Predigt zu 2. Petrus 1, 16-21 von Karsten Matthis
1,16-21

Liebe Gemeinde,

der US-amerikanische Arzt und ehemals führende Alternsforscher, Robert Neil Butler, gab vor gut vier Jahrzehnten einen nachhaltigen Impuls mit seiner Idee einer Lebensrückschau (life review). Nicht nur seine zahlreichen Patienten, sondern sowohl amerikanische Ärzte als auch Psychologen nahmen diesen Impuls weltweit auf.

Unter life review versteht Butler, die eigene Biographie in einen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang zu setzen. Die Erfahrungen mit Butlers Methode zeigen: Das positive Verarbeiten der eigenen Lebensgeschichte schlägt Brücken eines heilsamen Erinnerns und versöhnt Menschen mit sich selbst. Es ging Butler um keine Lebensbeichte, sondern um eine heilsame Rückerinnerung.

Butlers Impulse fanden in Deutschland auch in der Erwachsenenbildung in der Arbeit mit älteren Menschen Eingang. Sogenannte Biographie-Werkstätten sind  an bundesdeutschen Akademien und Heimvolkshochschulen populär und erfreuen sich bereits seit Jahren einem regen Zuspruch.

Unter Anleitung von Pädagogen und Psychologen erhalten Menschen eine Inspiration, wie sie ihre Lebensgeschichte aufschreiben können. Vielfach werden die Biographiearbeiten mit  Schreibwerkstätten verknüpft, die historische Ereignisse aus eigenem Erleben in Beziehung setzen.

So wird in einer Biographiearbeit an den Mauerfall am 09. November 1989 erinnert: Durch eine ungeschickte Erklärung des SED-Parteifunktionärs, Günter Schabowski, im Rahmen einer Pressekonferenz wurde die Mauer über Nacht durchlässig. Wenige Monate später brach sie ganz in sich zusammen.

Liebe Gemeinde, wo haben Sie den 09. November 1989 verfolgt? Wo haben Sie gelebt und gearbeitet?

Schnell stellen sich persönliche Erinnerungen ein. Im November 1989 hatte ich die ersten Monate in meinem Berufsleben bei Bonn hinter mich gebracht, wohnte zur Untermiete und sah mit meiner damaligen Vermieterin die Fernsehbilder jubelnder Menschen, die von Ost- nach West Berlin strömten und ihr Glück kaum fassen konnten, dass sie wie durch ein Wunder die Grenzen zwischen den beiden Deutschlands so leicht passierten. Schon in den Abendstunden dieses 09. Novembers zeichnete sich ab, dass die Grenzen zwischen Ost und West künftig nicht mehr unüberwindbar waren, sondern zusammenwachsen sollte, was zusammen gehört. Der Tag des Mauerfalls sollte viele Biographien in Ost und West wenden und neue Perspektiven eröffnen.

Liebe Gemeinde, solche Erinnerungen aufzuarbeiten, ist  wie  nachträgliches Tagebuch schreiben. Jene Biographie-Werkstätten regen an, erlebte Geschichte aus individueller Sicht niederzuschreiben und mit persönlichem Erleben zu verknüpfen.

Nicht jede und nicht jeder ist so begabt, alles Erlebte so flüssig und schriftstellerisch gekonnt niederzuschreiben. Dies will trainiert und eingeübt sein. Letztendlich kommt es darauf gar nicht an, vielmehr geht es darum, sich an Erlebtes zu erinnern und Ereignisse aus der Vergangenheit wieder zurück zu holen. Persönliche Erlebnisse zu verarbeiten, indem Brüche und Scheitern, aber auch Erfolge und Glücksmomente in einen rechten Einklang gesetzt werden.

Haben Sie, liebe Gemeinde, selbst einmal Tagebuch geführt oder führen Sie regelmäßig ein Erlebnisbuch?

