Predigt zu 5. Mose 7, 6-12, Matthias Wolfes
7,6
„Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott, Dich hat der HERR, dein Gott erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, darum daß euer mehr wäre als alle Völker, denn du bist das kleinste unter allen Völkern; sondern darum, daß er euch geliebt hat und daß er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat, hat er euch ausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst vom Hause des Dienstes, aus der Hand Pharaos, des Königs in Ägypten. So sollst du nun wissen, daß der HERR, dein Gott, ein Gott ist, ein treuer Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, in tausend Glieder, und vergilt denen, die ihn hassen, ins Angesicht, daß er sie umbringe, und säumt sie nicht, daß er denen vergelte ins Angesicht, die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, daß du darnach tust. Und wenn ihr diese Rede hört und haltet sie und darnach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, die er deinen Väter geschworen hat.“
Liebe Gemeinde,
Erwählung, Auserwähltheit – das ist das Thema dieses Predigttextes, aber auch des ganzen Gottesdienstes an diesem 6. Sonntag nach Trinitatis. Im Wochenspruch heißt es: „So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jes 43,1). Was anderen vielleicht wie die Formel einer anmaßenden und unausweichlichen Besitzergreifung erscheinen mag, ist uns ein trostvoller Satz; – ein Satz, der besagt: Gott hat Dich erwählt, und zwar Dich in Deiner speziellen Eigenart, Dich als denjenigen, der Du bist.
Wir wollen im Sinn behalten, daß hier von Erwählung die Rede ist im Zusammenhang mit der Schöpfung. Man kann es ganz schlicht und einfach auch gleich so sagen: Indem Gott uns unseren Platz im Ganzen seiner Schöpfung eingeräumt, geöffnet und zugewiesen hat, hat er uns erwählt. Ein Bild für diese Spiegelung von Schöpfung und Erwählung ist auch die Taufe, und an sie möchte ich ebenfalls zu Beginn erinnern, wenn auch in dem Predigttext von ihr nicht gesprochen wird, jedenfalls nicht in unserem christlichen Sinn. Die Taufe ist das Zeichen für die Freundschaft Gottes. Er will uns ein Freund sein, und in der Taufe hat er uns seine Freundschaft angeboten. Der gläubige Mensch widmet sein Leben dem immer erneuten Bestreben, dieses Angebot anzunehmen. Und es ist das Grundgefühl des Frommen, daß er sich dieser Liebe Gottes gewiß ist, wie immer es auch um ihn stehen mag.
Ich habe diese Erinnerung an die Taufe voranstellen wollen, um deutlich zu machen, daß wir es bei dem Thema Auserwähltheit keineswegs mit einem Problem zu tun haben, daß uns weiter nichts anginge. Nun ist aber bei dem Abschnitt des fünftes Buches Mose doch in sehr bestimmtem Ton von der Erwähltheit des jüdischen Volkes die Rede. Wie verhält es sich damit?
Von jeder Verkrampftheit wollen wir uns an dieser Stelle freihalten. Es ist völlig klar, daß die Rede von der Auserwähltheit zunächst und in erster Linie einem eigentümlichen Selbstverständnis Ausdruck gibt. Diejenigen, die von der besonderen göttlichen Erwähltheit des Volkes Israels sprechen, sind durchdrungen von der Vorstellung, die Angehörigen dieses Volkes unterlägen speziellen göttlichen Anforderungen, seien aber zugleich auch auf exzeptionelle Weise zur Erfüllung dieser Anforderungen in die Lage versetzt. Aufgabe bzw. Pflicht auf der einen Seite und die zur Einlösung erforderliche Befähigung sind wechselseitig aufeinander bezogen. Die Forderung Gottes an sein Volk übersteigt nicht dessen Kapazitäten, sondern ist selbst – vielleicht auf geheimnisvolle, zugleich aber auch verläßliche Weise – der Motor zur Ausbildung eben der benötigten Kräfte. Diese Wechselseitigkeit wird in jedem Fall unterstellt, ob die Redner nun selbst jüdisch sind oder nicht.
