Predigt zu 2. Samuel 12,1-10.13-15a von Wolfgang Vögele
„Und der HERR sandte Nathan zu David. Als der zu ihm kam, sprach er zu ihm: Es waren zwei Männer in einer Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche hatte sehr viele Schafe und Rinder; aber der Arme hatte nichts als ein einziges kleines Schäflein, das er gekauft hatte. Und er nährte es, dass es groß wurde bei ihm zugleich mit seinen Kindern. Es aß von seinem Bissen und trank aus seinem Becher und schlief in seinem Schoß und er hielt's wie eine Tochter. Als aber zu dem reichen Mann ein Gast kam, brachte er's nicht über sich, von seinen Schafen und Rindern zu nehmen, um dem Gast etwas zuzurichten, der zu ihm gekommen war, sondern er nahm das Schaf des armen Mannes und richtete es dem Mann zu, der zu ihm gekommen war. Da geriet David in großen Zorn über den Mann und sprach zu Nathan: So wahr der HERR lebt: Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat. Da sprach Nathan zu David: Du bist der Mann! So spricht der HERR, der Gott Israels: Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und habe dich errettet aus der Hand Sauls und habe dir deines Herrn Haus gegeben, dazu seine Frauen, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben; und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazutun. Warum hast du denn das Wort des HERRN verachtet, dass du getan hast, was ihm missfiel? Uria, den Hetiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durchs Schwert der Ammoniter. Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hetiters, genommen hast, dass sie deine Frau sei. (…) Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN. Nathan sprach zu David: So hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben. Aber weil du die Feinde des HERRN durch diese Sache zum Lästern gebracht hast, wird der Sohn, der dir geboren ist, des Todes sterben. Und Nathan ging heim.“
Liebe Gemeinde,
über die Predigt zu dieser bekannten Geschichte aus der Bibel mußte ich lange nachdenken. Als ich gestern abend endlich auf die Taste drückte, um die vier Blätter auszudrucken, kam statt der Predigt ein Brief aus dem Druckerschacht. Ich überflog den Brief, las ihn dann mehrmals, und ich war so bewegt, daß ich entschieden habe, Ihnen den Brief in diesem Gottesdienst vorzulesen.
„Liebe Eltern, lieber Vater David, liebe Mutter Bathseba, lieber Prophet Nathan,
ich bin das Kind, das nur noch wenige Tage zu leben hatte. Ich war nicht mehr als ein Jahr alt, und mir wurde gesagt, daß Gott meinen Tod bestimmt habe. Nicht mich, sondern meinen Papa, den König habe Gott damit bestrafen wollen. So sagten es jedenfalls die Geschichtsschreiber Davids. Ich sollte sterben, ohne daß ich etwas dazu getan hätte.
Und ich starb.
Diesem Unrecht will ich Worte verleihen. Eigentlich kann ich nur schreien oder quengeln. Aber wenn man mir die Chance nimmt, erwachsen zu werden, muß ich früher das Wort ergreifen, obwohl es eigentlich unwahrscheinlich ist, daß ein Baby denkt und schreibt. Als ich lebte, konnten die meisten Menschen nicht schreiben. Und wer schreiben konnte, formulierte keine persönlichen Briefe.
Das Unrecht hat sich aufgestaut, ich habe Jahrtausende lang geschwiegen. Jetzt muß es endlich heraus. Wer nicht reden kann, muß wenigstens aufschreiben, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Ich will endlich die Gelegenheit zur Klage nutzen.
Liebe Mama, Du hast es schnell gemerkt, als Du mit mir schwanger warst. Ich habe absichtlich heftig in Deinem Bauch gestrampelt. Mehrfach. Ganz erschrocken bist Du sofort zum König gelaufen. Der König, mein Vater, hat sich dann große Mühe gegeben, Deine Schwangerschaft und meine Existenz zu vertuschen. Aber der erste raffiniert ausgeheckte Plan ist ja schnell gescheitert. Dein erster Ehemann, der General Uria wollte nicht mit Dir schlafen, als er vom Krieg nach Hause kam. Die zweite Intrige, die mein Vater in Gang setzte, klappte besser, und Uria kam bei der Schlacht ums Leben. Seine Soldaten haben ihn dafür als Helden geehrt. Der Heerführer des Königs hatte ihn dafür eigens an die vorderste Front beordert, auf ein Himmelfahrtskommando. Es sah alles so aus, als sei Dein Ehemann Uria einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld gestorben. Niemand durchschaute das Spiel, das Dein geliebter David, den alle Politiker und Hofschranzen so schätzten, hinterhältig inszeniert hatte. Geheiratet hast Du ihn dann trotzdem. Ihr seid zusammengezogen in den Palast.