Alle diese persönliche Aufzeichnungen haben eins gemeinsam: Sie sind grundehrlich. In ihnen stehen nur ungeschminkte Wahrheiten über Freude und Leid, über Hoffnungen und Enttäuschungen, über Dunkles und Helles in unseren Leben. In Tagebüchern oder in den beschriebenen Biographie-Werkstätten finden sich, um mit dem uns unbekannten Autor des 2. Petrusbriefes zu sprechen, keine „ausgeklügelten Fabeln“, eben keine kunstvollen Geschichten in denen Tiere wie Menschen handeln und moralische Belehrungen erteilen. In den Zeugnissen früher Christen finden sich wenig Spott über die Mächtigen der Zeit oder Klage über den maroden Zustand der Gesellschaft, sondern vielmehr die ersten Glaubenserfahrungen der Gemeinden wurden niedergeschrieben. Da findet sich Zuversicht auf die Auferstehung wie auch Trauer über die sich verzögernde Wiederkehr  des Herrn.

Das Neue Testament präsentiert keine ausgedachten Fabeln und Anekdoten,   sondern die Schriften enthüllen statt zu verhüllen. Die Geheimnisse Gottes werden Stück für Stück entschlüsselt. Warum der Sohn Gottes auf die Welt als kleines, hilfloses Kind kam und sich auf die Menschen einließ, wird den Hörern und Lesern offenbart.

Gott schreibt die Biographie seines Sohnes: Er bekennt sich zu Jesus von Nazareth als seinem lieben Sohn. Dies erfährt die Christenheit bei Taufe Jesu und auf dem Berg der Verklärung.

Der unbekannte Autor des 2. Petrusbriefes, der sich auf die Autorität des Apostels Petrus beruft, hat zu seiner Zeit, das noch junge Christentum verteidigen. Jesus ist kein Mythos, keine Sagengestalt, sondern aus Fleisch und Blut. Jesus bewirkte Wunder, aber brauchte diese nicht für seine gute Botschaft. Diese Wunder sind allein Beiwerk, der Glaube beruht darauf, dass der Morgenstern der Hoffnung über allen Menschen aufgegangen ist.

Keine ausgedachten Geschichten zur allgemeinen Erbauung machen das Evangelium aus. Nicht nur ein paar aneinandergereihte kluge Gedanken zur Mitmenschlichkeit prägen die frohe Botschaft. Nicht eine jeweils neue attraktive Philosophie für die Menschen in der Antike und Neuzeit steckt hinter dem Christentum, sondern es geht um eine neue Beziehung zwischen Gott und Menschen und wiederum zwischen ihnen.  Der Eckstein für dieses neue Fundament, wie wir leben und hoffen können, ist Christus, der unsere Gemeinschaft trägt.

Diese wachsende religiöse Gemeinschaft im Altertum und heute vielfältig in aller Welt vertreten, namens Ekklesia, ist keine Gruppe besonders lebenskluger und tüchtiger Menschen, die sich von anderen abheben möchte, sondern dahinter steckt ein anderer Geist, den die Gläubigen den Heiligen nennen. Es ist der Geist der Liebe, Versöhnung und Hoffnung auf neue Erde und einen neuen Himmel.

Liebe Gemeinde, der nicht genannte Autor dieses wohl jüngsten Briefes des Neuen Testaments schöpft seine Glaubenszuversicht aus Überlieferungen von Augenzeugen. Eine Autorität ist Simon Petrus der Fels, der auf dem Berg der Verklärung Augenzeuge war, der Jesus und seine Verhaftung im Garten Gethsemane nicht verhindern konnte und Jesus am Kreuz sterben sah. Und es ist wiederum Petrus, der dem Auferstandenen begegnet und von ihm angesprochen wird.

Christlicher Glaube stützt sich auf Berichte sowohl von Zeugen als auch auf das prophetische Wort. Die Weissagungen aus den Texten der alten Propheten führen zum Leben Jesu hin und sagen seine Ankunft voraus.

Sicherlich  hat der Schreiber des 2. Petrusbriefes als Propheten über Jesaja, Jeremia und Micha hinaus den Apostel Paulus im Blick, der mit seiner ganz eigenen Sprache und Bildern den auferstandenen Christus predigte, der als helles Licht in die Welt kam. Propheten und Apostel haben ihre Geschichten und ihre Erlebnisse und Erfahren mit Gott, Christus und dem heiligen Geist erzählt. Für die frühen Christen und alle christlichen Gemeinden heute sind diese Glaubenszeugen Autoritäten geworden, an denen sich Gemeinden orientieren können. Sie sind Vorbilder, die im Namen Gottes geredet haben, wie uns der Autor im 2. Petrusbrief versichert.