Man kann also das Erwählungskonzept wie eine Maschine auffassen, die dasjenige an Mitteln hervorbringt, was zur Bewältigung der verlangten Leistung erfordert wird. Damit ist aber nicht alles gesagt. Was bedeutet es, wenn in allen religiösen Sprachen die Rede von der Erwählung von zentraler Bedeutung ist? Wie können ja leicht feststellen: Überall gehört das Bewußtsein, erwählt, auserkoren zu sein, zu den Vorstellungen, die die Gläubigen sich von ihrer Beziehung zu Gott machen. Der Erwähltheitsgedanke ist ganz und gar kein speziell jüdisches oder israelitisches Phänomen. Auch die Ausdehnung auf ein ganzes „Volk“ ist nicht ungewöhnlich. Eher verhält es sich umgekehrt: Zunächst stand die Erwähltheit einer religiösen Gruppe im Zentrum, erst dann – und sehr viel später – war von der Besonderheit des Einzelnen vor Gott die Rede. In der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts ist dies sogar zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Glaubens- und Kirchenerneuerung gemacht worden, was dann seinerseits wieder zum neuzeitlichen Individualismus, zum Autonomieprinzip, der Umwälzung im Selbstverständnis mit ihren politischen Auswirkungen sowie zu den Gedanken der Menschenwürde und der Menschenrechte geführt hat. In der Tat eine äußerst weitreichende Entwicklung!
Für jeden Gläubigen ist unbezweifelbar klar: Die Erwählung ist ein Handeln Gottes. Deshalb stehen die ersten Worte unseres heutigen Abschnittes wie eine Überschrift über allem weiteren: „Dich hat der HERR, dein Gott erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ Mit der Erwählung beginnt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Selbst die Schöpfung kann, wie gesagt, als Erwählung verstanden werden, ruft Gott doch in ihr das Dasein aus dem Nichts hervor. Er gibt ihm die Kraft, dem Nichts zu widerstehen und als das, was es ist, zu sein. Alles, was ist, ist von Gott zum Dasein erwählt.
Wir brauchen vielleicht nicht darüber zu streiten, wenn ich behaupte: Über die Art und Weise, wie Gott sich bei der Erwählung verhält, können wir nichts sagen. Das biblische Zeugnis führt hier nicht weiter. Lange schon ist uns vertraut, daß wir in den Texten des Alten und Neuen Testaments das Bekenntnis derer zu Gott sehen müssen, die ihr Leben mit Gott führen. Insofern sprechen die Worte aus unserem Predigttext genau das aus, was derjenige empfindet, der sich erwählt weiß. Über diese Grenze können wir nicht hinausgelangen. Wir können nicht eindringen in die Gründe, die Gott dazu bewegt haben, gerade diesem Volk oder gerade diesem Menschen in besonderer, sehr intensiver Weise sich zuzuwenden.
Was wir aber erkennen können, ist, daß es bei denen, die von dem Wissen um Gottes Nähe durchdrungen sind, nicht einfach nur bei diesem Wissen bleibt. Immer ist die Erwählung der Ausgangspunkt für eine tiefe Wende in ihrem Leben. Denken Sie an Abraham: Gottes Verheißung geht einher mit der Aufforderung, die Heimat zu verlassen, sich auf den Weg in das Land der Verheißung zu machen, um dann dort schließlich der Ahnherr einer unüberschaubar großen Nachkommenschaft zu werden. Dieser Auftrag kann von der Erwählung nicht getrennt werden; und erst, nachdem Abraham ihm gefolgt ist, erst im Gelobten Land, wird sich so etwas wie eine konkrete Sichtbarkeit einstellen, die dem Abraham dann sagt: Ja, Gott war mit mir auf diesem Weg, der mich hierher geführt hat und an dessen Ende erst sich bewahrheitet, was zugleich schon seinen Ausgang, seinen Anfangs- und Möglichkeitsgrund gebildet hat.
