Predigt zu 2. Mose 34,4-10 von Ralph Hochschild
34,4-10

Predigt zu 2. Mose 34,4-10 von Ralph Hochschild

4 Und Mose hieb zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, und stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. 5 Da kam der HERR hernieder in einer Wolke, und Mose trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an. 6 Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, 7 der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied! 8 Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an 9 und sprach: Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein. 10 Und der HERR sprach: Siehe, ich will einen Bund schließen: Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des HERRN Werk sehen; denn wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde.

Herr, segne unser Reden und Hören. Amen.

Liebe Gemeinde,

er bleibt einen Moment stehen. In der gleißenden Morgensonne kneift er die Augen zusammen. Auf seiner Stirn glitzern kleine Schweißperlen, die sich eben in kleine, salzige Rinnsale verwandeln wollen. Er wischt sich mit dem Arm über die Stirn. Durchatmen. Einen kühlenden Wind abwarten. Er spürt seinen schnellen Herzschlag und die Anstrengung, wieder einmal auf über 2200 Meter hinauf zu müssen, wieder etwas gut machen zu müssen, wieder neu anfangen zu müssen.

“So hatte ich mir das nicht vorgestellt” - müsste Mose bei diesem weiteren Gang auf den Sinai eigentlich denken. “Noch einmal muss ich hoch. Das hätte ich nicht gedacht, dass meinem Volk so schnell die Freiheit lästig wird - eben aus der Knechtschaft in Ägypten entronnen. Das hätte ich nicht gedacht, wie schnell aus dem Lied der Freiheit bei der ersten Schwierigkeit ein Knurren und Murren wird. Das hätte ich nicht gedacht, wie schnell die Erfahrung des lebendigen, des rettenden Gottes verblasst und auf einmal der Glanz des Goldenen Kalbes Gottes Geleit gewiss machen soll. Was für ein Irrtum, was für ein Fehltritt, was für ein Unrecht! Ich könnte dieses halsstarriges Volk beim Genick packen und schütteln, bis sie es begreifen.”

Er spürt die Riemen seines Traggestells in seine Schultern schneiden. Zwei Steintafeln, dick wie unsere Küchenplatten, drücken schwer auf seinen Rücken. Er spürt die Lasten, die er trägt. Die Last der Verantwortung für dieses Volk. Und die Lasten seiner eigenen Vergangenheit. Seine Wut, die ihn den prügelnden Ägypter erschlagen ließ, die ihn zum Flüchtling machte. Seinen Zorn auf den Tanz um das Goldene Kalb, der ihn die ersten Gesetzestafeln zerschlagen ließ, wie er sie hoch über den Kopf erhob, auf den Boden warf und Gottes Bund mit seinem Volk zerschlug. Jetzt hat er Gottes Tafeln nicht mehr zornig über den Kopf erhoben, jetzt drücken sie ihn nach unten, die Riemen scheuern, rühren an die alten Wunden.

Immer wieder hinauf. Immer wieder anfangen. Immer wieder mit dem Unglauben dieses halsstarrigen Volkes kämpfen. Ob er sich wohl wie Sisyphos fühlt, Mose, als er seine Steine Schritt für Schritt, als er seine Lasten mit Hand und Fuß nach oben auf den Gipfel stemmt? Ein mühevoller Weg, eine Plage, ein unmöglicher Auftrag, eine absurde Strafe?

Immer wieder das alte Lied. Ich erkenne unsere Frustrationen in Mose’ Enttäuschung, in seiner Not unsere Lasten. Meine Abteilung, die sich nicht so mitziehen lässt, wie ich es gerne hätte, mein Vorstand, der meinen Ideen nur zögernd folgen will. Dieses System von Regeln und Zwängen, die mich fesseln. Mein Klient, der mir immer wieder misstraut. Meine Eltern, die sich dem Neuen, das mir so viel bedeutet, schlicht verschließen, und nicht wirklich akzeptieren können, was mir als jungem Menschen viel bedeutet. Immer wieder anfangen, immer wieder kämpfen, immer wieder hinauf - Oder doch aufgeben? Aussteigen? Die Steine loslassen, die Lasten abwerfen, die Tafeln ein zweites Mal zerbrechen?

Ein wenig beneide ich Mose um die Energie, mit der er trotz allem den Berg hinaufgeht. Schritt für Schritt, trotz Schweiß und Staub, trotz der Affäre um das Goldene Kalb. Hinauf und hinaus! Aus einer durch den menschlichen Kleinglauben zerstörten Wüstenei hinauf in die Einsamkeit des Berges, aus der Gemeinschaft der aus dem Rausch erwachenden Menge hinaus in die Einsamkeit, aus dem Fest der Abgötterei hinauf zum wahren Gott. Es ist, als könne der “Kampf gegen (diesen) Gipfel … (s)ein Menschenherz” ausfüllen. Es ist ein Aufbegehren gegen die Erfahrung von Absurdität - jeder Schritt bergauf, eine Revolte gegen die Erfahrung der Sinnlosigkeit - jeder Schritt des Mose, eine Rebellion gegen die Irritationen, die er mit seinem Volk, mit seinem Auftrag und mit seinem Glauben erlebt hat - jeder seiner Schritte bergauf. Ich stelle mir Mose als glücklichen Menschen vor, der sein Glück sucht und der es findet, als er am Gipfel spürt: ”Mein Weg und der Weg meines Gottes haben jetzt zueinander gefunden.”

