Predigt zu 4. Mose 21, 4-9 von Bernd Giehl
21,4

Predigt zu 4. Mose 21, 4-9 von Bernd Giehl

Liebe Gemeinde!
Merkwürdige Geschichten gibt es in der Bibel. Auf den ersten Blick glaubt man sie zu verstehen. Sie sind spannend erzählt und schon das fesselt unsere Aufmerksamkeit. Aber wenn man dann etwas näher hinschaut, merkt man, dass da irgendetwas faul ist.
So jedenfalls geht es mir mit dieser Geschichte. Schon als Kind wurde sie mir erzählt. Mag ja sein, dass Kinder Fragen stellen, die einem Erwachsenen nicht einfallen würden. „Warum ist etwas und nicht nichts?“ „Was hat der liebe Gott gemacht, als er noch nicht der liebe Gott war?“ „Wo war ich, als ich noch nicht geboren war?“ Fragen von dieser Art. Unbeantwortbare Fragen, und manchmal können sie einen Erwachsenen zur Weißglut bringen. Aber ob sie Fragen zu dieser Geschichte hätten? Ich glaube eher, sie würden sie so nehmen, wie sie dasteht und sich nicht über das wundern, was ihnen da erzählt wird.
Aber wir sind ja keine Kinder mehr. Wir lassen uns nicht alles erzählen und glauben es dann unbesehen. Und manchmal wundern wir uns eben. Sollte es wirklich so gewesen sein?
*
Habe ich jetzt in Rätseln geredet? Es ist möglich. Wie gesagt: Diese Geschichte ist spannend. In spannenden Geschichten kann man uns eher etwas unterjubeln.. Womöglich kommt einem  die Frage erst bei längerem Nachdenken: Warum handelt Gott so? Er könnte die Israeliten doch einfach so retten. Ohne diesen ganzen faulen Zauber. Er könnte die Schlangen vertreiben oder verschwinden lassen; er könnte sie auch unschädlich machen. Nicht um das Wunder an sich geht es mir bei dieser Frage; von Wundern ist ja im Verlauf der Wüstenwanderung des Volkes Israel immer wieder die Rede. Nein, es geht mir um die Art des Wunders. Die nämlich ist ausgesprochen seltsam. Mose soll eine Schlange aus Kupfer machen lassen und die wie ein Feldzeichen aufrichten, sodass alle sie sehen können. Habe ich Feldzeichen gesagt? Ein Feldzeichen, das ist eine Fahne in der Schlacht; die Fahne dessen, für den man kämpft. Ein Feldzeichen soll Mut geben. Womöglich soll es auch Angst einjagen, aber ganz sicher nicht den eigenen Leuten, sondern den Feinden.
Nur mit diesem Feldzeichen verhält es sich ein wenig anders. Es ist das Symbol des Grauens, das über die Israeliten gekommen ist. Und genau dieses Zeichen sollen sie nun ansehen, damit sie gerettet werden.
Paradoxer geht es eigentlich nicht mehr. Gibt es eine Angst, die nicht nur lähmt, sondern auch rettet?
*
Merkwürdig, nicht?  Ist Ihnen die Frage gekommen, als ich die Geschichte vorgelesen habe?
Keine Sorge: Sie müssen mir nicht antworten. Wenn ich einmal vermuten darf, denke ich, es ist Ihnen erst aufgefallen, als ich es erwähnt habe.  Diese Geschichte hat etwas Unheimliches. Bei der – das ahnen wir  – könnte man leicht vom rechten Weg abkommen. Und wer will das schon. Also sollte man sich vielleicht doch besser nicht an sie wagen?