Wir hören die Forderung und wissen: Erwählt sein bedeutet, Gottes Gebote halten. Erwählung und Forderung gehen in eins und sind letzten Endes identisch. Erwählung ist immer im Kern Erwählung zur Aufgabe. Die Kraft dazu haben wir, und das ist das eigentliche Wunder des Glaubens. Wir können es das Erwählungsbewußtsein der Christen nennen, denn es ist ja Grund und Inhalt des christlichen Glaubens, daß „durch Christi Namen“ jene Befreiung von der Last des Selbstseins erfolgt, die zur Wahrhaftigkeit, zur Offenheit und – sagen wir es in dem einen Wort – zur Liebe befähigt (Apg 10, 43).
Der Glaube nimmt und faßt, was Gott aus Gnaden schenkt und verheißt. Wer seinen Zugang zu dieser Wahrheit gefunden hat, dem kann niemand absprechen, „erwählt“ zu sein: „Der Geist des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat“ (Jes 61, 1).
Liebe Gemeinde: Dies ist es, wie die Erwählung sich stets ereignet. Anders ereignet sie sich nicht und hat sie sich nie ereignet, sei es zu Zeiten der urzeitlichen Patriarchen, der prophetischen Gotteskünder, zu Zeiten Jesu oder zu sonst einer. Dem steht entgegen, daß in beinahe schon ermüdender Häufigkeit von den Auslegern hervorgehoben wird, welche Last für den Betreffenden mit dem Herausgerufenwerden verbunden sei, zumal es sich in den religionsgeschichtlich bedeutendsten Fällen gerade um völlig unerwartete, plötzliche Fälle göttlichen Eingreifens handelt. Erwähltwerden hat etwas Skandalöses; es steht im Kontrast zum bürgerlichen Modell des Lebens als Inhalt eines Entwicklungsromans. Es führt den Erwählten leicht in eine bizarre Schieflage gegenüber seinen Mitmenschen, und diese anderen jedenfalls, die Nicht-Erwählten, sondern ihn aus, machen ihn zu einem Außenseiter und richten ihre Ressentiments in geballter Kraft auf ihn als den Gegenstand sogar ihres Hasses.
Worum es mir aber heute geht, ist nicht der Antisemitismus. Wenn wir es mit dem Bewußtsein der Erwählung zu tun haben – wie es nun einmal mit dem „jüdischen Volk“ verbunden ist, sei es in der Selbstbeschreibung, sei es in der Wahrnehmung von außen –, dann ist vor allem darüber zu sprechen, was Erwählung bedeutet: Es bedeutet, zu einer Aufgabe berufen zu sein, einem Ruf folgen zu müssen, herausgerufen zu sein zu einem Werk, das die Grenzen des schlichten, unauffälligen Lebens überschreitet. Und gerade dafür ist die jüdische Geschichte das sprechendste Beispiel: Die radikalsten Vertreter dieses Herausgerufenseins sind die Propheten, deren Erwählung sie zu schärfster Kritik am sozialen und religiösen Gemeinschaftsleben ihrer Zeit verpflichtet hat. Bis zur Bedrohung von Leib und Gesundheit haben sie sich diesem Auftrag ergeben, wie es auch bei Jesus der Fall war, der seinen Weg ohne Zweifel, ohne Zagen bis ans bittere Ende gegangen ist.
Das Bewußtsein, auserwählt zu sein, hat Kräfte freigesetzt, hat durch die Jahrhunderte hindurch dieses Volk mit einer Widerstandskraft versehen, die in der Geschichte völlig einzigartig ist. Trotz aller Zerstreuung vermochte es, sich den massivsten Angriffen zu erwehren, sich zu bewahren gegen den ständigen Anpassungsdruck, gegen verborgene und offene Feindschaft bis hin zum erklärten Vernichtungswillen.