Liebe Gemeinde, dies sind erst  zwei wichtige Haltepunkte im Glauben, von denen uns der Autor des 2. Petrusbriefes schreibt. Aber er nennt noch einen weiteren wichtigen Punkt, den er nur andeutet. Der Schreiber schöpft aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen im Glauben, der sich in ihm trotz Anfeindungen von außen und Widersprüchen in den eigenen Gemeinden gefestigt hat.

Alle Christenmenschen haben vielfältige Erfahrungen im Glauben. Jeder von uns könnte seine persönliche Glaubensbiographie verfassen. Wir leben unseren Glauben durch Hoffnungen und Visionen, die wir in uns tragen. Eigenes Erleben führt uns zum Glauben und lässt ihn wachsen. Nicht immer sind es spektakuläre Bekehrungserlebnisse wie ein legendärer Blitzschlag  bei Stotternheim nahe Erfurt, der Luther um sein Leben fürchten ließ und ihn motivierte ins Kloster zu gehen. Es widerfährt nicht jeder, wie Mutter Theresa, über die Worte Christi „mich dürstet“ auf den bedingungslosen Weg der Nächstenliebe geführt zu werden.

Biographiearbeit, von der ich ihnen am Anfang erzählte, kann sich auch auf die Stationen im Glauben beziehen, die wir in unserem Leben über Jahrzehnte mit anderen zurückgelegt haben.

Wie hat sich, liebe Gemeinde, Ihr Glaube entwickelt? Vielleicht hat Ihre Mutter mit ihnen gebetet. Für den einen anderen ist eine frühe Begegnung mit einer biblischen Geschichte im Kindergottesdienst besonders wichtig geworden. Wiederum denkt eine andere gerne  an ihren Religionsunterricht zurück, der entscheidende Weichen stellte.

Unsere Glaubensbiographien  sind ein Stück von uns selbst und alle Mal wert aufgeschrieben zu werden. Sie sind von jeweiligen Erfahrungen und Hoffnungen an den Stationen des Lebens bestimmt. Wir wissen um die vielen Erlebnisse unserer Beziehung zu Gott, die sich zwischen Gewissheit und Zweifel für viele immer wieder ereignen. Unser Glaube pendelt oft zwischen suchen und gefunden haben, von Aufbrüchen zu neuen Erfahrungen im Glauben und wiederum zurück zur Tradition. In diesem Spannungsfeld bewegt sich menschlicher Glaube.

Unsere Glaubensbiographien sind unser bleibender Schatz. Gott erwartet nicht von uns, dass diese nur Erfolgsgeschichten sind, wenn man überhaupt von Erfolgen im Glauben sprechen kann, sondern für den einen sind diese Erinnerungen eine Vergewisserung und für den anderen ein Wiedergewinn von Glaubensstärke.

Liebe Gemeinde, heute am letzten Sonntag nach Epiphanias erinnert uns das helle Licht, der Morgenstern,  noch einmal an Weihnachten 2013. Für viele  war es erneut ein Fest, an dem man sich seines Glaubens gerne und dankbar erinnerte. Für  andere, die am Rande der Kirche stehen, kann es ein Fest gewesen sein, welches Sehnsucht nach Glauben wiedergeweckt hat.

Das weihnachtliche Licht  berührt Menschen, weil sie die Wärme und Kraft des Morgensternes spüren. Dieses Licht leuchtet selbst dann, wenn jener Morgenstern uns aus dem Blick zu geraten scheint, weil wir nach ganz andrem Ausschau halten.

Das Licht zu Weihnachten scheint immer wieder im Kirchenjahr hell auf, wenn wir uns an den Lebensweg des Kindes in der Krippe erinnern. Der Morgenstern  führt uns weiter im Kirchenjahr bis zum Ostermorgen. Immer weiter auf dem Weg unsere Biographien  im Glauben, auf dem Weg mit unserem Gott. Amen.

Perikope
09.02.2014
1,16-21