Zu spät. Jetzt haben wir schon die ersten Schritte gemacht. Aber noch sind wir nicht so weit. Erst einmal müssen wir uns die Vorgeschichte ins Gedächtnis rufen. Der Anfang ist eine Revolte. Oder wie das immer so ist bei solchen verwickelten Geschichten: Immer gibt es noch etwas, was davorliegt. Man könnte also mit der Revolte anfangen. Ich stelle sie mir als eine große Katzenmusik vor. Ich stelle mir vor, wie sie ihre leeren Töpfe und Pfannen genommen haben und damit vor das Zelt ihres Anführers gezogen sind. „Wir wollen endlich etwas Anständiges zu essen haben“, haben sie womöglich gerufen. „Nicht mehr diesen elenden Mannabrei. Was gibt’s heute zu essen? Manna. Was gab’s gestern zu essen? Manna. Was wird es morgen zu essen geben? …“
Wagen wir uns noch weiter? Bringen wir womöglich Verständnis auf für diese Menschen, die da jahraus jahrein durch die Wüste ziehen? Die das gelobte Land schon fast vor Augen haben und jetzt schon wieder die Richtung wechseln sollen? Die wieder zurück sollen, in die Richtung, aus der sie gekommen sind? Nicht wahr, hier wird’s gefährlich. Halten wir uns also lieber an die Gewissheiten, die wir schon kennen. In unzähligen Kindergottesdiensten, Religionsstunden und Predigten sind sie uns vermittelt worden. Diese Menschen sind undankbar. Hat Gott sie nicht aus der Sklaverei in Ägypten geführt? Hat er sie nicht von der Fronarbeit und der Peitsche der Aufseher befreit? Doch, das hat er. Und am Anfang war ja gewiss auch ein Bewusstsein dafür da. Da wusste man noch, warum man den Mangel und die Gefahren der Wüste, den Hunger und Durst auf sich nehmen musste. Da hatte man noch ein Ziel vor Augen: das gelobte Land. Nur ist das alles schon so lange her. Weiß Mose überhaupt noch, warum sie einmal aufgebrochen sind?
Womöglich ist das Problem ja gar nicht einmal so sehr die Wüste. Das Problem sind die Mühen der Ebene. Immer wieder müssen sie kämpfen, immer wieder gibt es Hunger und Durst und kein Weiterkommen und nun stellt sich ihnen auch noch ein Volk entgegen, das zu mächtig ist, um es zu besiegen. Und wieder geht es zurück, in Richtung Schilfmeer, in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Vielleicht ist es ja nur ein Tropfen, aber wenn es einer ist, dann ist es der, der das Fass zum Überlaufen bringt. Sie wollen nicht mehr, jetzt nicht und überhaupt nicht.
„Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, das viele aus Israel starben.“
War es so? Wer kann das wissen? Vermutlich haben sie es später in Israel so erzählt. Und wahrscheinlich haben die, denen es erzählt wurde, das auch geglaubt und sich gesagt, wenn wir ungehorsam sind, werden wir von Gott bestraft.
Möglich, dass es so war. Aber es gibt auch noch eine subtilere Deutung. Die feurigen Schlangen, von denen hier erzählt wird, müssen nicht unbedingt eine Strafe Gottes sein. Es gibt nun einmal Schlangen in der Wüste. Es hat sie immer schon gegeben. Anzunehmen, dass sie   auch vorher schon da waren. Sie gehören zur Wüste, wie der Sand, die Hitze, der Wassermangel und der Fels. Sie sind genügsam, sie lieben die Hitze, den heißen Sand.  Und sie sind auch gefährlich. Man muß sich vor ihnen in Acht nehmen.
Vielleicht, ja vielleicht waren die Schlangen ja schon immer da. So wie der Sand, die Hitze und der Durst. Aber gefährlich – wirklich gefährlich werden sie erst in diesen Stunden. Wo die Erschöpfung einfach zu groß wird. Und deshalb die Angst wächst.
  Und schon kommen sie wieder angekrochen. Die Revolte ist vergessen; einzig das Überleben zählt. „Wir haben gesündigt“, sagen sie zu Mose, „und jetzt bitte zum Herrn, dass er uns rette vor diesen Schlangen.“
So schnell kann sich Wut in ihr Gegenteil kehren.
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Nein, Entschuldigung, das war wohl doch etwas zu sehr von oben herab geurteilt. Gewiss, man hätte den Revoltierenden etwas mehr Tapferkeit gewünscht. Hätte sich gewünscht, dass sie einmal – ein einziges Mal – zu ihrer Revolte stehen, statt schon wieder zu Kreuze zu kriechen. Wenn das Leben in der Wüste wirklich so unerträglich ist und ein Herauskommen anscheinend in weiter Ferne liegt, warum dann nicht wirklich sterben? Aber das lässt sich vermutlich leicht sagen, wenn man selbst den Tod nicht vor Augen hat, sondern die Geschichte aus einer relativ bequemen Position beurteilt.