Für uns Christen ist heute klarer als in früheren Zeiten: Dem Judentum bleiben wir dauerhaft verpflichtet. Unser eigener Weg zu und mit Gott wäre andernfalls undenkbar, und jede Mißachtung der wesentlichen Verbundenheit des christlichen Glaubens mit der jüdischen Religion führt deshalb auch notwendigerweise zu einer schweren Beeinträchtigung dieses christlichen Weges. Heute wird die Zahl derer, die sich dieser Einsicht verschließen, zum Glück immer kleiner, und die Zahl derer wächst, die die tatsächlichen Zusammenhänge erkennen. Aber dennoch müssen wir äußerst wachsam sein, wenn sich auch bei uns immer wieder, und sei es unbedacht, aus unglückseligen, mitgetragenen Stücken der christlichen Tradition, unangemessene Töne bemerkbar machen. An dieser Stelle wartet noch viel Arbeit auf uns, Arbeit einer durchaus tiefgreifenden Traditionskritik, und ich glaube, daß mehr als eine Generation daran zu tun hat. Gemeinden, Kirchenvertreter und Theologen müssen zusammenwirken und darin geeint sein, jede Form von Antijudaismus aus dem kirchlichen Leben und Sprechen zu entfernen, insbesondere die Gestaltung der Gottesdienste davon wirklich frei zu machen.
Das ist die Aufgabe, die sich uns in diesem Zusammenhang stellt, es ist, wie gesagt, eine Langzeitaufgabe, und sie muß geleistet werden. Es handelt sich dabei nicht nur um eine aufgegebene Arbeit an den Problemzonen der Geschichte des Christentums, sondern um die Ausbildung neuer, geklärter Formen und Ausdrucksweisen. Wer sich an dieser Arbeit beteiligt – und auch dieser heutige Gottesdienst gehört dazu –, der tut das aus christlicher Verantwortung. Er beteiligt sich daran, weil er weiß, daß „der HERR, dein Gott, ein Gott ist, ein treuer Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten“.
Amen.
- - -
Verwendete Literatur:
Thomas Mann: Der Erwählte (Gesammelte Werke in Einzelbänden / Frankfurter Ausgabe). Herausgegeben und mit Nachbemerkungen versehen von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1980.
Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, in: Ders.: Schriften. Herausgegeben und kommentiert von Dietrich Korsch. Band II, Frankfurt am Main und Leipzig 2009.
Liebe Gemeinde,
Erwählung, Auserwähltheit – das ist das Thema dieses Predigttextes, aber auch des ganzen Gottesdienstes an diesem 6. Sonntag nach Trinitatis. Im Wochenspruch heißt es: „So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ (Jes 43,1). Was anderen vielleicht wie die Formel einer anmaßenden und unausweichlichen Besitzergreifung erscheinen mag, ist uns ein trostvoller Satz; – ein Satz, der besagt: Gott hat Dich erwählt, und zwar Dich in Deiner speziellen Eigenart, Dich als denjenigen, der Du bist.
Wir wollen im Sinn behalten, daß hier von Erwählung die Rede ist im Zusammenhang mit der Schöpfung. Man kann es ganz schlicht und einfach auch gleich so sagen: Indem Gott uns unseren Platz im Ganzen seiner Schöpfung eingeräumt, geöffnet und zugewiesen hat, hat er uns erwählt. Ein Bild für diese Spiegelung von Schöpfung und Erwählung ist auch die Taufe, und an sie möchte ich ebenfalls zu Beginn erinnern, wenn auch in dem Predigttext von ihr nicht gesprochen wird, jedenfalls nicht in unserem christlichen Sinn. Die Taufe ist das Zeichen für die Freundschaft Gottes. Er will uns ein Freund sein, und in der Taufe hat er uns seine Freundschaft angeboten. Der gläubige Mensch widmet sein Leben dem immer erneuten Bestreben, dieses Angebot anzunehmen. Und es ist das Grundgefühl des Frommen, daß er sich dieser Liebe Gottes gewiß ist, wie immer es auch um ihn stehen mag.
