen Gott mit seinen Verheißungen die Ohren reiben und uns vor dem Zorn Gottes in seine liebenden Arme flüchten.

Ich bin überzeugt davon: das ist unsere einzige Überlebenschance. Wenn es nach Recht und Gesetz geht, haben wir das Strafgericht mehr als verdient. Wie oft sind wir von Gottes Wegen abgewichen und haben uns anderen Göttern zugewandt: dem technischen Größenwahn, der nationalen Ehre, dem Geld. Was ist der Tanz um den goldenen Dax heute Anderes als der Tanz um das goldene Kalb damals! Darüber  haben wir den Gott, der es einzig gut mit uns meint und uns wahres Leben schenken will, vergessen. Es wäre jedenfalls nur recht und billig, wenn Gott uns ins Verderben rennen ließe.

Er tut es nicht! Nach Mose ist noch ein anderer gekommen, der mit seinem Leben für die Menschen eingetreten ist: Jesus. Sein Kreuz ist zum weithin sichtbaren Zeichen dafür geworden, dass Gott sich umstimmen lässt. Indem er sich am Ostermorgen zu diesem Jesus bekannt hat, ist endgültig aus dem zornigen Gott der liebende Gott geworden. Im Namen dieses Jesus dürfen wir Gott beim Wort nehmen, dürfen ihm in den Ohren liegen und ihn an seine Verheißungen erinnern. Ja, es ist unsere Aufgabe als Christen, dies auch und gerade für die zu tun, die nicht mehr beten können. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir weiterhin geführt und getragen werden, auch durch das Gericht hindurch.

Damit bin ich bei meiner zweiten Frage. Was nützt alle Fürbitte, wenn das Unheil trotzdem eintritt? Wenn Menschen sterben müssen, für die wir gebetet haben? Wenn das Geld weiterhin die Welt regiert und das Böse überall sein hässliches Gesicht zeigt? Lässt Gott sich wirklich durch unser Gebet beeinflussen?

Natürlich ist das Gebet kein Automat, der automatisch das gewünschte Ergebnis hervorbringt. Auch das können wir von Jesus lernen. Er hat sich im Garten Gethsemane durch seine Todesangst hindurchgekämpft zu dem vertrauensvollen Satz: „Nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.“ Aber das Andere stimmt eben auch, dass die Dinge dieser Welt anders laufen, wenn wir sie ins Gebet nehmen; wenn wir unsere Klage über Missstände und unsere Sorge um die Menschen vor Gott bringen! Menschen, die Leid und Kummer zu tragen haben, Kranke oder Sterbende haben mir oft bestätigt, dass Gebete nicht ins Leere gehen. Wenn ich zu ihnen sagte: „Sie sollen wissen, dass ich für Sie bete.“, dann nickten sie und antworteten: „Ja, das spüre ich, und das tut gut.“

Das gilt im Kleinen wie im Großen. Der Kirchenvater Aristides (2. Jh.) hat einmal gesagt: „Die Welt besteht nur durch das flehentliche Gebet der Christen noch fort.“ Ich glaube, da ist viel dran. Betende Hände vermögen viel, viel mehr jedenfalls, als manche vermuten.

Man muss kein Mose sein, um für andere zu beten. Unsere Predigtgeschichte ist eine Mutmachgeschichte für uns, dass wir nicht locker lassen, für die Welt und die Menschen zu beten; dass wir Gott in den Ohren liegen und ihn an seine Barmherzigkeit erinnern.

Darum lasst uns nicht aufhören zu beten – für die Menschen, die uns am Herzen liegen; für die vielen Namenlosen, die in Not sind, die gedemütigt, verfolgt und gequält werden. Unsere Gebete sollen den Machthabern dieser Welt in den Ohren gellen, dass sie zur Vernunft kommen und jeden Menschen als Ebenbild Gottes achten.

Lasst uns nicht aufhören, für diese Welt zu beten und Gott und uns selber daran zu erinnern, dass sie doch seine gute Schöpfung ist, die es wert ist, erhalten zu werden.

Und lasst uns nicht aufhören, für unsere Kirche zu beten, für Gottes eigenes Volk. Wir wissen doch am besten, wie halsstarrig wir oft sind; wie schnell wir von Gottes Wegen abweichen und andere Götter auf den Altar heben. Wir alle haben die Fürbitte bitter nötig.

Für andere beten ist Arbeit. Noch einmal Martin Luther: „Ich habe heute viel zu tun, darum muss ich viel beten.“ Aber die Mühe lohnt sich. Die Fürbitte nimmt uns in die Verantwortung vor Gott und vor den Menschen. Solange wir für Menschen beten, halten wir die Beziehung untereinander und mit Gott aufrecht. Solange wir für die Welt und die Kirche beten, halten wir die Möglichkeit zur Veränderung offen. Solange wir für andere beten, haben wir die Menschen, die Welt, die Kirche nicht aufgegeben. So verändert die Fürbitte uns und die Welt.

Amen.

Perikope
25.05.2014
32,7-14