Also geben sie auf. Wie die geprügelten Kinder gehen sie zu Mose und sagen: Wir waren im Unrecht. Und jetzt bitte Gott, dass er die Schlangen wegnehme. „Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben“ (V8)
Dreht sich einem da der Magen um? Dem einen oder anderen könnte es so ähnlich gehen. Diesem seltsamen Gott reicht es wohl  nicht, dass die Israeliten um Vergebung bitten; er will sie offensichtlich noch mehr in Angst und Schrecken versetzen. Oder was soll diese Kupferschlange anderes bedeuten? Warum das ansehen, was man am meisten fürchtet? Wer seine Schwierigkeiten mit diesem autoritären Gott hat, der wird sie hier auf die Spitze getrieben sehen. Aber man kann das alles auch noch anders deuten. Hier wird sozusagen das Konzept der Psychotherapie vorweggenommen. Man muss sich mit dem beschäftigen, was man am meisten fürchtet. Das Verdrängte wird hervorgeholt und ans Licht gebracht. Es muss bewusst angesehen werden; nur so kann es besiegt werden. Nur so können neue Möglichkeiten entdeckt werden. Anders ist der Schrecken nicht zu besiegen. Man muss ihm ins Auge blicken.
Diese Geschichte funktioniert also auch ganz ohne einen rachsüchtigen, blitzeschleudernden und Schlangen sendenden Gott. Es gibt Situationen, wo man nicht mehr davonlaufen kann, sagt sie. Situationen, wo man sich dem Schrecken stellen muss. Wo man ihm ins Auge blicken muss. Tut man es nicht, wird man immer neu von ihm eingeholt. Womöglich kann man das nicht erst aus dieser Geschichte lernen. Womöglich muss man das erst einmal im eigenen Leben erfahren haben. Vielleicht muss man sich einmal wirklich dem Schrecken gestellt haben. Dann begreift man, dass man auch nicht unbedingt mit dem Gott ins Gericht gehen muss, der in dieser Geschichte angerufen wird.
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Allmählich nähern wir uns nun dem Ziel. Denn das besteht nicht allein darin, eine Geschichte aus dem Alten Testament halbwegs zu verstehen. Diese Geschichte ist nicht ohne Grund für die Passionszeit vorgesehen. Schon der Evangelist Johannes hat sie so verstanden, dass sie auf das Kreuz Jesu hinweist. „Wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, so muss auch der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das Ewige Leben haben“, sagt er an einer Stelle. (Joh 3,14)
Zunächst einmal klingt das wie die traditionelle Deutung, die wir von Kind auf kennen. Jesus starb für unsere Sünden. Er musste sich selbst zum Opfer bringen, um Gott mit der Schuld der Menschen zu versöhnen. So kann man es verstehen. Aber muss man esso verstehen? Ich denke nicht. Schon bei der Auslegung der alttestamentlichen Geschichte ist es uns aufgegangen. Man muss Gott in dieser Geschichte nicht als strafenden oder rachsüchtigen Gott sehen.
Und so ähnlich ist es nun auch mit dem Kreuz. Gewiss ist das Kreuz kein angenehmes Symbol. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich näher mit ihm einlässt. Egal, ob man es nun als Symbol für das Leid oder für die Schuld der Menschen ansieht. Und doch mutet das Neue Testament es uns zu. Und auch dafür steht die Geschichte von der Ehernen Schlange Modell. Genauso wie diese Geschichte sagt das Neue Testament: Ihr müsst hinsehen. In ihm ist alles Leid und alle Schuld wie in einem Brennglas gebündelt. Es gibt Schuld und Leid und aus beiden erwächst der Widerspruch gegen Gott. Die Menschen früherer Generationen haben eher nach der Schuld gefragt. Wir Modernen fragen eher nach dem Leid: Warum lässt du, Gott, zu, dass das alles passiert? Und genau diesen Widersprich trägt der Gekreuzigte. Er hält ihn stellvertretend für uns aus. Am Kreuz leidet Gott selbst an unserem Widerspruch gegen ihn. Und wir müssen hinschauen, weil wir anders keine Antwort auf unsere Fragen bekommen. So aber geschieht Versöhnung, weil wir am Kreuz Gottes Mit-Leiden erkennen können.
   Schon erstaunlich, wie uns eine altbekannte Geschichte manchmal auf die Sprünge helfen kann. Wie sie uns dazu bringt, noch einmal neu hinzusehen. Mir jedenfalls hilft das. Wenn ich es so sehe, tue ich mich leichter mit dem Verständnis des Kreuzes.