Ich habe diese Erinnerung an die Taufe voranstellen wollen, um deutlich zu machen, daß wir es bei dem Thema Auserwähltheit keineswegs mit einem Problem zu tun haben, daß uns weiter nichts anginge. Nun ist aber bei dem Abschnitt des fünftes Buches Mose doch in sehr bestimmtem Ton von der Erwähltheit des jüdischen Volkes die Rede. Wie verhält es sich damit?
Von jeder Verkrampftheit wollen wir uns an dieser Stelle freihalten. Es ist völlig klar, daß die Rede von der Auserwähltheit zunächst und in erster Linie einem eigentümlichen Selbstverständnis Ausdruck gibt. Diejenigen, die von der besonderen göttlichen Erwähltheit des Volkes Israels sprechen, sind durchdrungen von der Vorstellung, die Angehörigen dieses Volkes unterlägen speziellen göttlichen Anforderungen, seien aber zugleich auch auf exzeptionelle Weise zur Erfüllung dieser Anforderungen in die Lage versetzt. Aufgabe bzw. Pflicht auf der einen Seite und die zur Einlösung erforderliche Befähigung sind wechselseitig aufeinander bezogen. Die Forderung Gottes an sein Volk übersteigt nicht dessen Kapazitäten, sondern ist selbst – vielleicht auf geheimnisvolle, zugleich aber auch verläßliche Weise – der Motor zur Ausbildung eben der benötigten Kräfte. Diese Wechselseitigkeit wird in jedem Fall unterstellt, ob die Redner nun selbst jüdisch sind oder nicht.
Man kann also das Erwählungskonzept wie eine Maschine auffassen, die dasjenige an Mitteln hervorbringt, was zur Bewältigung der verlangten Leistung erfordert wird. Damit ist aber nicht alles gesagt. Was bedeutet es, wenn in allen religiösen Sprachen die Rede von der Erwählung von zentraler Bedeutung ist? Wie können ja leicht feststellen: Überall gehört das Bewußtsein, erwählt, auserkoren zu sein, zu den Vorstellungen, die die Gläubigen sich von ihrer Beziehung zu Gott machen. Der Erwähltheitsgedanke ist ganz und gar kein speziell jüdisches oder israelitisches Phänomen. Auch die Ausdehnung auf ein ganzes „Volk“ ist nicht ungewöhnlich. Eher verhält es sich umgekehrt: Zunächst stand die Erwähltheit einer religiösen Gruppe im Zentrum, erst dann – und sehr viel später – war von der Besonderheit des Einzelnen vor Gott die Rede. In der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts ist dies sogar zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Glaubens- und Kirchenerneuerung gemacht worden, was dann seinerseits wieder zum neuzeitlichen Individualismus, zum Autonomieprinzip, der Umwälzung im Selbstverständnis mit ihren politischen Auswirkungen sowie zu den Gedanken der Menschenwürde und der Menschenrechte geführt hat. In der Tat eine äußerst weitreichende Entwicklung!
Für jeden Gläubigen ist unbezweifelbar klar: Die Erwählung ist ein Handeln Gottes. Deshalb stehen die ersten Worte unseres heutigen Abschnittes wie eine Überschrift über allem weiteren: „Dich hat der HERR, dein Gott erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ Mit der Erwählung beginnt die Geschichte Gottes mit den Menschen. Selbst die Schöpfung kann, wie gesagt, als Erwählung verstanden werden, ruft Gott doch in ihr das Dasein aus dem Nichts hervor. Er gibt ihm die Kraft, dem Nichts zu widerstehen und als das, was es ist, zu sein. Alles, was ist, ist von Gott zum Dasein erwählt.