Und ich bin dann geboren worden, nach zwölf Stunden Wehen. Das dauerte so lange, weil ich der Welt mißtraute, in die ich geboren werden sollte. Ansonsten schien alles in Ordnung. Natürlich hast Du, lieber Vater, nicht die Nabelschnur durchschnitten.
Merkwürdig nur, daß niemand meinen Namen kannte. Ich war für alle nur das „Kind, das Urias Frau David geboren hatte“. Schon dieser behelfsmäßige Name sollte zeigen, was jeder wußte, aber nicht aussprach: Ich war Unrecht, an mir haftete ein Makel, ich störte – in der Politik und gleichzeitig im Familienleben. Im Königshaus läßt sich beides ja oft nur schlecht auseinanderhalten. Liebe Mama, ich kann verstehen, daß Du in den Palast gezogen bist. Nach dem Tod Deines ersten Mannes, des Heldengenerals, wolltest Du ja versorgt sein. Und Papa, der König, hat sich um Dich gekümmert, er hat Dich auch geliebt. Über die Intrige hat er sich keine großen Gedanken mehr gemacht. Der Vorfall in der Schlacht war schnell vergessen. Kriege kosten eben Menschenleben. Und manchmal trifft es genau den Richtigen. Oder den Falschen, wie man es nimmt.
Lieber Natan, Du hast die ganze abgefeimte Sache dann ans Licht gebracht. Ich fand das mutig, wie Du geredet hast, erhobenen Hauptes und auf Augenhöhe mit dem König, obwohl Du nur ein im Palast angestellter Prophetenbeamter warst. Das hätte Dich leicht Deine Pension kosten können. Wenn Du Angst hattest, gespürt hat sie niemand von denen, die zugehört haben. Du hast diese Geschichte erzählt vom reichen Mann mit den vielen Schafen und vom armen Mann mit dem einen Schaf. Mein Vater hat es nicht gemerkt, wie er hereingelegt wurde und sich selbst verurteilte.
Lieber Natan, das war ein sehr geschickter Schachzug, diese Geschichte zu erfinden. Wenn ich mir vorstelle, Du hättest Deinen Dienstherrn direkt auf den Ehebruch angesprochen. Ich kann mir denken, was der König befohlen hätte: Disziplinarverfahren, Entlassung, Bestrafung, vielleicht Hinrichtung, Löwen oder Steine. Der Prophet, der das Unangenehme, Unpassende ausspricht, begibt sich in große Gefahr. Oder er muß großes Vertrauen zu Gott haben. Du aber hast zu einer List gegriffen und die Geschichte vom Reichen erzählt, der dem Armen das Schaf wegnimmt, um einen Gast zu bewirten. Und mein Vater hat Dir sofort zugestimmt in dem, was Du ihm nahegelegt hast. Wer als Reicher ausgerechnet einem Armen den einzigen Besitz raubt, muß sterben. Was im übrigen ein wenig übertrieben war, denn eigentlich steht auf den Raub eines Schafes nicht die Todesstrafe. Auf Ehebruch steht sehr wohl die Todesstrafe, obwohl man auch das für übertrieben halten kann. David ist in die Falle gegangen, die Du ihm gestellt hast. Ich gratuliere Dir dafür. Das war ein sehr geschickter Schachzug. Es erinnert mich an die Listen des schlauen Odysseus. So konnte der König nicht mehr ausweichen. Wenn er Dich trotzdem entlassen hätte, jeder hätte gewußt, daß er den Boten für seine Botschaft bestraft.