Oben auf dem Gipfel erkennt Mose einen anderen Gott als ihn sein Volk am Fuß des Berges suchte. Anders als das Goldene Kalb ist sein Bild kein wunderbares, herrliches Kunstwerk. Gott bleibt in der Wolke verborgen, es zeigt sich keine Schimäre, keine Figur, kein Bild, Gott bleibt frei und zwingt uns nicht unter die Macht eines Bildes. Gott kann nicht wie jenes Kultbild still und starr auf einem Podest stehen. Unser Gott ist in Bewegung und kommt zu uns herab. Hier in der Wolke, später für uns Christen in Jesus Christus, und er spricht durch sein Wort auch heute in unser Leben hinein. Er ist nicht wie jenes goldene Stierbild fest fixiert und ewig unverändert. Unser Gott begibt sich in die Zeit, in unser menschliches Leben mit seinen Irrtümern und Fehltritten und geht auf unseren Wegen mit. In Zeit zeigt er allen, dass er ein gnädiger Gott ist. Der jähzornige Mose lernt wie Gott der Verfolgung von Verfehlungen eine Grenze setzt, seinem Willen zur Versöhnung jedoch nicht. Der zweifelnde Mose erfährt, wie langmütig und geduldig Gott mit ihm und seinem Volk ist. Der mit dem Sinn seines Auftrages ringende Mose erfährt, wie Gottes Treue und Bereitschaft zur Vergebung der Existenz seines Volkes einen neuen Sinn verleiht, eine neue Zukunft schenkt. Und deshalb kann Mose es wagen, für sein Volk um Vergebung zu bitten: “Hab ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte, denn es ist ein halsstarriges Volk; und vergib uns unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Erbbesitz sein.”

Vielleicht ist jemand von Ihnen in der Immobilienbranche tätig. Dann weiß er, es gibt Immobilien, bei denen ist der Verkauf ein ganz normales Geschäft, bei anderen sind jedoch viele Gefühle mit im Spiel. Jeder sieht mehr als nur den finanziellen Wert des Hauses, in dem er aufgewachsen ist, in dem er sich entwickelt hat, in dem man in den prägenden Jahren seines Lebens zusammen geweint und gelacht, gefeiert und getrauert, gestritten und sich versöhnt hat. Selbst wenn man mit den Jahren woanders hingekommen ist, an diesem Familienerbe, an diesem Erbbesitz hängt man. “Lass uns dein Erbbesitz sein”. So soll die Verbindung zwischen Israel und seinem Gott sein: etwas Besonderes, Emotionales, durch die gemeinsame Geschichte Verbundenes. Und Gott antwortet Mose: “Siehe, ich will einen Bund schließen… wunderbar wird sein, was ich an dir tun werde”.

Mit Gott verbunden leben, es heißt wohl zuerst, sensibel und aufmerksam für Gottes Wunder in unseren Leben zu werden. Nicht für die Sensationen, vielmehr geht es erst darum, eine innere Einstellung zu gewinnen und sehen zu lernen, wie wunderbar uns Gott durch unser Leben geführt hat, wie viel uns im Leben geschenkt wurde. Wer das kann, wird darauf vertrauen, dass Gott die steilen Wege und mühevollen Anstiege unseres Lebens zu einem guten Ende führen wird - so unwahrscheinlich uns das manches Mal erscheinen mag. Denn Gott verspricht: “Wunderbar wird sein, was ich an Dir tun werde”. Ich weiß nicht, ob Gott Lust am Unwahrscheinlichen hat. Aber es ist eine gute und bewährte Einstellung zum Leben, mit Gott, mit dem Unwahrscheinlichen zu rechnen. Oder hätten Sie heute vor 25 Jahren gedacht, dass 14 Tage später die Mauer gefallen war?

Nicht nur Mose gelangt in dieser Erzählung auf den Gipfel. Auch die ganze Geschichte, die uns in den fünf Büchern Mose erzählt wird, erreicht hier ihren Höhepunkt. Mose kommt zur Ruhe und es kommt mir vor, als stünde jene dramatische Geschichte einen Moment lang still, die von der Schöpfung bis zur Ankunft im gelobten Land reicht. Und Gott kann uns sein Wesen zeigen. Wir erkennen etwas von ihm, das unser Gottesbild prägt, hören, worauf wir uns verlassen können, seine Treue, hören, worauf wir hoffen können, seine Gnade, spüren, worauf wir unser Leben und Handeln ausrichten können, seine Liebe. Amen.