Wir brauchen vielleicht nicht darüber zu streiten, wenn ich behaupte: Über die Art und Weise, wie Gott sich bei der Erwählung verhält, können wir nichts sagen. Das biblische Zeugnis führt hier nicht weiter. Lange schon ist uns vertraut, daß wir in den Texten des Alten und Neuen Testaments das Bekenntnis derer zu Gott sehen müssen, die ihr Leben mit Gott führen. Insofern sprechen die Worte aus unserem Predigttext genau das aus, was derjenige empfindet, der sich erwählt weiß. Über diese Grenze können wir nicht hinausgelangen. Wir können nicht eindringen in die Gründe, die Gott dazu bewegt haben, gerade diesem Volk oder gerade diesem Menschen in besonderer, sehr intensiver Weise sich zuzuwenden.
Was wir aber erkennen können, ist, daß es bei denen, die von dem Wissen um Gottes Nähe durchdrungen sind, nicht einfach nur bei diesem Wissen bleibt. Immer ist die Erwählung der Ausgangspunkt für eine tiefe Wende in ihrem Leben. Denken Sie an Abraham: Gottes Verheißung geht einher mit der Aufforderung, die Heimat zu verlassen, sich auf den Weg in das Land der Verheißung zu machen, um dann dort schließlich der Ahnherr einer unüberschaubar großen Nachkommenschaft zu werden. Dieser Auftrag kann von der Erwählung nicht getrennt werden; und erst, nachdem Abraham ihm gefolgt ist, erst im Gelobten Land, wird sich so etwas wie eine konkrete Sichtbarkeit einstellen, die dem Abraham dann sagt: Ja, Gott war mit mir auf diesem Weg, der mich hierher geführt hat und an dessen Ende erst sich bewahrheitet, was zugleich schon seinen Ausgang, seinen Anfangs- und Möglichkeitsgrund gebildet hat.
Wir hören die Forderung und wissen: Erwählt sein bedeutet, Gottes Gebote halten. Erwählung und Forderung gehen in eins und sind letzten Endes identisch. Erwählung ist immer im Kern Erwählung zur Aufgabe. Die Kraft dazu haben wir, und das ist das eigentliche Wunder des Glaubens. Wir können es das Erwählungsbewußtsein der Christen nennen, denn es ist ja Grund und Inhalt des christlichen Glaubens, daß „durch Christi Namen“ jene Befreiung von der Last des Selbstseins erfolgt, die zur Wahrhaftigkeit, zur Offenheit und – sagen wir es in dem einen Wort – zur Liebe befähigt (Apg 10, 43).
Der Glaube nimmt und faßt, was Gott aus Gnaden schenkt und verheißt. Wer seinen Zugang zu dieser Wahrheit gefunden hat, dem kann niemand absprechen, „erwählt“ zu sein: „Der Geist des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat“ (Jes 61, 1).
Liebe Gemeinde: Dies ist es, wie die Erwählung sich stets ereignet. Anders ereignet sie sich nicht und hat sie sich nie ereignet, sei es zu Zeiten der urzeitlichen Patriarchen, der prophetischen Gotteskünder, zu Zeiten Jesu oder zu sonst einer. Dem steht entgegen, daß in beinahe schon ermüdender Häufigkeit von den Auslegern hervorgehoben wird, welche Last für den Betreffenden mit dem Herausgerufenwerden verbunden sei, zumal es sich in den religionsgeschichtlich bedeutendsten Fällen gerade um völlig unerwartete, plötzliche Fälle göttlichen Eingreifens handelt. Erwähltwerden hat etwas Skandalöses; es steht im Kontrast zum bürgerlichen Modell des Lebens als Inhalt eines Entwicklungsromans. Es führt den Erwählten leicht in eine bizarre Schieflage gegenüber seinen Mitmenschen, und diese anderen jedenfalls, die Nicht-Erwählten, sondern ihn aus, machen ihn zu einem Außenseiter und richten ihre Ressentiments in geballter Kraft auf ihn als den Gegenstand sogar ihres Hasses.