Lieber David! Lieber Papa, hoch geehrter Herrscher und Befehlshaber der Truppen! Sehr geehrter Angeklagter! Ich weiß nicht, was ich von Dir halten soll. Es gäbe mich nicht, wenn Du Dich nicht in eine verheiratete Frau verliebt hättest. Ich wüßte gerne, ob es schön war für Dich, als Du mit meiner Mutter geschlafen hast. Hast Du sie wenigstens geküßt? Hast Du kein Unrechtsbewußtsein gehabt, kein schlechtes Gewissen? Konntest Du Dich nicht ein einziges Mal zurückhalten? Hast Du nicht ahnen können, daß die Verwicklungen, die Du mit Deiner Affäre ausgelöst hast, kein gutes Ende nehmen werden? Ich weiß, in dem Buch, das Deine Nachkommen die Bibel nennen, wirst Du ganz einhellig gepriesen und bewundert. Du bist das Vorbild aller Könige Israels, Du bist der sensible Psalmendichter, Deine kluge Herrschaft brachte außenpolitischen Erfolg und Stabilität im Innern, Wirtschaftswachstum und Wohlstand, eine längere Phase des Friedens in einem geeinten Land. Du hast die übermächtigen Philister besiegt. Die Art und Weise, wie Du mit Goliath gekämpft hast, hat mir sehr gefallen. Ich mußte schmunzeln, als ich die Geschichte mit der Schleuder zum ersten Mal hörte. Alle loben und preisen dich. Wenn die Leute darüber nachdenken, welche guten Eigenschaften ein König haben müßte, dann sagen sie: Er soll so sein wie Du. Denn Du bist der einzige, der Gott stets treu blieb.
Spätere Historiker haben dann einschränkend vermerkt: „außer in der Sache mit Uria, dem Hetiter“ (1Kön 15,5). Ich hätte es schön gefunden, wenn dabei auch ich, das königliche Baby, das sterben mußte, erwähnt worden wäre. Liebe Konfliktbeteiligte, ich hätte mir gewünscht, ich wäre etwas mehr wie das „Royal Baby“ behandelt worden, wie George, der Sohn von Prince William und Herzogin Kate. Nur auf die Fotografen hätte ich verzichten können.
Lieber Papa, an einer Stelle kann auch ich Dir meine Bewunderung nicht versagen. Als Dir Natan die Geschichte vom Reichen und vom Armen erzählt hat, hast Du Deinen Fehler ohne langes Drumherumreden sofort eingestanden. Dir war das alles vorher schon klar. Du hast gewußt, daß Dein Verhalten nicht richtig war. Und Du hättest gerne gehabt, wenn die Öffentlichkeit Deinen Fehler vergessen hätte. Politiker und Könige beherrschen alle meisterhaft die Kunst der Vertuschung, der Verheimlichung und des Verschweigens. Ich habe übrigens später das Dossier gelesen, das ein Schriftsteller unter dem Titel „Der König-David-Bericht“ veröffentlicht hat. Wenn von dem, was darin dokumentiert ist, nur ein Zehntel stimmt, dann…
Aber als dann alles aufgeflogen war, hast Du nicht gezögert, Dich zu Deinem Fehler, zu Deiner Sünde zu bekennen. Das unterscheidet Dich übrigens von anderen Politikern. In Deutschland, habe ich gehört, warten heute noch Menschen darauf, daß einer der Bundeskanzler im Ruhestand endlich preisgibt, von wem er gewisse Parteispenden empfangen hat. Dieser Bundeskanzler außer Diensten fühlt sich an ein Ehrenwort gebunden, obwohl er genau weiß, daß er von Gesetzes wegen die Namen der Spender nennen müßte.
Du, mein König und Vater, fühlst Dich an Gottes Wort gebunden. Und Dein Schuldbekenntnis vor Nathan zeigt, daß Du es damit ernst meinst. Du bist ja auch als Lyriker hervorgetreten. Einer Deiner Psalmen, nach späterer Zählung der einundfünfzigste, trägt ja den Untertitel: „Als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Batseba eingegangen war.“ (Ps 51,2) Vielleicht hast Du diesen Psalm gar nicht geschrieben, diejenigen, die man später Exegeten nennt, halten das für wahrscheinlich. Aber dennoch die Frage: Wieso hast Du in diesem Psalm nur von Dir selbst und Gott geredet? Wieso hast Du Deine Frau und Dein Kind, Deinen Sohn, mich, nicht erwähnt? Ich bin offensichtlich nicht wichtig genug. Obwohl ich wenige Tage nach Deinem Schuldbekenntnis gestorben bin. Und daran störe ich mich.