Worum es mir aber heute geht, ist nicht der Antisemitismus. Wenn wir es mit dem Bewußtsein der Erwählung zu tun haben – wie es nun einmal mit dem „jüdischen Volk“ verbunden ist, sei es in der Selbstbeschreibung, sei es in der Wahrnehmung von außen –, dann ist vor allem darüber zu sprechen, was Erwählung bedeutet: Es bedeutet, zu einer Aufgabe berufen zu sein, einem Ruf folgen zu müssen, herausgerufen zu sein zu einem Werk, das die Grenzen des schlichten, unauffälligen Lebens überschreitet. Und gerade dafür ist die jüdische Geschichte das sprechendste Beispiel: Die radikalsten Vertreter dieses Herausgerufenseins sind die Propheten, deren Erwählung sie zu schärfster Kritik am sozialen und religiösen Gemeinschaftsleben ihrer Zeit verpflichtet hat. Bis zur Bedrohung von Leib und Gesundheit haben sie sich diesem Auftrag ergeben, wie es auch bei Jesus der Fall war, der seinen Weg ohne Zweifel, ohne Zagen bis ans bittere Ende gegangen ist.
Das Bewußtsein, auserwählt zu sein, hat Kräfte freigesetzt, hat durch die Jahrhunderte hindurch dieses Volk mit einer Widerstandskraft versehen, die in der Geschichte völlig einzigartig ist. Trotz aller Zerstreuung vermochte es, sich den massivsten Angriffen zu erwehren, sich zu bewahren gegen den ständigen Anpassungsdruck, gegen verborgene und offene Feindschaft bis hin zum erklärten Vernichtungswillen.
Für uns Christen ist heute klarer als in früheren Zeiten: Dem Judentum bleiben wir dauerhaft verpflichtet. Unser eigener Weg zu und mit Gott wäre andernfalls undenkbar, und jede Mißachtung der wesentlichen Verbundenheit des christlichen Glaubens mit der jüdischen Religion führt deshalb auch notwendigerweise zu einer schweren Beeinträchtigung dieses christlichen Weges. Heute wird die Zahl derer, die sich dieser Einsicht verschließen, zum Glück immer kleiner, und die Zahl derer wächst, die die tatsächlichen Zusammenhänge erkennen. Aber dennoch müssen wir äußerst wachsam sein, wenn sich auch bei uns immer wieder, und sei es unbedacht, aus unglückseligen, mitgetragenen Stücken der christlichen Tradition, unangemessene Töne bemerkbar machen. An dieser Stelle wartet noch viel Arbeit auf uns, Arbeit einer durchaus tiefgreifenden Traditionskritik, und ich glaube, daß mehr als eine Generation daran zu tun hat. Gemeinden, Kirchenvertreter und Theologen müssen zusammenwirken und darin geeint sein, jede Form von Antijudaismus aus dem kirchlichen Leben und Sprechen zu entfernen, insbesondere die Gestaltung der Gottesdienste davon wirklich frei zu machen.
Das ist die Aufgabe, die sich uns in diesem Zusammenhang stellt, es ist, wie gesagt, eine Langzeitaufgabe, und sie muß geleistet werden. Es handelt sich dabei nicht nur um eine aufgegebene Arbeit an den Problemzonen der Geschichte des Christentums, sondern um die Ausbildung neuer, geklärter Formen und Ausdrucksweisen. Wer sich an dieser Arbeit beteiligt – und auch dieser heutige Gottesdienst gehört dazu –, der tut das aus christlicher Verantwortung. Er beteiligt sich daran, weil er weiß, daß „der HERR, dein Gott, ein Gott ist, ein treuer Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten“.
Amen.
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Verwendete Literatur:
Thomas Mann: Der Erwählte (Gesammelte Werke in Einzelbänden / Frankfurter Ausgabe). Herausgegeben und mit Nachbemerkungen versehen von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1980.
Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, in: Ders.: Schriften. Herausgegeben und kommentiert von Dietrich Korsch. Band II, Frankfurt am Main und Leipzig 2009.
Perikope