Lieber Vater, lieber Prophet, ich bin der übriggebliebene Rest dieser Sünde. Ich bin der Schrei der Verzweiflung. Ihr alle wißt, daß ich wenige Wochen nach Nathans Prophetenspruch wirklich gestorben bin. Nathan und andere haben diesen Tod als den Willen Gottes ausgegeben. Ich bin damit nicht einverstanden. Der biblische Historiker schreibt: „Und der HERR schlug das Kind, das Urias Frau David geboren hatte, sodaß es todkrank wurde.“ (2 Sam 12,15) Übrigens ein Wort an die Nachgeborenen: Es stört mich auch, daß die Ordnung der Predigttexte diese meine Krankheit und meinen frühen Tod im ausgeschnittenen Predigttext einfach wegläßt, so als ob durch Verschweigen theologische Probleme gelöst werden könnten.
Aber es hilft alles nichts: Genauso schwer wie das Bekennen, das Verzeihen und das Vergeben ist die Versöhnungsarbeit, die darauf folgt. Manche Schuld läßt sich zwar vergeben, aber nicht in allen ihren Wirkungen beseitigen. Mein Tod erscheint in der Geschichte wie ein hoch willkommener dramaturgischer Kniff. Durch meinen frühen, vorzeitigen Tod störe ich die Thronfolge nicht mehr: Wie könnte ein namenloses Kind, das Ergebnis eines Ehebruchs, einmal König in Israel werden? Das kann sich kein Kammerherr bei Hofe vorstellen. König sollte dann mein jüngerer Bruder Salomo werden, der erst geboren wurde, als ihr beide, David und Bathseba, rechtmäßig verheiratet wart. Er sollte seine Sache gut machen und endlich den lange ersehnten Tempel bauen. Der Ruhm für seine Gottesfurcht, für seine Treue und Weisheit sei ihm gegönnt.
Aber ich erhebe energischen Einspruch gegen die Erklärung, Gott habe meine Krankheit und meinen frühen Tod veranlaßt und bewirkt. Ich kann mir das nicht vorstellen, und mittlerweile weiß ich es auch besser als jeder Lebende. Ich weiß, die Geschichtsschreiber, die alles notieren mußten, hatten ihre besonderen Anweisungen. David, der große König und helle Stern über Jerusalem, sollte nicht allzu schlecht wegkommen. Auf keinen Fall sollten Zweifel an der Thronfolge Salomos aufkommen. Das Ineinander von Schuld und Vergebung sollte möglich paßgenau aufgehen. Ich war der einzige „Rest“, der übrigblieb und darum pflichtschuldigst beseitigt werden mußte. Ich war nicht einmal der Sündenbock, ich war schlicht und einfach überflüssig. Es ist nicht schön, wenn dann ausgerechnet Gott in Anspruch genommen wird, um diesen „Überrest“ sprachlos und unauffällig zu beseitigen. Ich weiß, kleine Kinder galten nicht viel in einer Zeit mit grassierender Kindersterblichkeit. Man hatte nicht die Zeit, um jedes einzelne der vielen Kinder zu trauern. Aber ich hätte mir doch etwas mehr Fürsorge und Rücksicht gewünscht.
Gestorben bin ich dann doch nach einer Woche, gegen die Infektion konnte sich mein Körper nicht wehren. Hier im Himmel fühle ich mich nun …“
Liebe Gemeinde, an dieser Stelle bricht der Brief ab. Das Druckerpapier war ausgegangen. Ich bin sicher, wir alle hätten gerne erfahren, wie sich der namenlose Sohn Davids und Bathsebas bei Gott eingerichtet hat. Und wir hoffen alle, daß es ihm gut geht. Wir hoffen, daß er bei Gott die Gerechtigkeit gefunden hat, die ihm auf Erden vorenthalten wurde.
Von der Geschichte bleibt auf der einen Seite ein Gefühl der Trauer, ein Gefühl der Unzulänglichkeit, daß nicht jede Intrige, jede Attacke, jede Verschlagenheit ihren gerechten Ausgleich findet. Auf der einen Seite bewundere ich den Freimut des Nathan, diese besondere Mischung aus List, Erzählkraft und diplomatischem Geschick. Das zusammengenommen und eine gehörige Portion Gottvertrauen ließen ihn das Wort erheben, um menschliche Schuld aufzudecken, eine Schuld, die zwei Menschenleben kostete. Trotzdem ermutigt mich diese Geschichte in der Hoffnung, daß Gott Gerechtigkeit stiftet, schon in diesem Leben, nicht erst im Jenseits. Der Königsweg dazu führt über die Stationen Gespräch, Bekenntnis und Verzeihen. Es ist ein langer, steiniger Weg, der nicht immer zu einem Ziel führt. Trotzdem gilt: Wo Vergebung ist, da ist Gott. Amen.